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  akin-Pressedienst.
  Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 1. Dezember 2021; 20:15
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  Debatten:
  
  > Wissenschaftskritik statt Kritik an Profitinteressen?
  
  Der Text "Die Moderne ist zurück" von B. Redl in akin 
  22/2021 erschien auch
  als Gastkommentar auf der Facebookseite der Wiener KPÖ.
  Darauf repliziert KPÖ-Aktivistin *Judith Wieser*.
  
  
  In den letzten ,Left Comments' wurde Kritik an mangelnder
  Wissenschaftskritik geübt. Ich möchte nicht im Einzelnen auf diesen
  Gastkommentar eingehen, da dabei aber zu vieles rigoros in einen Topf
  geworfen wurde, möchte ich ein paar Dinge einordnen, denn
  "Unwissenschaftlichkeit" lässt sich nicht legitimieren, in dem man Lobby-
  und Einzelinteressen, nur weil sie mediale Verbreitung und politischen Boden
  finden und fanden, mit tatsächlichem wissenschaftlichen Konsens vermengt und
  einmal gut durchschüttelt.
  
  Wissenschaftskritik in dem Sinne, der sich in den Jahren der Covid-Pandemie
  besonders deutlich herauskristallisiert hat, braucht es sicherlich nicht.
  
  Diese "Kritik" besteht zum größten Teil aus Verdrehungen und Verzerrungen,
  in ungenaue oder gar falsche Begriffe verpackt.
  
  Warum das zu einem kleineren Flächenbrand wurde - gerade im
  deutschsprachigen, europäischen Raum - liegt vermutlich daran, dass bisher
  weniger sichtbare "alternativmedizinische" Communities durch Ärzte und
  (ehemalige) Wissenschaftler befeuert wurden, die teils bereits einschlägig
  bekannt waren und eine unübersehbare Profitgier an den Tag gelegt haben
  (Bücherverkauf, neue Patient*innen für abstruse, teure Behandlungen,
  Attestverkauf, bis hin zu öffentlichen Aufträgen - siehe die minderwertigen
  Tiroler PCR-Testbusse eines Arztes, der angeklagt ist, Krebspatienten mit
  wirkungsloser "Medikation" behandelt zu haben).
  
  Dass dieser Boden derart "fruchtbar" war, liegt an der jahrzehntelangen
  falschen Toleranz von Politik und Medizin "alternativen Heilmethoden"
  gegenüber.
  
  So konnten Ärzt*innen anerkannte homöopathische (u. dgl. mehr)
  Fortbildungspunkte sammeln, medizinische Anstalten verpassten sich
  Granderwasser-Brunnen und gar nicht so neue "Neuerungen" wie Gentechnik
  wurden nie ausreichend begrifflich erklärt (so ist z.B. jede
  Pflanzenkreuzung, die etwa Früchte kernlos macht, oder Salat länger frisch
  hält, Gentechnik).
  
  Natürlich ist auch das kapitalistischem Profitstreben geschuldet:
  
  Ärzt*innen können teure, private Homöopathie-Sprechstunden abhalten
  (geschützt von der Ärztekammer), mit Politikern befreundete Unternehmen
  können Wasser weltweit zu "Wunder"-Preisen verkaufen, Apotheken machen
  (geschützt von der Apothekerkammer) mit dieser Art Placebos riesen Umsätze.
  
  Und nicht zuletzt entstanden nicht nur neue, profitable Konzerne, sondern
  auch bereits etablierte konnten ihre Gewinne mit dem Verkauf von unwirksamen
  Lifestyle-Präparaten steigern. Sogar die WKO darf sich über mehr zahlende
  Mitglieder freuen, seit sie Gewerbescheine für Mensch- und
  Tierenergetiker*innen u. dgl. vergibt.
  
  Wer also über Jahrzehnte wissenschaftlich widerlegte Praktiken fördert, darf
  sich nicht wundern, dass sich ein beachtlicher Teil der Bevölkerung diesen
  zuwendet und darin tatsächlich eine legitimierte Alternative zur
  Wissenschaft sieht, die an einem Punkt, wie etwa einer Pandemie, zu einem
  gesamtgesellschaftlichen Problem werden kann (einem zusätzlichen - die
  neoliberale Logik in den politischen Handlungen auszuführen, würde diesen
  Rahmen sprengen).
  
  
  Die Pharmaindustrie gehört nicht zu "den Guten"
  
  Ja, die Pharmakonzerne sind um nichts "menschlicher" oder ethischer als
  andere Großkonzerne. Sie profitieren von der öffentlich finanzierten
  Grundlagenforschung an Universitäten (wie in anderen Bereichen z.B. auch
  Mark Zuckerberg u. Bill Gates mit ihren Firmen) und verdienen mit der
  Weiterentwicklung und 10 Jahre lang geschützten Patenten Milliarden.
  
  Wären die Patente für Covid-Impfstoffe, wie vielfach gefordert, frei gegeben
  worden und lokale Produktionen gefördert, wäre die Pandemie weltweit kein so
  großes Übel mehr. Die Eigentümer von Biontech werden wie Helden gefeiert und
  streifen dabei rücksichtslos Milliarden ein - auf Kosten von Menschenleben.
  
  An der Behandlung seltener Krankheiten wird zu wenig geforscht - gibt es
  doch Medikamente, sind sie nicht nur teuer, sondern werden oft nicht von den
  Krankenversicherungen bezahlt.
  
  Gäbe es wohl eine Behandlung von HIV, hätte sich das Virus nicht in
  sämtlichen "westlichen" Gesellschaftsschichten verbreitet?
  
  Wie kann es sein, dass in den USA finanziell benachteiligte Menschen (und da
  reden wir bei weitem nicht ausschließlich von Wohnungslosen) an Diabetes
  sterben?
  
  Warum wurden die Laborreferenzwerte für Glukose und Cholesterine im Laufe
  der Zeit immer weiter heruntergesetzt - ohne wissenschaftlichen Konsens?
  (Spoiler: Weil die Medikamente dagegen keinen Schaden anrichten und es "eh
  nichts macht", die an ein paar zig Millionen Menschen mehr zu verscherbeln).
  
  Dass auch die Gesundheit der Menschheit der kapitalistischen Ordnung
  unterworfen ist, wirkt besonders bitter - wenn man vergisst, dass das beim
  Leben an sich (durch bewusst zugelassenes Verhungern und Tote in
  Ressourcenabbau und -kriegen) ohnehin gang und gäbe ist.
  
  Wollen uns die Pharmafirmen vergiften? Nein, natürlich nicht - das wär ja
  schön blöd.
  
  Verkaufen die uns wirkungsloses Zeug? Ja, zum Teil (siehe das Geschäft mit
  überteuertem Zucker). Spoiler: Die Covid-Impfung gehört nicht dazu - sie ist
  derzeit eines der am besten erforschten Medikamente weltweit.
  
  Und genau dafür gibt es "die" Wissenschaft, die weltweit forscht und
  untersucht und solange versucht, sich gegenseitig zu widerlegen, bis nichts
  mehr zu klären übrig bleibt und ein evidenter wissenschaftlicher Konsens
  entsteht. (Erstmals breitflächig in diesen Prozess Einblick zu bekommen, war
  in den letzten beiden Jahren verständlicherweise irritierend)
  
  Nützt es etwas, die Pharmafirmen zu boykottieren? Nein - nicht, wenn man
  seinem Einsatz gegen die Profitgier kein vorzeitiges (Lebens-)Ende bereiten
  will.
  
  Muss man "die" Wissenschaft kritisieren? Nein. Pharmazeutische Entwicklung
  ist nur ein Teil, in dem Wissenschaftler*innen beschäftigt sind.
  Gentechnische Wissenschaft ist in vielen Bereichen ein Segen und sehr oft zu
  Unrecht verteufelt - sowohl in der Landwirtschaft, wie in der Medizin (wo es
  heute eher um ethische Debatten für die Zukunft geht).
  
  Und da heute jedermann und jede Frau über Spike-Proteine debattieren kann,
  sollten auch hier viel mehr Details öffentlich besprochen und v.a.
  verständlich und nicht in völlig vermischten Begriffen erklärt werden.
  
  Die Profitlogik, der wissenschaftliche Erkenntnisse unterworfen werden,
  gehört kritisiert - und bekämpft. Die Wissenschaft dient üblicherweise dem
  Allgemeinwohl und darf diesem nicht entzogen werden. Sie muss gestärkt und
  verteidigt werden gegen jene (ebenso profitorientierten) Kräfte, die sie und
  damit das Gemeinwohl auf perfide Weise unterminieren.
  
  Dass heute in der medizinischen Wissenschaft mehr Körper als Psychen
  behandelt werden, liegt am Mangel an entsprechendem Versorgungsausbau. Auch
  das treibt viele Menschen in die Arme diverser "Heiler".
  
  Es gibt also genug Baustellen für linke Kräfte - die Wissenschaft an sich
  "zu kritisieren" gehört nicht dazu (es sei denn, man meint
  wissenschaftsethische Debatten). Im Gegenteil - dies wäre eine grobe
  Vereinfachung und "zutiefst" oberflächliche Herangehensweise, die großen
  gesellschaftlichen Schaden anrichten würde (und bereits hat).
  
  Die Wissenschaftler*innen, die tatsächlich aktuell forschen (und nicht
  Bücher verkaufen, "Spenden" sammeln, lukrative, industriegesponserte
  Think-Tanks betreiben, oder zahlungskräftige Patient*innen requirieren) sind
  nicht die großen Profiteure des bestehenden Systems. Viele leiden
  tatsächlich darunter, dass mehr und mehr Forschungsmöglichkeiten von
  privaten (Pharma-) Sponsoren abhängen und immer öfter bereits im Vorfeld die
  spätere Lukrativität der Forschung berücksichtigt werden muss.
  
  Auch dass Umweltwissenschaften als "Spinnerei" gegolten haben, liegt nicht
  daran, dass die Wissenschaft selbst dem nichts abgewinnen konnte (die
  Wissenschaft hat bereits im 19. Jahrhundert erstmals von CO2-bedingten
  Effekten auf die Atmosphäre gesprochen, ab den 1950ern war das allgemein
  bekannt und anerkannt), sondern am Lobbying großer (Öl-)Industriekonzerne,
  die sich dafür sogar eigene Think-Tanks leisten (von Exxon Mobile ist
  inzwischen öffentlich bekannt, dass seit Jahrzehnten gegen die
  Umweltwissenschaft gearbeitet wird). Auch der Lobautunnel wird von Politik
  und der beauftragten Firma (ASFINAG) schöngeredet - nicht von den Umwelt-
  und Verkehrswissenschaftler*innen.
  
  "Wissenschaftskritik" ist daher meiner Meinung nach ein verfehlter Begriff,
  weil er den Kern dessen, was tatsächlich falsch läuft, nicht trifft.
  
  Gesellschaftlich und medial verbreitet wird, was die finanzkräftigste Lobby
  möchte - in dieses Nest muss gestochen werden.
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