**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 18. November 2021; 03:46
**********************************************************

Pandemische Zeiten:

> Die Moderne ist zurück

Mit der Corona-Krise werden die Elfenbeintürme wieder zu Kathedralen

*

Was hilft zweifeln können dem
Der nicht sich entschließen kann!
Falsch mag handeln
Der sich mit zu wenigen Gründen begnügt
Aber untätig bleibt in der Gefahr
Der zu viele braucht.
(Brecht, Lob des Zweifels)

Heute haben wir leider
für Feinheiten
keine Zeit
sagte einer
den ich schon vor Jahren
als Grobian kannte
(Erich Fried, Not kennt kein Gebot)

Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer
Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist
immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der
"Gerechtigkeit", sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der
politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn
die "Freiheit" zum Privilegium wird.
(Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, 1918)


Könnt ihr euch noch an die Zeit erinnern, als alle Atomkraftgegner "Spinner"
waren? Und fortschrittsfeindlich! Weil ja schließlich ohne AKW die Lichter
ausgehen. Genauso wie ein paar Jahre später mit Hainburg. Weil es ja völlig
problemlos ist, auch ein großes Wasserkraftwerk naturnah zu errichten, da
besteht überhaupt kein Widerspruch zum Nationalpark. Wer die Gentechnik
ablehnt, ist auch nur ein Hinterwäldler. Das brauchen wir unbedingt, um den
Hunger der Welt zu stillen, genauso wie die Pestizide. Die Klimaerwärmung
ist ebenfalls ein Hirngespinst der Weltverbesserer. Und ohne S1 und
Stadtstraße erstickt die Stadt im Autoverkehr und man kann auch keine neuen
Wohnungen bauen. Sagen uns die relevanten Experten. Das ist doch
wissenschaftlich alles genau belegt.

Gab es nicht einmal so etwas wie Wissenschaftskritik? Oder die Frage, ob
Wissenschafter wirklich so völlig ohne andere Interessen agieren -- außer
eben, daß sie an der Wahrheit und an der Richtigkeit ihrer Thesen
interessiert seien? Oder spezifischer: Erinnert sich noch wer an die
Debatten, ob man die "Götter in Weiß" nicht von ihrem Podest holen sollte
und daß Medizin mehr sein müsse, als die Reparatur eines rein physischen
Mechanismus? Haben wir nicht unter anderem von Paul Watzlawick gelernt, daß
unser Weltbild von Erwartungshaltungen geprägt ist?

Watzlawick ist ein gutes Stichwort -- Träger des
"Paul-Watzlawick-Ehrenrings" ist auch der derzeit gerne in den
Fernsehstudios präsente Peter Klimek. Seine Fachdisziplin beschreibt er wie
folgt: "In der Komplexitätsforschung entwickeln wir mathematische und
statistische Modelle - getrieben von kleinen oder großen Datensätzen - um
solche Systeme und ihr Verhalten quantifizieren, verstehen und letztendlich
besser handhabbar zu machen." Sprich: Die Soziologie ist endgültig eine
Angelegenheit von Statistikern und Quantifizierern geworden -- der Mensch
und sein Verhalten haben berechenbar zu sein. Watzlawick würde wohl
rotieren. Logisch ist die Auszeichung trotzdem, denn dieser nach dem
Philosophen und Psychotherapeuten benannte Ehrenring wird von der Wiener
Ärztekammer vergeben.

Manager gesucht

Dieses Fokussieren auf die "Handhabbarkeit" einer Krise im rein
technokratischen Sinne versehen mit wissenschaftlicher Gloriole war in
dieser Pandemie von Anfang an gegeben. Man erinnere sich an die
"Tischvorlage" vom Mai 2020 mit dem Titel "Stellungnahme zur COVID19 Krise",
das die Regierung als Grundlage für die weitere Arbeit verwenden wollte. Um
dem Papier mehr Gewicht zu verleihen, waren am Titelblatt die Namen der
Rektoren von Uni und Med-Uni Wien genannt. Allerdings kannte der eine die
Studie nur vom Hörensagen, der andere nicht einmal das. Verfaßt hatten das
Papier ein Genetiker und vier Mathematiker. Aber damals, im ersten Frühling
der Krise, wurde diese fachliche Eingeschränktheit und das Schmücken mit den
fremden Federn zweier Rektoren wenigstens noch kritisiert. Wenn heute jemand
das jüngste Papier mit dem hochtrabend-autoritären Titel "Unabhängiges
Statement der Wissenschaft" in Zweifel zieht, ist er ein "Schwurbler", also
quasi das, was im 20.Jahrhundert ein "Spinner" war.

Als bei "Im Zentrum" neben Peter Klimek die Ärztin und SPÖ-Chefin
Rendi-Wagner saß, gab sie auch ein diesbezügliches Statement ab. Mit
Berufung auf Klimeks Fachkollegen Niki Popper wünschte sie sich eine
"zentrale Drehscheibe der wissenschaftlichen Analyse" wo "verschiedene
wissenschaftlich-medizinischen Disziplinen zusammengefasst werden: die
Virologen, die Infektiologen, die Prognoserechner, die Mathematiker, und
alle, die wir dazu noch brauchen". Jetzt rotiert wohl auch Alfred Adler!
Weil klar ist, daß die, die "wir" nach Ansicht Rendis und Poppers "noch dazu
brauchen", sicher keine Soziologen, Politologen, Philosophen oder vor allem
Psychologen sein werden. Weil das Ganze ja nur ein rein
medizinisch-mathematisches Problem ist. In einem Land, das wie kein anderes
für die Erforschung der Tiefen der Psyche steht, gehen wir das rein
mechanistisch an, wenn es darum geht, ein gesellschaftliches Problem zu
lösen -- denn angeblich geht es ja um das Verhalten der Bevölkerung.

Überall Aluhüte

Allerdings laufen auch Mediziner mit dissidenten Meinungen schon unter
"Schwurbler". Als in der ORF-Sendung "Politik Live" der
FPÖ-Wirtschaftskämmerer Matthias Krenn meinte, man müsse doch auch andere
Experten einladen zu Diskussionen und nicht immer nur die selben, fiel ihm
Sigrid Pilz, vormalige Grün-Politikerin und jetzige Patientenanwältin ins
Wort, daß man nicht mit Leuten diskutieren müsse, die
"Unwissenschaftlichkeit verbreiten". Auf den Einwand Krenns, da wären ja
auch Mediziner mit dabei, meinte Pilz: "Schlimm genug, das ist eine Aufgabe
für die Ärztekammer." Mit anderen Worten: 'Was wissenschaftlich ist und was
nicht, bestimme ich. Und wenn wer was anderes sagt, soll sich die
Disziplinarkommission um denjenigen kümmern und vielleicht auch gleich die
Approbation entziehen.' Also ich hoffe sehr, daß ich nie auf diese
Patientenanwältin angewiesen sein werde, wenn ich hören muß, wie sie
Widerspruch gegen Autoritäten verachtet.

In derselben Sendung kommt auch ein gebauter Beitrag vor mit dem
Positiv-Beispiel Portugal: "Dort hat ein General vom Militär das Ruder in
die Hand genommen" heißt es da -- ohne jegliche Bedenken, noch dazu bei
einem Land, das bis 1974 eine unverhüllte Diktatur war. Auch bei den
Diskussionsteilnehmern im Studio löst dieses seltsame Demokratieverständnis
keinerlei Unbehagen aus.

TV-Diskussionen kann man aber auch anders machen: "Wir erleben bei unseren
Gästen sehr oft, dass sie sich für das -- Zitat -- 'Meinungsasyl' bei uns
bedanken. Offenbar ist es so, dass nicht überall kritische Meinungen gerne
gehört werden." Das sagt Katrin Prähauser, Moderatorin beim vielgescholtenen
"Servus TV" im Branchenblatt "Österreichs Journalist:in" 4/2021. Natürlich
orientiert sich Privatfernsehen mehr an Infotainment und unterhaltsamer sind
nunmal kontroversielle Debatten als wenn sich alle in einer Diskussionsrunde
in groben Zügen einig sind und die Moderation Widersprüche in Details zu
Wichtigkeiten aufblasen muß. Aber damit ist der ORF nicht seriöser und die
Verachtung hochstehender, aber lebhafter Diskussion war auch nicht immer
so -- man erinnere sich an die Zeiten eines Club 2 in den 70ern und 80ern.

Gerade jetzt in dieser Krise ist der Druck hoch, einen Konsens unter den
Wissenschaftern zu zelebrieren, was man dann als "die Wissenschaft", die
"mit einer Stimme" spricht, verkaufen kann. Dazu muß man aber die
dissidenten wissenschaftlichen Stimmen ausblenden -- indem man sie nicht zu
Diskussionen einlädt oder bei ihnen schon von vornherein die Schere im Kopf
funktioniert, weil sie ihre Karriere nicht gefährden wollen.

Bleibt also nur die unwissenschaftliche Kritik. Präsent ist da in einer
breiten Öffentlichkeit mit Dissidenz hauptsächlich die FPÖ -- auch deswegen,
weil der ORF nach seinem gesetzlichen Auftrag die Stellungnahmen einer
Parlamentspartei bringen muß. Daneben haben noch diejenigen, die als
"Verschwörungstheoretiker" gebrandmarkt werden, eine hohe Bekanntheit.
Sowohl diese als auch die Kickl-Partei sind allerdings sehr hilfreich für
das 'manufacturing consent', denn sie verzapfen offensichtlichen Blödsinn,
von dem man sich leicht abgrenzen kann -- und damit auch jede Kritik
desavouieren.

Menschliches, Allzumenschliches

Die Verschwörungstheoretiker sind in ihrem Verhalten aber auch ein
Spiegelbild derjenigen, die heute auf das schwören, was sie für Wissenschaft
halten. Das ist kein Wunder, gehört das doch zur Überlebensstrategie des
Homo Sapiens: Diese Spezies konnte nur durch ihre Neugier überleben -- wir
wollen immer alles wissen! Und wir wollen für alles Erklärungen! Bevor sich
die modernen Meteorologen damit beschäftigten, mußten wir den Blitz
erklären -- also mußte ein Gott dafür verantwortlich sein. Ebenso brauchte
es einen solchen, um die Entstehung der Arten zu erklären, bevor Darwin den
Weltschöpfer von seinem Thron holte. Es ist einfach unbefriedigend, für ein
unleugbares Faktum keine Erklärung zu haben.

Wie notwendig aber nicht nur die Existenz des Dissenses in der Wissenschaft
sondern auch dessen Vermittlung für eine informierte Meinungsbildung ist,
zeigt das berüchtigte Milgram-Experiment. Dieses Experiment wird gerne
angeführt, um die Bestialität aus Autoritätshörigkeit zu dokumentieren, oft
im Zusammenhang mit der NS-Zeit. Was dabei oft übersehen wird: Es waren
keine militärischen oder sonstwie hoheitlichen Autoritäten, die da die
Befehle gaben, sondern wissenschaftliche. Wer von den Probanden aufhören
wollte mit der Folter, wurden vom Versuchsleiter darauf hingewiesen, daß ein
Abbruch das Experiment gefährde. Andererseits stieg die Abbruchrate, wenn
eine andere Autorität im weissen Kittel sich einmischte und die
Erst-Autorität kritisierte. Will ich also Gehorsam, muß ich gerade
qualifizierte Kritik ausblenden. Genau das erleben wir heute. Und das ist
auch nicht zu rechtfertigen mit dem Hinweis, daß es ja für einen guten Zweck
sei.

Dogmatik als Sicherheit

Wir wollen Sicherheit, gesichertes Wissen. Doch die Wissenschaft lebt vom
Zweifel. Damit ist sie ein unbrauchbarer Gott. Deswegen basteln sich die
Verschwörungstheoriker neue Götter, wilde Spekulationen, wo es für jeden
Widerspruch eine Ausrede gibt, mit der man ihn beseitigen kann. Deren Gegner
sind aber nicht besser, denn auch sie wollen den Widerspruch, ohne den es
keine Dialektik und damit auch keinen wissenschaftlichen Fortschritt geben
kann, in die tiefsten Tiefen des Orkus verbannen, weil sie sonst
verunsichert sind. Ein sokratisches Bekenntnis zum Nichtwissen ist beiden
ein Greuel. Das ist aber auch kein Wunder: Denn ohne ein gesichtert
scheinendes Wissen ist ein Handeln -- vor allem in einer Krisensituation --
nur schwer möglich. Und derjenige ist am Durchschlagskräftigsten, dessen
Meinung am wenigsten vom Zweifel angekränkelt ist. Ob dessen Lösung eines
Problems allerdings als in irgendeinem Verständnis des Wortes als "gut"
bezeichnet werden kann, ist damit nicht garantiert.

Die Kritik am Machbaren, an den neuen Gottheiten in den Labors und auf den
Universitätskanzeln, ist das große Verdienst der ansonsten eher nicht so
prickelnden Postmoderne. Die Moderne hielt den naturwissenschaftlichen und
technischen Fortschritt für das Um und Auf der Welt. Das zeigten am
Schönsten die Bilder von den rauchenden Schloten als Zeichen der Prosperität
und der Leninsche Elektrizitätssager. Ist es eine rein zufällige Koinzidenz,
daß mit der Debatte um die Klimaerwärmung wieder die Atomenergie forciert
werden soll? Oder ist es der Ausdruck der marxschen Farce, wie die Moderne
wiederkommt? -- die technische Lösung eines Problems mittels Elektrizität,
jetzt halt wieder nuklear, mit der nächsten Generation an Experten, die uns
erklären, daß moderne AKWs heutzutage aber wirklich sicher sind.

Zur Moderne gehört aber auch der Zweifel als treibende Kraft. Deswegen steht
diese Luxemburg-Epistel am Anfang, die üblicherweise nur in Kurzform von den
Vertretern aller möglichen Positionen zitiert wird. Aber es ging Luxemburg
eben gar nicht um so etwas wie Gerechtigkeit oder Menschenrecht, sondern
darum, daß nur durch den geäußerten Zweifel Fortschritt und gedeihliches
Miteinander in der Gesellschaft möglich sind. Dialektik, die gerade den
marxistischen Klassikern so wichtig war, ist halt nicht möglich ohne das
Vorhandensein von Antithesen.

Diesen Teil des Denkens der Moderne schmeissen die politischen Enkel
Luxemburgs gerade in die Rundablage. Denn besonders die heutige Linke ist
großteils von einem Denken geprägt, das keine Zweifel erträgt. "Bothsideism"
heißt das dann im heutigen Neusprech und "falsche Balance", wenn doch mal in
einer öffentlichen Diskussion jemand eine andere Meinung vertritt -- im
Newspeak von "1984" hieß das noch "Wrongthink". Diese Herangehensweise ist
nicht neu, kritisierte das doch Orwell 1948 angesichts der grauslichsten
Perversionen der Moderne, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Nein,
einen Vergleich mit diesen Zeiten und Regimen möchte ich da nicht anstellen,
das wäre vermessen. Allerdings habe ich ein Problem damit, wenn die Linke
gerade mit der Attitüde eines Banal-Antifaschismus -- und das nicht nur in
Corona-Fragen -- Dissidenz taxfrei in die rechte Ecke stellt, um sie dann
aburteilen zu können. Das ist wirklich kein Ghörtsi.

Disclaimer

Der Autor dieser Zeilen ist -- trotz Bedenken -- doppelt covidgeimpft, als
gelernter Chemiker naturwissenschaftlich vorgeschädigt und verdient sein
Geld unter anderem damit, spinnerten Computern Manieren beizubringen. Also
weder impf- noch wissenschafts- noch technikfeindlich. Aber natürlich immer
Skeptiker. Und allein die Entwicklung, daß "Skeptiker" in manchen Kreisen
mittlerweile ein Schimpfwort geworden ist und wir in unserer
bekenntnisverliebten Zeit auf unseren Impfstatus aufmerksam machen müssen,
um ernstgenommen zu werden, sollte uns eigentlich zu denken geben.
*Bernhard Redl*


***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der nichtkommerziellen
Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd muessen aber nicht
wortidentisch mit den in der Papierausgabe veroeffentlichten sein. Nachdruck
von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete
Beitraege stehen in der Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von
Texten mit anderem Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine
anderweitige Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als
Abonnement verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann
den akin-pd per formlosen Mail an akin.redaktion@gmx.at abbestellen.


*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
postadresse a-1170 wien, lobenhauerngasse 35/2
redaktionsadresse: dreyhausenstraße 3, kellerlokal, 1140
vox: 0665 65 20 70 92
https://akinmagazin.at/ oder https://akin.mediaweb.at
blog: https://akinmagazin.wordpress.com/
facebook: https://www.facebook.com/akin.magazin
mail: akin.redaktion@gmx.at
bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
bank austria, zweck: akin
IBAN AT041200022310297600
BIC: BKAUATWW