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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 13. Mai 2015; 17:26
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VERWORTET
> Debatte: "Wissenschaft"
Letzte Woche VERWORTETE Ilse Grusch die "Wirtschaftswissenschaft",
die ihrer
Ansicht nach eher "Wirtschaftstheologie" wären. Darauf gab es Reaktionen und
daher gibt es heute statt der Kolumne eine Debatte darüber:
*
Liebe Ilse, den Disput über die Wissenschaftlichkeit -- in dem Fall über das
Wirtschaftswissen -- hätte ich nicht vom Zaun gebrochen. Direkter gesagt:
Das "genauere Überlegen" (hier in Bezug auf die von dir erwähnte Medizin)
wäre klüger auf den eigenen Wissens- bzw. Wissenschaftsbegriff anzuwenden
gewesen. Ich meine, der hätte das Kriterium für die Aufnahme in die Rubrik
VERWORTET eher erfüllt, als deine Polemik über Wirtschaftswissenschaften
oder gesellschaftliche "Würdigungen" von selbst nicht sonderlich geschätzten
Wissensprodukten.
*Peter Moser*
Ilse Grusch habe ich als Kennerin von Kinderliteratur aus der früheren
Buchhandlung Kolisch hinter dem NIG in bester Erinnerung und in der Akin
habe ich manch guten Beitrag von ihr gelesen. In der Rubrik VERWORTET in
Akin 11 setzt sie sich mit "Wirtschaftswissenschaften" auseinander: Das Wort
sei falsch, das sei nämlich keine Wissenschaft, meint sie. Begründet wird
das damit, dass Wirtschaftswissenschaften "unnötige Theorien" und
gegensätzliche Theorien entwickeln (wofür sie auch noch den Nobelpreis
bekämen), weiters damit, dass ihre Theorien nur "einen winzigen Teil der
Menschen" betreffen und nur für "2 oder 5 Ländern gelten [würden] und im
Rest der Welt nicht" und dass in den Wirtschaftswissenschaften "Experimente
unter Laborbedingungen" (sic!) nicht möglich seien. Soweit die Rubrik. Keine
dieser Begründungen eignet sich dafür, den Wirtschaftswissenschaften
generell Wissenschaftlichkeit abzusprechen (den meisten anderen
Wissenschaften übrigens auch nicht). Eine kritische Auseinandersetzung mit
wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten bzw. mit Arbeiten dieses Anspruchs
wäre aus plausiblen Gründen geboten; solches Sperrfeuer aber, das auf die
Gesamtheit der Wirtschaftswissenschaften zielt -- obwohl doch gerade eine
Differenzierung von deren Arbeiten, Akteuren und Interessen notwendig
wäre -- mag vielleicht der Psychohygiene der Autorin dienen, eine erhellende
Funktion hat es nicht.
Bereits das Vorgeplänkel, das Grusch unternimmt, um schließlich die
Wirtschaftswissenschaften zu treffen, mündet in einen Bauchfleck: "Was wir
auf der Universität studieren können, ist angeblich Wissenschaft.", so die
Einleitung, um solchen Zweifel gleich zu belegen: Der medizinischen
Wissenschaft wird Wissenschaftlichkeit abgesprochen, "weil der Mensch sich
für Versuchsanordnungen nicht eignet"; die Germanistik ist für Grusch keine
Wissenschaft, weil "die Literatur vom Zeitgeschmack abhängig" ist; als wäre
der Wandel des Untersuchungsgegenstandes (wobei Literatur auch nur einer
davon ist ) ein Grund dafür, dass man sich mit ihm wissenschaftlich nicht
auseinandersetzen könnte. Soziologie wäre bei Grusch wohl auch keine
Wissenschaft, weil Gesellschaft sich wandelt? Und die
Geschichtswissenschaft... usw.? Und was die ebenfalls genannte Theologie
betrifft sehe ich nicht ein, warum eine Auseinandersetzung mit 'heiligen
Schriften' und ihren Überlieferungen nicht wissenschaftlich betrieben werden
könnte.
Die Akin-Rubrik Verwortet hat den Selbstanspruch, "ein Wort oder eine Phrase
vorzustellen, deren allgemeiner Gebrauch nicht ganz koscher ist". Diesmal
"verwortet" die Rubrik nicht, sie ist vielmehr selbst "verwordagelt". Dabei
hätten sich manche wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten, verdammt noch mal,
doch wirklich verdient...
*Walter Kissling*
> Antworten aus der Redaktion
Die Rubrik "VERWORTET" erhebt keinen Anspruch darauf, der Weisheit letzter
Schluß zu sein (auch weil Weisheit keine letzten Schlüsse kennen sollte
sondern nur weitere Fragen). Wir haben nur vor, auf den "nicht ganz
koscheren Gebrauch" von Wörtern oder Wendungen hinzuweisen. Dieser Gebrauch
hängt erstaunlich oft mit den Machtverhältnissen zusammen.
Sicher gibt es -- ebenso wie in anderen Bereichen der Wissenschaften -- auch
in dem Fach "Wirtschaftswissenschaft" interessante Theorien und solide
Arbeiten, besonders im deskriptiven Bereich. Und manche dieser
Beschreibungen können durchaus dazu dienen, bestimmte Phänomene verständlich
zu machen. Ebenso wie die Erfolge der modernen Medizin unser Leben
verbessern und/oder verlängern können. Das wollen wir gar nicht bestreiten.
Mir "Sperrfeuer" vorzuwerfen, heißt mich und die Wirksamkeit dessen, was in
der Akin steht, weit überzubewerten. Die akin bellt, und die Karawane zieht
weiter. Denn Wissenschaft ist, was Wissenschaftler als Wissenschaft
anerkennen. Und da war bisher schon einiger Unfug dabei -- Rassenlehren etwa
oder der wissenschaftliche Nachweis der Dummheit der Frauen. Natürlich kann
die wissenschaftliche Beschäftigung mit "heiligen Schriften" sinnvoll sein.
Aber soviel ich weiss, kann in Wien nur (katholische) Theologie studieren,
wer (katholisch) getauft ist -- also zumindest theoretisch das auch glaubt,
was in den "Heiligen Schriften" steht.
Wir werden in der AKIN-Redaktion weiterhin unserer Lieblingsbeschäftigung
nachgehen, nämlich dem Zweifeln -- was ja lt. Teilhard de Chardin der
Ursprung der Wissenschaft ist. Unser Anliegen ist nicht die Welterklärung,
sondern wir wollen die Sensibilität für das Eingebunden-Sein der Sprache in
politische Systeme erhöhen, eine Gebrauchskritik also. Nicht mehr und nicht
weniger.
Was mich aber ganz besonders freut: Wir haben wieder eine Debatte in der
AKIN.
*Ilse Grusch*
*
Nach dem Techniker, dem Erziehungswissenschaftler und der Volkskundlerin muß
ich als Nichtgraduierter mal etwas in die akademische Runde einwerfen: Was
ist eigentlich Wissenschaft? Oder besser: Gibt es "exakte Wissenschaften"
überhaupt? Wikipedia definiert das so: Exakte Wissenschaften seien solche
"die in der Lage sind, genaue quantitative oder mathematisch oder
formallogisch präzise Aussagen zu treffen und über eigene, strenge Methoden
für die Überprüfung von Hypothesen und vor allem reproduzierbare Versuche
mit quantifizierbaren Messungen verfügen. Von den Formalwissenschaften
werden Logik, Mathematik und Teile der Informatik sowie von den
Naturwissenschaften Physik, Chemie und Teile der Biologie als exakte
Wissenschaften in diesem Sinne betrachtet."
Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Denn Beweise sind in Physik, Chemie
oder Mathematik zwar zwingend notwendig, dennoch reichen sie nicht aus, um
zur gewünschten Exaktheit zu kommen, da auch diese naturwissenschaftlichen
"Beweise" erst zu einer Theorie führen, wenn man sie interpretiert. Mein
Lieblingsbeispiel: Die Phlogiston-Theorie über Verbrennungsprozesse galt ein
gutes Jahrhundert lang als bewiesen, obwohl sie von vorn bis hinten ein
Topfen ist und nicht einmal eine vage Annäherung an die Wirklichkeit
darstellte. Aber die Beweise dafür waren eindeutig.
Doch nicht mal in der Mathematik ist man vor Interpretationen sicher: Es
läßt sich sehr einfach beweisen, daß 0,9 periodisch gleich 1 ist -- trotzdem
läßt es so manchem Mathematiker mit dem mulmigen Gefühl zurück, daß das so
nicht stimmen kann und unendlich klein doch nicht exakt 0 sein könne.
Wie exakt also kann Wissenschaft sein? Kann man von "exakt" sprechen, wenn
diese Exaktheit eine Funktion der Zeit ist, also vom Forschungsstand
abhängig?
Die Unterscheidung zwischen "harten" und "weichen" Wissenschaften ist
dennoch nicht ganz falsch. Sozialwissenschaften können per Definition nie
die Exaktheit von Naturwissenschaften erreichen, da Versuche unter
standardisierten Bedingungen nicht wirklich möglich sind -- dazu bräuchte es
standardisierte Menschengruppen in ebensolchen gesellschaftlichen
Zusammenhängen. Man muß sich also eingestehen, daß Sozialwissenschaften
niemals einen derartigen Grad an Exaktheit erreichen können wie Mathematik
oder Chemie oder auch nur die diesbezüglich grenzständige Biologie. Wenn man
das nicht tut, müßte man die gleichen Kriterien der Beurteilung von
Wissenschaftlichkeit anlegen wie bei den Naturwissenschaften und zum Schluß
kommen, daß gesellschaftliche Fragen generell als wissenschaftlich nicht
zugänglich anzusehen sind. Dann müßte aber jede analytische
Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen von vornherein als
unseriöse Spintisiererei gewertet werden.
Bei den Sozialwissenschaften muß man akzeptieren, daß sie
dialektisch-dynamischen Charakter haben und nebeneinander Theorien
existieren lassen müssen, die einander widersprechen. Genau in der
Wissensvermittlung liegt dann aber der Hund: Da schreibt irgendeine Koryphäe
ein Buch oder wird auch nur interviewt und das wird dann dem Rezipienten als
state of the art der Wissenschaft verkauft -- daß das nur eine Theorie von
vielen ist, kommt nicht vor.
Vor allem aber spielen bei Sozialwissenschaften -- und da eben ganz
besonders bei den Wirtschaftswissenschaften -- politische Fragen eine
gewichtige Rolle. Was in der ersten Sekunde nach dem Urknall passiert sein
könnte, ist auch heftig umstritten, aber kaum jemand hat an dieser Frage ein
politisches Interesse (außer vielleicht den Theologen, die aber sowieso auf
einem anderen Planeten leben). Was aber passieren könnte, wenn man die
Leitzinsen um 0,1 Prozentpunkte anhebt oder einen Mindestlohn einführt, ist
eine Frage, die von vitalen wirtschaftlichen und damit politischen
Interessen begleitet wird. Und da werden natürlich dann die Theorien
präferiert, die im eben jeweiligen Interesse sind. Die politische Hegemonie
ist es letztendlich, die vage Postulate zu ewig und überall gültigen
Wahrheiten macht, die bedingungslose Akzeptanz der daraus resultierenden
praktischen Konsequenzen fordert und die entsprechenden Mittel organisiert,
damit in die gewünschte Richtung weiter "geforscht" werden kann.
Damit sind wir aber weit weg von einer dialektisch-skeptischen
Herangehensweise an ein komplexes Thema und ganz nah am Dogma. Und das ist
nunmal eine Sache für Theologen. Und insofern hat Ilse natürlich recht, wenn
sie meint, die Wirtschaftswissenschaft wäre eher als Glaubenschaft
anzusehen.
Natürlich ist diese Kategorisierung sicher auch auf andere
Wissensschaftsbereiche anwendbar. Doch kaum auf ein andere Wissenschaft wie
die der Wirtschaftstheorien trifft sie dermaßen gut zu.
*Bernhard Redl*
*
In der Rubrik VERWORTET stellt die akin jede Woche ein Wort oder eine Phrase
vor, deren allgemeiner Gebrauch nicht ganz koscher ist. Wer dabei mitmachen
will, schicke uns ein Wort und dessen Gebrauchskritik an
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