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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 20. Dezember 2005; 18:23
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Irak/Krieg/Debatte:

> Frage an die Unterzeichner einer Petition

Zu: "Nehmt dem Folteropfer von Abu Ghraib nicht auch noch die Stimme!", akin
32/05 (akin-pd 6.12.05)



Seit einiger Zeit spukt in meinem Kopf ein altes Protestlied herum: "Which
Side Are You On"? Diese Frage stelle ich an die Unterzeichner der Petition
an Aussenministerin Ursula Plassnik, in der sie sich fuer Visumserteilung
eines Folteropfers in Abu Ghraib einsetzen.

Zunaechst die Frage: Gibt es nicht Wichtigeres bzw. Dringenderes? Das gibt
es sehr wohl! Zur Zeit befinden sich vier Friedensaktivisten in Haft,
darunter der 74jaehrige britische Baptist Norman Kember, der sich seit
Jahrzehnten um Frieden und Gerechtigkeit ueberall in der Welt bemueht. Es
droht sogar die Todesstrafe! Sofort muesste eine Petition her und ich wuerde
sie umgehend unterschreiben. Warum demonstrieren nicht schon laengst
ueberall in Europa die Massen fuer ihre Freilassung?

Ganz einfach! Die Aermsten sitzen im falschen Gefaengnis, nicht in Abu
Ghraib (unter US-Aufsicht wohlgemerkt) oder Guantanamo, nicht in einem
Geheimgefaengnis der CIA, sondern irgendwo im Irak, entfuehrt und
verschleppt vom sogenannten irakischen Widerstand, der damit droht, sie
umzubringen, falls man nicht alle Kaempfer sofort freilaesst.

Wer ist dieser irakische Widerstand (siehe dazu die Spiegel-Titelgeschichte
in 49/2005), mit dem die Unterzeichner offensichtlich sympathisieren? Wofuer
kaempfen diese Leute eigentlich? Nun, manche fuer die Wiedereinsetzung des
alten Baath-Regimes, am Besten wieder mit Saddam Hussein an der Spitze. Also
fuer eine gross-arabisch-nationalistische Diktatur.

Schon laengst habe ich das Gefuehl, irgendwas stimmt da nicht beim
Engagement vieler Linker. Es steckt mehr dahinter als blinder
Antiamerikanismus oder der Kampf gegen eine Besatzungsmacht bzw. die
angebliche "Befreiung des irakischen Volkes".

Warum fordert man ausgerechnet die Einreise eines Mannes, der zwar in Abu
Ghraib gefoltert wurde (jene amerikanischen Soldaten, die fuer diese
erniedrigende Behandlung verantwortlich waren, wurden inzwischen zu hohen
Haftsstrafen verurteilt), aber von dem keiner weiss, warum er ueberhaupt
dort war. Hat er vielleicht bei Attentaten auf Marktplaetze, Busse und
Krankenhaeuser mitgeholfen? Warum sollte ich da unterschreiben?

Ausserdem: Es gibt viele Folteropfer in Abu Ghraib! Zehntausende. Manche von
ihnen erzaehlen ihre Geschichte derzeit beim Gerichtsverfahren gegen Saddam
Hussein: Unvorstellbare Grausamkeiten an Frauen und Kindern, Berichte von
einem Massaker an 180 Zivilisten als Strafe fuer ein kleines Dorf, weil
irgendwer angeblich ein Attentat an Saddam Hussein versucht hat. Doch da gab
es keine Petition! Man sucht sich halt schon seine Folteropfer aus! Je
nachdem wie sie gerade politisch ins Konzept passen. Demnaechst werden wir
eine Petition unterzeichnen duerfen, die dafuer eintritt, dass Saddam
Hussein seine Unterwaesche oefter wechseln darf (Anspielung: Saddam
beschwerte sich vorige Woche darueber lautstark vor Gericht).

Es tut richtig weh, zu sehen, welche Personen diese Petition unterschrieben
haben, weil einige (z.B. Leo Gabriel) darunter sind, deren Engagement ich
bis jetzt sehr geschaetzt habe.

Besonders erwaehnenswert ist der Fall des britischen Abgeordneten George
Galloway, der vor ein paar Jahren die Labour-Party verlassen musste, weil er
immer heftiger und radikaler gegen das britische Engagement im Irak
opponierte. Es steckt aber mehr dahinter. George Galloway hat mit dem
Kommunismus a la Sowjetunion sympathisiert. In den 90ern hat er sich
kraeftig fuer die Aufhebung der UN-Sanktionen eingesetzt. Wie vor ein paar
Monaten bekannt wurde, wurde er ("Unschuldsvermutung") dafuer in
ausserordentlicher Weise belohnt: 23 Millionen Barrel Oelaktien, 150.000
Dollar Geld fuer seine Frau, 446.000 Dollar fuer seine Charity-Organisation
im Rahmen des Oil-For-Food-Programms der UN und nochmals 1,6 Mio. von Saddam
Hussein. Siehe "Calling Galloway's Bluff" by Christopher Hitchens
http://www.slate.com/id/2128742/

Was laeuft da bitte? Mit wem sympathisiert Ihr eigentlich? Dazu: Waehrend
der Diktatur des Chilenen Pinochet verschwanden rund 3.000 Regimegegner
spurlos, waehrend der Zeit Saddams 200.000! 4.500 Doerfer wurden zerstoert,
seit 2003 wurden fast 300 Massengraeber entdeckt. Man braucht sich also
nicht ueber die - nach US-Gesetzen illegale - CIA-Unterstuetzung beim
Chile-Putsch beschweren, und dann stellt man sich als lebendes Schutzschild
vor Saddam! Diese ganzen Terrorattentate im Irak erinnern ausserdem an jenes
am Bahnhof in Bologna, als italienische Faschisten rund 80 Zivilisten
bestialisch ermordeten. Sympathisiert Ihr neuerdings mit den Methoden der
Faschisten????

An der Rhetorik erkennt man, bei wem die Sympathien liegen: George Galloway
bei seinem Besuch bei Saddam Hussein: "Sir, I salute your courage, your
strength, your indefatigability."..... Und: The state of Kuwait is "clearly
a part of the greater Iraqi whole, stolen from the motherland by perfidious
Albion." (Zitate aus
http://www.frontpagemag.com/Articles/ReadArticle.asp?ID=18165

Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, wie
offensichtlich die Heuchelei ist. Einerseits stehen Unterzeichner auf der
Seite der Palaestinenser und manche von ihnen rechtfertigen sogar deren
Attentate (Saddam Hussein hat, nebenbei bemerkt, den Terror von
Palaestinensergruppen mitfinanziert), andererseits wirft man aber den Kurden
und speziell dem irakischen Staatsoberhaupt Jalal Talabani Graeueltaten vor.
Was fuer eine unglaubliche Verdrehung der Wahrheit. Eben jener Talabani
erlitt Entsetzliches unter Saddam Hussein. Fuer seinen Einsatz fuer die
Rechte der Kurden im Irak wurden viele seiner Verwandten ermordet. Da kann
man nur noch sagen: Bitte schaut doch endlich einmal in ein
Geschichtsbuch!!!! Was die Kurden alles erdulden mussten und warum sie gegen
Saddam gekaempft haben!!!

Which Side Are You On?

*Thomas Herzel*

***

> Die falsche Frage

Zu Obigem

Lieber Thomas, du bist alt genug, um diesen Spruch noch zu kennen: "Geh doch
rueber!" Das war der Spruch, mit dem man im Westen unter anderem NATO-Gegner
bedachte, weil sie sich nur gegen die Nuklearwaffen der westlichen Allianz
wandten. Da konnten sie hundertmal beteuern, dass sie sich auch vor den
Raketen und Bomben der Sowjetunion fuerchteten -- es nutzte nichts: Sie
blieben als Sympathisanten des sowjetischen Regimes verschrien. Nur: Es
haette keinen Sinn gehabt, im Westen gegen Ostblock-Waffen zu protestieren.
Niemand bei den westlichen Regierungen haette jemals diese Waffen
gutgeheissen. Soll man mit einem Anliegen an eine Regierung appellieren, die
sowieso der selben Meinung wie man selbst? Kaum, denn das waere ja
widersinnig. Protest kann man immer nur formulieren gegen eine Machtgruppe,
von der man die Hoffnung hatte, man koennte sie beeinflussen, oder gegen
einen gesellschaftlichen Konsens, den man hofft, aufbrechen zu koennen.

In Oesterreich daher gegen jene Banden im Irak zu protestieren, die
friedfertige Menschen kidnappen und oft genug auch toeten -- was haette das
fuer einen Sinn? Wen wollte man damit beeindrucken? Es gaebe ja nicht einmal
eine diplomatische Vertretung, zu der man hinpilgern koennte -- und wenn es
eine solche gaebe, wuerde man damit sagen, man waere gegen diese Aktionen?
Ja, aber man wuerde das sagen in einem Staat, der auch dagegen ist; getragen
von einem gesamtgesellschaftlichen Konsens, der ebenfalls empoert darueber
ist. Wen wollte man damit beeinflussen? Ein Protest kann eben immer nur
etwas bewegen, wenn er aus der Mitte einer Gesellschaft kommt, deren
Fuehrung oder sie selbst gegenteiliger Ansicht sind.

Denn die Verbrechen der Besatzungsmacht im Irak und auch der neuen dortigen
Regierung werden von den EU-Regierungen oeffentlich und diplomatisch teils
heruntergespielt, teils ignoriert und teils sogar unterstuetzt. Eine Form
der Unterstuetzung ist es, ein Opfer dieser Verbrechen aus klar politischen
Motiven nicht einreisen zu lassen. In solchen Faellen macht es daher Sinn,
zu protestieren, denn Regierungen sind nunmal von einem gesellschaftlichen
Konsens abhaengig. Wird dieser zerstoert, besteht bei Regierungen
Handlungsbedarf. Selbst wenn man sie nicht zum Handeln zwingen kann, so kann
man sie -- mit Ulrike Meinhoff gesagt -- dazu zwingen, umso unverschaemter
zu luegen. Was auch schon ein Erfolg sein kann.

Denn warum sind einige der Folterer von Abu Ghraib verurteilt worden? Weil
eine oeffentliche Debatte einen nationalen Konsens zerstoert hat -- oder
glaubst du, es haette gereicht, wenn nur eine US-amerikanische
Anklagebehoerde davon Kenntnis erlangt haette?

Oftmals ist es nicht die Frage, auf welcher Seite man steht -- und zwar vor
allem dann, wenn in der oeffentlichen Debatte eine wackelige
Konfrontationskonstellation konstruiert wird. Ich stelle mich nicht auf die
Seite irgendwelcher Militaers und Folterer. Dennoch heisst deine Frage
genauso wie die vom oeffentlichen Konsens getragene Frage: "Scylla oder
Charybdis? Auf welcher Seite stehst du?" Tut mir leid, aber auf solche
Fragen verweigere ich die Antwort
*Bernhard Redl*



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