Frau Ágnes Horváth ist jung, freundlich und engagiert. Doch nicht nur
in der politischen Opposition halten viele die Liberale für eine
Fehlbesetzung. "Intellektuell und organisatorisch überfordert",
ist noch einer der freundlicheren Kommentare über die 33jährige neue
Gesundheitsministerin. Die bisherige Staatssekretärin mußte im April
den Parteikollegen Lajos Molnár ersetzen, dem es gelungen war, sich in
wenigen Wochen zum Buhmann der Nation zu machen. Er war die längst
überfällige Gesundheitsreform so forsch angegangen, daß er binnen
kürzester Zeit nicht nur die Medizinergremien und die Patienten,
sondern auch die Apotheker und viele Bürgermeister gegen sich
aufbrachte. Kurz vor Ostern warf Molnár genervt das Handtuch.
Molnár, der der kleinen liberalen Partei SZDSZ angehört, hatte sich vorgenommen, wovor seine Vorgänger zurückgeschreckt waren: das marode, defizitäre und überforderte ungarische Gesundheitssystem zu sanieren. Ein Himmelfahrtskommando selbst für begabtere Politiker.
Neben den auch in anderen Ländern bekannten Problemen der steigenden Kosten für die immer bessere Medizin und der zunehmenden Zahl alter Menschen, plagen Ungarn einige Besonderheiten, die ein längeres Zögern nicht erlaubt hätten. Schon bald nach dem Systemwechsel, im Jahre 1993, wurde die unterste Stufe der gesundheitlichen Versorgung privatisiert. Die praktischen Ärztinnen und Ärzte, bis dahin Angestellte der Kommunalverwaltungen, durften fortan als Selbständige arbeiten. Die staatsfinanzierte Gesundheitsversorgung wurde auf ein Kassensystem umgestellt. Bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Pensionisten, Studierende und Obdachlose zahlen aber keine Beiträge. Dazu kommt, daß viele Betriebe ihre Angestellten zum Mindestlohn anmelden, um die geringsten Beiträge an die Kassa abführen zu müssen. Die wirklichen Gehälter werden dann schwarz ausgezahlt. Also müssen etwa zwei Millionen volle Beitragszahler mehr als zehn Millionen Versicherte erhalten.
In der benachbarten Slowakei hatte man keine Bedenken, der an sozialistische Wohlfahrt gewöhnten Bevölkerung die neoliberalen Rezepte ungebremst aufzudrücken. +Aber Ungarn ist ein sozialdemokratische Land. Wir sind verteilungsorientiert, staatsgebunden und versuchen Reformen in milderer Form zu verabreichen+, meint der Soziologieprofessor Tamás Pál. Roßkuren aus dem Rezeptbuch des Weltwährungsfonds würde sich die Wählerschaft nicht gefallen lassen.
Tamás Pál Foto: R. Leonhard
Doch die Strukturprobleme im ungarischen Gesundheitswesen wären durch sanfte Methoden schwer zu beseitigen. Schon während des Sozialismus hatte sich eine Art Zweiklassenmedizin eingenistet: wer auf bestimmte Behandlungen Wert legte oder von bestimmten Chirurgen operiert werden wollte, zahlte aus der eigenen Tasche dazu. <Ärzte, die eigentlich genug für einen Trabi verdienten, fuhren Mercedes>, erinnert sich Tamás Pál. Auch heute noch ist es üblich, dass Mediziner im öffentlichen Spital fette Trinkgelder einstecken. Und die Menschen sind bereit, diese Selbstkosten zu tragen. Dagegen rührte sich allgemeiner Widerstand gegen die Einführung einer eher symbolischen Visitengebühr von 300 Forint – wenig mehr als ein Euro. Sie ist eines der Kernstücke der Gesundheitsreform.
Das zweite Kernstück ist die Reduzierung der überschüssigen und teuren Spitalsbetten. 12.000 von insgesamt 50.000 Betten wurden eingespart, drei Kliniken geschlossen, 9000 Ärzte aus dem Staatsdienst entlassen. +Spitalsbetten einsparen fördert nicht die öffentliche Gesundheit+, kritisiert Péter Makara, stellvertretender Direktor des Ungarischen Instituts für Gesundheitsforschung. Er vermißt Akzente bei der öffentlichen Gesundheit, also der Vorbeugung. Die Ungarn leben ungesund und ernähren sich falsch. Eine jüngst veröffentlichte Studie konstatiert einen Anstieg des Anteils der Fettleibigen von 1994 bis zum Jahr 2000 von 13,4 auf 18,4% (Frauen) und noch drastischer von 13,2 auf 20,4% bei Männern. Die dadurch verursachten Kosten für das Gesundheitssystem sollen sich von elf Mrd. Forint 1998 bis zum vergangenen Jahr vervierfacht haben. Zum fetten Essen sei die Bewegungsarmut durch stundenlanges Sitzen vor dem Computer gekommen, meint László Halmy von der Ungarischen Gesellschaft für Fettleibigkeitsstudien.
Péter Makara Foto: R. Leonhard
1967, so Péter Makara, hätten die Menschen in Ungarn die gleiche Lebenserwartung gehabt, wie die in Japan und Österreich. Bis 1996 sei sie in Japan um acht Jahre und in Österreich immerhin um sechs bis sieben Jahre gestiegen, in Ungarn sei sie um ein Jahr gesunken. Seit diesem Tiefpunkt geht es zwar leicht bergauf, doch liegt Ungarn noch immer rund sechs Jahre unter dem EU-Durchschnitt.
Der plötzliche Übergang vom Sozialismus zur Marktwirtschaft wirkte sich nicht nur auf die Lebenserwartung der Ungarn negativ aus. Auch der Medikamentenmarkt erlebte dramatische Umwälzungen. Die heimische Pharma-Industrie hatte die Apotheken und Krankenhäuser mit qualitativ hochwertigen und billigen Arzneien versorgt. Unter dem Weltmarktregime wurden plötzlich für viele Produkte Lizenzen fällig. Gleichzeitig drängten die Pharma-Multis auf den Markt und verstanden es, sich die Ärzte durch großzügige Geschenke und gesponserte Kongreßreisen zu Freunden zu machen. Die verschrieben darauf statt der günstigen Generika die teuren Markenprodukte und ließen das Defizit der Landeskrankenkassen in die Höhe schnellen.
Die Reform von Minister Molnár verprellte Ärzte, Patienten und Apotheker gleichzeitig. Medizinern wurde vorgeschrieben, immer die billigsten Produkte zu verschreiben. Das führte nicht nur bei Ärzten zu Unmut. Vor allem chronisch Kranke sahen sich plötzlich ungewohnten Produkten ausgesetzt, deren unterschiedliche Dosierung und Wirkungsweise in vielen Fällen zu gefährlichen Beschwerden führte. Die Apothekerzunft wurde zusätzlich durch die Neuerung empört, daß rezeptfreie Medikamente jetzt auch in Supermärkten und sogar Tankstellen-Shops verkauft werden dürfen.
In der MSZP von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány rühren sich immer mehr Stimmen für eine Reform der Reform, die man dem Juniorpartner, der liberalen SZDSZ, überlassen hatte. Lajos Molnár hatte jeden Dialog verweigert. Seine Nachfolgerin Ágnes Horváth stellt sich zumindest der Presse. |