Samstag, 24. Januar 2009
 
Nordirland: Armut und Unterdrückung bleiben PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Dieter Reinprecht-Hinsch, grafraktion.net.tf   
Freitag, 3. August 2007

Am 31. Juli 2007 um 24 Uhr endete nach fast vier Jahrzehnten endlich die britischen Besatzung Nordirlands – so zumindest die Meinung der bürgerlichen Medien.

„Davon haben wir früher nicht mal zu träumen gewagt“, meint der Unternehmer Fearghal O’Connor über den Abzug des Großteil der britischen Armee. Er fasst die Reaktion seiner Klasse zusammen – dem nordirischen Bürgertum. Dieses hofft nun auf endgültigen Frieden, damit ihre Unternehmen – O’Connor organisiert Partys in Belfast – expandieren können. Für den Großteil der nordirischen Bevölkerung, der ArbeiterInnenklasse und der NationalistInnen, gibt es in diesen Tagen aber wenig zu feiern.

Der Beginn der Besatzung

In den 1960er Jahren entstand in Nordirland eine Bürgerrechtsbewegung nach US-amerikanischem Vorbild. 1967 wurde die Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) gegründet. Sie betrieb außerparlamentarische Opposition mittels gewaltfreiem Widerstand.

Die Bürgerrechtsbewegung führte mehrere Protestmärsche in Nordirland durch. Durch Gegenproteste des protestantischen Orange Order und anderen Loyalisten (LoyalistInnen nennen sich in Irland jene Kräfte, die „loyal“ zur britischen Krone, also zur Unterordnung der irischen unter die Interessen des britischen Imperialismus, sind.) und Verboten durch die Royal Ulster Constabulary (RUC), der britischen Polizei in Nordirland, radikalisierte sich die Bewegung rasch. Unter der Führung von Bernadette Devlin und Michael Farrell entstand ein starker sozialistischer Flügel namens People’s Democracy.

Am 12. August 1969 wurden bei einem derartigen Marsch der Bürgerrechtsbewegung in der Stadt Derry achtzig DemonstrantInnen nieder geprügelt. Dies war der Auslöser für die dreitägigen Unruhen im katholischen Stadtteil Bogside, der Battle of the Bogside.

Derry war oft das Zentrum des katholischen und republikanischen Widerstandes. In dieser Stadt waren nämlich zwei Drittel der Bevölkerung katholisch, die undemokratische Wahlkreiseinteilung führte aber zu einem protestantischen Bürgermeister.

Es entwickelten sich Barrikadenkämpfe, die zur Entstehung von sich selbst verwaltende Zonen der katholischen ArbeiterInnenklasse (Free Derry) führten. Die Kämpfe weiteten sich rasch, vor allem in die Belfaster ArbeiterInnenbezirke, aus. Am 14. August 1969 wurde schließlich die britische Armee in die „Unruhegebiete“ entsendet. Bald sollten aber alle sechs Grafschaften zu „Unruhegebieten“ erklärt werden.

Dies sollte der Beginn des längsten nationalen Befreiungskrieges nach 1945 und der längsten britischen Besatzung nach Ende des 2. Weltkrieges werden. Am 6. Februar 1971 erschoss die Provisional IRA den ersten britischen Soldaten.

Es war eine Besatzung des britischen Imperialismus, die die „Agenda des ‚schmutzigen Kriegs’ für die Aufstandsbekämpfung, inklusive der Politik der geheimen Absprachen (mit LoyalistInnen, Anm.d.A.) und Bewaffnung und Unterstützung für loyalistische Paramilitärs, Folter von Bürgern und die weit reichende Unterdrückung der nationalistischen Bevölkerung mit sich brachte“, wie es der Sinn Féin-Parlamentsabgeordnete für Newry Armagh, Conor Murphy, ausdrückt. Zusätzlich wurde aber auch vor allem Land katholischen BesitzerInnen gestohlen und die Bevölkerung in Ghettos getrieben.

Das Ende der formellen Besatzung

Die britische Regierung beendet nun nach 38 Jahren ihren längsten Einsatz, die Operation Banner. Ein Einsatz, zu dessen Hochphase 30.000 Soldaten in 106 Einrichtungen in Nordirland stationiert waren.

Das Ende der Operation kommt einem etwas zu spät (Tony Blair), einem anderen aber gerade recht (Gordon Brown). Brown kann sich nun als Friedensengel deklarieren und als ein Mann, der eine Partei führt, die ihre Versprechen hält. Der Abzug wurde jedoch bereits mit der Wahl des nordirischen Parlaments und der Formierung des Stormont im Frühjahr diesen Jahres eingeleitet.

In der Gunst der britischen WählerInnen wird Brown nun punkten können. Etwas, was er notwendig hat, denn erst vor wenigen Tagen bekräftigte er bei einem Besuch in den USA das, in der Bevölkerung unbeliebte, imperialistische Bündnis mit Bush im Irak und in Afghanistan. Und auch nach den Wahlniederlagen gegen die Nationalisten in Schottland und Wales hat Labour jede gewonnene Unterstützung notwendiger denn je.

Was hat sich geändert?

Ist aber nun tatsächlich endgültig Frieden in dem von Britannien annektierten Gebiet im Norden der irischen Insel eingekehrt, fragen sich BeobachterInnen. Wer hinter das mediengeile Grinsen der irischen, nordirischen und englischen MinisterInnen blickt, kann die Antwort leicht erkennen.

An der Situation hat sich durch die Formierung des Stormont und dem formellen Abzug der britischen Armee wenig geändert. Die katholische ArbeiterInnenklasse wird nach wie vor von der Bourgeoisie unterdrückt. Sie hat noch viel stärker unter der Ausbeutung zu leiden, als das protestantische Proletariat, denn zu der ökonomischen Diskriminierung kommen auch sektiererische Übergriffe dazu. So verwundert es wenig, dass vor allem sie von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Im öffentlichen Dienst sind KatholikInnen und NationalistInnen klar unterrepräsentiert. Dies, obwohl sich das Verhältnis zwischen ProtestantInnen und KatholikInnen in den letzten Jahrzehnten nahezu ausgeglichen hat.

Von einer katholischen Minderheit kann heute nämlich nicht mehr so einfach gesprochen werden, denn die letzte Volkszählung ergab zur Überraschung der Briten und LoyalistInnen, dass es in den sechs Provinzen nur noch 53% ProtestantInnen, dafür aber 44% KatholikInnen gibt. Der Trend geht klar dahin, dass der Anteil der ProtestantInnen weiter sinken wird.

Das britische Nachfolger-Puzzle

Das größte Problem stellt aber der pro-britische Sicherheitsapparat dar. Das Police Service of Northern Ireland (PSNI), Nachfolgeorganisation der berüchtigten Royal Ulster Constabulary (RUC), hat bis heute keine 20% KatholikInnen in seinen Reihen, es wird aber gehofft, dass es bis 2011 vielleicht 30% werden.

In den katholischen ArbeiterInnenbezirken ist die PSNI überrepräsentiert. Sie hat die Rolle der ehemaligen RUC übernommen und tut alles dafür, auch die der britischen Armee zu übernehmen. Die Polizei habe „die Lektion immer noch nicht ganz begriffen, ihre Gebäude sehen noch immer wie Festungen aus“, schrieb Martin Alioth im Standard am 1. August.

Nichtsdestotrotz sieht die ehemalige Führung des republikanischen Kampfes, die Provisional IRA und ihr politischer Arm Sinn Féin die nordirische Polizei nun nicht mehr als ihr Feind. Dies war die Bedingung aus London, um Wahlen zum Stormont wieder zuzulassen. Als der außerordentlicher Ard Fheis dem Ultimatum aus London zustimmte, titelte die Parteizeitung An Phoblacht, es sei eine „historische Entscheidung“. Innerhalb der Organisation gab es nur geringen Protest, der vor allem aus der Jugendorganisation Ográ Shinn Féin kam. Der ehemalige Führer der PIRA, Gerry Adams erklärte: „Die PSNI muss das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen. Dies kann erreicht werden durch professionelle, nicht-parteiische und bürgernahe Arbeit. Das ist ein öffentlicher Dienst für die Bürger.“ Die Entwicklung der letzten sieben Monate und das pro-britische Verhalten der PSNI zeigten das genaue Gegenteil.

Doch die PSNI sind nur ein Stein im präzise geplanten Nachfolgepuzzle der einstigen Besatzungsmacht, um ihre Position in den sechs besetzten Grafschaften von Ulster nicht zu verlieren. So ziehen keineswegs alle britischen Soldaten aus Nordirland ab, 5.000 Soldaten bleiben in sechs Kasernen stationiert. Offiziell wird aber beteuert, dass sie nicht für Einsätze auf der irischen Insel vorgesehen sind, sondern ausschließlich für den Einsatz im Mittleren Osten – bekanntlich kann sich eine derartige Situation aber rasch ändern.

Das formell neutrale Irland und die besetzten Grafschaften im Norden werden dadurch immer mehr zur Basis des britischen und US-amerikanischen Imperialismus für Einsätze in der Region zwischen Palästina und Pakistan. So ist etwa der Flughafen Shannon einer der wichtigsten Stützpunkte der US-Luftstreitkräfte. Das Irish Republican Information Service (IRIS) berichtete, dass alleine im April diesen Jahres 42 Flüge mit 15.000 US-Soldaten über Shannon gingen. Das waren 5.000 mehr als noch im März 2007 zuvor. In den nächsten Monaten soll die Zahl sogar auf 25.000 Soldaten pro Monat angehoben werden.

Der dritte Stein des Puzzles sind die loyalistischen Paramilitärs. 1993 werden von Gerry Adams und John Hume von der Social Democratic Labour Party (SDLP) Friedensverhandlungen initiiert, die 2005 mit der Auflösung der Waffenbestände der PIRA unter imperialistischer Kontrolle und 2007 mit der Machtteilung mit dem rechtsextremen Ian Paisley ihr vorläufiges Ende finden. Die Auflösung der Waffenbestände der PIRA war die Hauptbedingung des Imperialismus für die Teilung der Macht mit SF. Die PIRA hat sich dadurch völlig aufgeben und sich ihrer Existenzgrundlage entzogen. Die Organisation, die sich gerne als „Schutzmacht“ der nordirischen ArbeiterInnenklasse sah, ist nun nahezu schutzlos gegen die bis auf die Zähne bewaffneten LoyalistInnen. Denn für Paisley und seine sektiererische Gefolgschaft gab es kein Ultimatum, die Waffen abzugeben.

Die Labour-Regierung in London hat auch gar kein Interesse, den Druck auf die LoyalistInnen zu verschärfen. Denn sie sind doch die eigentlichen Bewahrer der britischen Herrschaft nach dem Abzug der Truppen. Die Unterstützung wird in Zukunft noch stärker werden. Einen Vorgeschmack brachte etwa der britische Economist, das Sprachrohr der ältesten Bourgeoisie der Welt, am 28. Juli. „Bringing in the loyalists“, titelte er und erklärte, dass gerade die Loyalisten nun außerhalb des „Konsensus“ stehen würden.

Innerhalb der loyalistischen paramilitärischen Einheit Ulster Defensive Association (UDA) hat sich in den letzten Wochen ein Machtkampf entwickelt. Gegenseitige Beschuldigungen, in den Drogenhandel involviert zu sein und Schussattentate zwischen den LoyalistInnen erreichten Ende Juli ihren Höhepunkt. „Teile der Gesellschaft werden erpresst, Familien aus ihren Häusern vertrieben, ein Polizist erschossen, eine Person erstochen und Waffen, etwa CS-Gas, Armbrüste und Baseballschläger beschlagnahmt, nachdem scheinbar zügellose UDA-Fraktionen Kontrolle über die Wohnanlagen nahmen und die Community erpressten“, schildert die Kolumnistin Mary Nelis.

Die extremistischen Teile der UDA scheinen Auftrieb zu haben, nachdem ihre Führung versuchte, den Weg ihrer ehemaligen Erzfeinde der PIRA zu folgen und bei einer Pressekonferenz „das Ende der Kriminalität in Süd-Ost Antrim“ verkündeten.

Der Ausgang des inner-loyalistischen Kampfes ist noch offen, doch zeigt er die Gefährlichkeit der loyalistischen und faschistischen Paramilitärs für die ArbeiterInnenklasse in Nordirland. So war es auch nicht eine Kugel der angeblichen republikanischen „Terroristen“, die den ersten Polizisten nach der Regierungsbildung im Frühjahr trafen, sondern es war eine der britischen Handlanger im loyalistischen Lager. Am 21. Juli wurde ein PSNI-Mitglied in der Kleinstadt Carrickfergus im Co. Antrim von Kugeln der UDA getroffen.

„Professional, dedicated, highly skilled,…“

Der Abzug des Großteils der britischen Armee aus Nordirland kommt nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung eines internen Dokuments der britischen Armee über die Operation Banner. General Sir Mike Jackson bedauerte darin etwa, dass die Einführung der Internierungen in den 1970er Jahren ein „großer Fehler“ gewesen sei. Außerdem wird erklärt, dass die IRA eine „professionelle, engagierte, hoch qualifizierte und unverwüstliche“ Organisation gewesen sei, die von der britischen Armee nicht besiegt werden konnte.

Manche Kommentatoren meinen nun, es sei eine Flucht der Briten aus Nordirland, der Konflikt sei für immer beendet und Nordirland endlich „frei“. Die traurige Realität sieht anders aus. Armut, sektiererische Unterdrückung, Ausbeutung und vor allem die Frage der nationalen Selbstbestimmung sind nicht gelöst.

Die Provisionals werden sich nun als die Friedensengel Nordirlands feiern lassen und erklären, nur dank ihrer parlamentarischen Politik und den Zugeständnissen in den Friedensverhandlungen der letzten Jahre, wäre der Abzug möglich geworden. Tatsächlich übernehmen nun sie, die ehemaligen PIRA-KämpferInnen, gemeinsam mit den rechtsextremen LoyalistInnen um Ian Paisley, Schritt für Schritt die Aufgaben des britischen Imperialismus. Paisley und Adams trennt heute nichts mehr in der Frage, wie der Kapitalismus in Nordirland verwaltet werden soll. Und so war es vor allem die PIRA-Politik der letzten zwanzig Jahre, die dazu führte, dass der Unterdrücker der großteils katholischen ArbeiterInnenklasse nun ein anderes Gesicht hat, aber nicht verschwunden ist.

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