Am 31. Juli 2007 um 24 Uhr endete nach fast vier Jahrzehnten endlich die britischen Besatzung Nordirlands – so zumindest die Meinung der bürgerlichen Medien.
„Davon haben wir früher nicht mal zu träumen gewagt“,
meint der Unternehmer Fearghal O’Connor über den Abzug des Großteil der
britischen Armee. Er fasst die Reaktion seiner Klasse zusammen – dem
nordirischen Bürgertum. Dieses hofft nun auf endgültigen Frieden, damit ihre
Unternehmen – O’Connor organisiert Partys in Belfast – expandieren können. Für
den Großteil der nordirischen Bevölkerung, der ArbeiterInnenklasse und der
NationalistInnen, gibt es in diesen Tagen aber wenig zu
feiern.
Der Beginn der
Besatzung
In
den 1960er Jahren entstand in Nordirland eine Bürgerrechtsbewegung nach
US-amerikanischem Vorbild. 1967 wurde die Northern Ireland Civil Rights
Association (NICRA) gegründet. Sie betrieb außerparlamentarische Opposition
mittels gewaltfreiem Widerstand.
Die
Bürgerrechtsbewegung führte mehrere Protestmärsche in Nordirland durch. Durch
Gegenproteste des protestantischen Orange Order und anderen Loyalisten
(LoyalistInnen nennen sich in Irland jene Kräfte, die „loyal“ zur britischen
Krone, also zur Unterordnung der irischen unter die Interessen des britischen
Imperialismus, sind.) und Verboten durch die Royal Ulster Constabulary
(RUC), der britischen Polizei in Nordirland, radikalisierte sich die Bewegung
rasch. Unter der Führung von Bernadette Devlin und Michael Farrell entstand ein
starker sozialistischer Flügel namens People’s
Democracy.
Am
12. August 1969 wurden bei einem derartigen Marsch der Bürgerrechtsbewegung in
der Stadt Derry achtzig DemonstrantInnen nieder geprügelt. Dies war der Auslöser
für die dreitägigen Unruhen im katholischen Stadtteil Bogside, der Battle of
the Bogside.
Derry war oft das Zentrum des katholischen und
republikanischen Widerstandes. In dieser Stadt waren nämlich zwei Drittel der
Bevölkerung katholisch, die undemokratische Wahlkreiseinteilung führte aber zu
einem protestantischen Bürgermeister.
Es
entwickelten sich Barrikadenkämpfe, die zur Entstehung von sich selbst
verwaltende Zonen der katholischen ArbeiterInnenklasse (Free Derry)
führten. Die Kämpfe weiteten sich rasch, vor allem in die Belfaster
ArbeiterInnenbezirke, aus. Am 14. August 1969 wurde schließlich die britische
Armee in die „Unruhegebiete“ entsendet. Bald sollten aber alle sechs
Grafschaften zu „Unruhegebieten“ erklärt werden.
Dies sollte der Beginn des längsten nationalen
Befreiungskrieges nach 1945 und der längsten britischen Besatzung nach Ende des
2. Weltkrieges werden. Am 6. Februar 1971 erschoss die Provisional IRA
den ersten britischen Soldaten.
Es
war eine Besatzung des britischen Imperialismus, die die „Agenda des
‚schmutzigen Kriegs’ für die Aufstandsbekämpfung, inklusive der Politik der
geheimen Absprachen (mit LoyalistInnen, Anm.d.A.) und Bewaffnung und
Unterstützung für loyalistische Paramilitärs, Folter von Bürgern und die weit
reichende Unterdrückung der nationalistischen Bevölkerung mit sich brachte“, wie
es der Sinn Féin-Parlamentsabgeordnete für Newry Armagh, Conor Murphy,
ausdrückt. Zusätzlich wurde aber auch vor allem Land katholischen BesitzerInnen
gestohlen und die Bevölkerung in Ghettos getrieben.
Das Ende der formellen
Besatzung
Die
britische Regierung beendet nun nach 38 Jahren ihren längsten Einsatz, die
Operation Banner. Ein Einsatz, zu dessen Hochphase 30.000 Soldaten in
106 Einrichtungen in Nordirland stationiert waren.
Das
Ende der Operation kommt einem etwas zu spät (Tony Blair), einem anderen aber
gerade recht (Gordon Brown). Brown kann sich nun als Friedensengel deklarieren
und als ein Mann, der eine Partei führt, die ihre Versprechen hält. Der Abzug
wurde jedoch bereits mit der Wahl des nordirischen Parlaments und der Formierung
des Stormont im Frühjahr diesen Jahres
eingeleitet.
In
der Gunst der britischen WählerInnen wird Brown nun punkten können. Etwas, was
er notwendig hat, denn erst vor wenigen Tagen bekräftigte er bei einem Besuch in
den USA das, in der Bevölkerung unbeliebte, imperialistische Bündnis mit Bush im
Irak und in Afghanistan. Und auch nach den Wahlniederlagen gegen die
Nationalisten in Schottland und Wales hat Labour jede gewonnene Unterstützung
notwendiger denn je.
Was hat sich geändert?
Ist
aber nun tatsächlich endgültig Frieden in dem von Britannien annektierten Gebiet
im Norden der irischen Insel eingekehrt, fragen sich BeobachterInnen. Wer hinter
das mediengeile Grinsen der irischen, nordirischen und englischen MinisterInnen
blickt, kann die Antwort leicht erkennen.
An
der Situation hat sich durch die Formierung des Stormont und dem formellen Abzug
der britischen Armee wenig geändert. Die katholische ArbeiterInnenklasse wird
nach wie vor von der Bourgeoisie unterdrückt. Sie hat noch viel stärker unter
der Ausbeutung zu leiden, als das protestantische Proletariat, denn zu der
ökonomischen Diskriminierung kommen auch sektiererische Übergriffe dazu. So
verwundert es wenig, dass vor allem sie von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Im
öffentlichen Dienst sind KatholikInnen und NationalistInnen klar
unterrepräsentiert. Dies, obwohl sich das Verhältnis zwischen ProtestantInnen
und KatholikInnen in den letzten Jahrzehnten nahezu ausgeglichen
hat.
Von
einer katholischen Minderheit kann heute nämlich nicht mehr so einfach
gesprochen werden, denn die letzte Volkszählung ergab zur Überraschung der
Briten und LoyalistInnen, dass es in den sechs Provinzen nur noch 53%
ProtestantInnen, dafür aber 44% KatholikInnen gibt. Der Trend geht klar dahin,
dass der Anteil der ProtestantInnen weiter sinken wird.
Das britische
Nachfolger-Puzzle
Das
größte Problem stellt aber der pro-britische Sicherheitsapparat dar. Das
Police Service of Northern Ireland (PSNI), Nachfolgeorganisation der
berüchtigten Royal Ulster Constabulary (RUC), hat bis heute keine 20%
KatholikInnen in seinen Reihen, es wird aber gehofft, dass es bis 2011
vielleicht 30% werden.
In
den katholischen ArbeiterInnenbezirken ist die PSNI überrepräsentiert. Sie hat
die Rolle der ehemaligen RUC übernommen und tut alles dafür, auch die der
britischen Armee zu übernehmen. Die Polizei habe „die Lektion immer noch nicht
ganz begriffen, ihre Gebäude sehen noch immer wie Festungen aus“, schrieb Martin
Alioth im Standard am 1. August.
Nichtsdestotrotz sieht die ehemalige Führung des
republikanischen Kampfes, die Provisional IRA und ihr politischer Arm
Sinn Féin die nordirische Polizei nun nicht mehr als ihr Feind. Dies
war die Bedingung aus London, um Wahlen zum Stormont wieder zuzulassen. Als der
außerordentlicher Ard Fheis dem Ultimatum aus London zustimmte, titelte
die Parteizeitung An Phoblacht, es sei eine „historische Entscheidung“.
Innerhalb der Organisation gab es nur geringen Protest, der vor allem aus der
Jugendorganisation Ográ Shinn Féin kam. Der ehemalige Führer der PIRA,
Gerry Adams erklärte: „Die PSNI muss das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen.
Dies kann erreicht werden durch professionelle, nicht-parteiische und bürgernahe
Arbeit. Das ist ein öffentlicher Dienst für die Bürger.“ Die Entwicklung der
letzten sieben Monate und das pro-britische Verhalten der PSNI zeigten das
genaue Gegenteil.
Doch die PSNI sind nur ein Stein im präzise geplanten
Nachfolgepuzzle der einstigen Besatzungsmacht, um ihre Position in den sechs
besetzten Grafschaften von Ulster nicht zu verlieren. So ziehen keineswegs alle
britischen Soldaten aus Nordirland ab, 5.000 Soldaten bleiben in sechs Kasernen
stationiert. Offiziell wird aber beteuert, dass sie nicht für Einsätze auf der
irischen Insel vorgesehen sind, sondern ausschließlich für den Einsatz im
Mittleren Osten – bekanntlich kann sich eine derartige Situation aber rasch
ändern.
Das
formell neutrale Irland und die besetzten Grafschaften im Norden werden dadurch
immer mehr zur Basis des britischen und US-amerikanischen Imperialismus für
Einsätze in der Region zwischen Palästina und Pakistan. So ist etwa der
Flughafen Shannon einer der wichtigsten Stützpunkte der US-Luftstreitkräfte. Das
Irish Republican Information Service (IRIS) berichtete, dass alleine im
April diesen Jahres 42 Flüge mit 15.000 US-Soldaten über Shannon gingen. Das
waren 5.000 mehr als noch im März 2007 zuvor. In den nächsten Monaten soll die
Zahl sogar auf 25.000 Soldaten pro Monat angehoben werden.
Der
dritte Stein des Puzzles sind die loyalistischen Paramilitärs. 1993 werden von
Gerry Adams und John Hume von der Social Democratic Labour Party (SDLP)
Friedensverhandlungen initiiert, die 2005 mit der Auflösung der Waffenbestände
der PIRA unter imperialistischer Kontrolle und 2007 mit der Machtteilung mit dem
rechtsextremen Ian Paisley ihr vorläufiges Ende finden. Die Auflösung der
Waffenbestände der PIRA war die Hauptbedingung des Imperialismus für die Teilung
der Macht mit SF. Die PIRA hat sich dadurch völlig aufgeben und sich ihrer
Existenzgrundlage entzogen. Die Organisation, die sich gerne als „Schutzmacht“
der nordirischen ArbeiterInnenklasse sah, ist nun nahezu schutzlos gegen die bis
auf die Zähne bewaffneten LoyalistInnen. Denn für Paisley und seine
sektiererische Gefolgschaft gab es kein Ultimatum, die Waffen
abzugeben.
Die
Labour-Regierung in London hat auch gar kein Interesse, den Druck auf die
LoyalistInnen zu verschärfen. Denn sie sind doch die eigentlichen Bewahrer der
britischen Herrschaft nach dem Abzug der Truppen. Die Unterstützung wird in
Zukunft noch stärker werden. Einen Vorgeschmack brachte etwa der britische
Economist, das Sprachrohr der ältesten Bourgeoisie der Welt, am 28.
Juli. „Bringing in the loyalists“, titelte er und erklärte, dass gerade die
Loyalisten nun außerhalb des „Konsensus“ stehen würden.
Innerhalb der loyalistischen paramilitärischen Einheit
Ulster Defensive Association (UDA) hat sich in den letzten Wochen ein
Machtkampf entwickelt. Gegenseitige Beschuldigungen, in den Drogenhandel
involviert zu sein und Schussattentate zwischen den LoyalistInnen erreichten
Ende Juli ihren Höhepunkt. „Teile der Gesellschaft werden erpresst, Familien aus
ihren Häusern vertrieben, ein Polizist erschossen, eine Person erstochen und
Waffen, etwa CS-Gas, Armbrüste und Baseballschläger beschlagnahmt, nachdem
scheinbar zügellose UDA-Fraktionen Kontrolle über die Wohnanlagen nahmen und die
Community erpressten“, schildert die Kolumnistin Mary
Nelis.
Die
extremistischen Teile der UDA scheinen Auftrieb zu haben, nachdem ihre Führung
versuchte, den Weg ihrer ehemaligen Erzfeinde der PIRA zu folgen und bei einer
Pressekonferenz „das Ende der Kriminalität in Süd-Ost Antrim“
verkündeten.
Der
Ausgang des inner-loyalistischen Kampfes ist noch offen, doch zeigt er die
Gefährlichkeit der loyalistischen und faschistischen Paramilitärs für die
ArbeiterInnenklasse in Nordirland. So war es auch nicht eine Kugel der
angeblichen republikanischen „Terroristen“, die den ersten Polizisten nach der
Regierungsbildung im Frühjahr trafen, sondern es war eine der britischen
Handlanger im loyalistischen Lager. Am 21. Juli wurde ein PSNI-Mitglied in der
Kleinstadt Carrickfergus im Co. Antrim von Kugeln der UDA
getroffen.
„Professional, dedicated, highly
skilled,…“
Der
Abzug des Großteils der britischen Armee aus Nordirland kommt nur wenige Wochen
nach der Veröffentlichung eines internen Dokuments der britischen Armee über die
Operation Banner. General Sir Mike Jackson bedauerte darin etwa, dass
die Einführung der Internierungen in den 1970er Jahren ein „großer Fehler“
gewesen sei. Außerdem wird erklärt, dass die IRA eine „professionelle,
engagierte, hoch qualifizierte und unverwüstliche“ Organisation gewesen sei, die
von der britischen Armee nicht besiegt werden konnte.
Manche Kommentatoren meinen nun, es sei eine Flucht der
Briten aus Nordirland, der Konflikt sei für immer beendet und Nordirland endlich
„frei“. Die traurige Realität sieht anders aus. Armut, sektiererische
Unterdrückung, Ausbeutung und vor allem die Frage der nationalen
Selbstbestimmung sind nicht gelöst.
Die
Provisionals werden sich nun als die Friedensengel Nordirlands feiern
lassen und erklären, nur dank ihrer parlamentarischen Politik und den
Zugeständnissen in den Friedensverhandlungen der letzten Jahre, wäre der Abzug
möglich geworden. Tatsächlich übernehmen nun sie, die ehemaligen
PIRA-KämpferInnen, gemeinsam mit den rechtsextremen LoyalistInnen um Ian
Paisley, Schritt für Schritt die Aufgaben des britischen Imperialismus. Paisley
und Adams trennt heute nichts mehr in der Frage, wie der Kapitalismus in
Nordirland verwaltet werden soll. Und so war es vor allem die PIRA-Politik der
letzten zwanzig Jahre, die dazu führte, dass der Unterdrücker der großteils
katholischen ArbeiterInnenklasse nun ein anderes Gesicht hat, aber nicht
verschwunden ist.
|