Letzte Woche war Bischof Raúl Vera aus Mexiko zu Besuch in Wien. Er
gilt als einer der letzten Exponenten der Befreiungstheologie. Für ihn
ist das keine ideologische Frage, sondern die natürliche Antwort auf
die sozialen Verhältnisse. Er setzt sich für illegale Migranten ebenso ein, wie für vergewaltigte Prostituierte oder die Opfer eines Minenunglücks. Fotos: RalfLeonhard
Raúl Vera wurde 1945 in Mexiko geboren und studierte Chemie an der UNAM (Autonomen Universität von Mexiko), bevor er 1968 in den Dominikanerorden eintrat. 1987 wurde er zum Bischof von Altamirano, Bundesstaat Guerrero, bestellt, 1995 zum Koadjutor von Samuel, Ruiz, Bischof von San Cristóbal de las Casas, Chiapas. Er galt als Mann der konservativen Kurie, der die Diözese nach dem volksnahen Ruiz „umdrehen“ sollte. Zum allgemeinen Erstaunen setzte er die Linie seines Vorgängers fort und wurde 1999 nach Saltillo, am anderen Ende des Landes, transferiert.
Sie kamen im Jahr 2000 von Chiapas im äußersten Süden Mexikos, nach Saltillo, im Nordosten. Das sind zwei ziemlich unterschiedliche Welten.
Ja, aber die Ursachen, die den sozialen Problemen zugrunde liegen, sind die gleichen. Die Probleme haben einfach andere Erscheinungsformen.
Zum Beispiel die Auswanderung in die USA.
In Saltillo finden wir sowohl mexikanische als auch zentralamerikanische Auswanderer. Die Zentralamerikaner sind noch schlimmer dran, weil sie keine Papiere haben. Die Mexikaner reisen mit dem Bus, die Zentralamerikaner bevorzugen menschenleere Gegenden, wo sie oft überfallen und ausgeraubt werden. Sie reisen mit dem Güterzug. Passagierzüge gibt es in Mexiko keine mehr. In den Zügen werden sie Opfer der privaten Sicherheitsleute, die sich gegenüber den Emigranten wie Paramilitärs verhalten. Sie werfen sie aus fahrenden Zügen, dabei kommen viele unter die Räder und werden verstümmelt oder getötet. Vor kurzem wurden drei zentralamerikanische Migranten, die unter einem Baum saßen, ermordet, einfach niedergeschossen. Dieser Sicherheitsdienst erledigt die Drecksarbeit der US-Grenzpolizei.
Aus welchen Ländern kommen diese illegalen Migranten?
Vor allem aus Honduras, wo die Verheerungen von Hurrikan Mitch (im Jahre 1997) noch immer nicht beseitigt wurden. In geringem Ausmaß kommen auch Menschen aus El Salvador, Nicaragua oder Guatemala. Im Nordwesten, an der Grenze zu Kalifornien und Arizona ist das vielleicht anders. Jede Woche betreuen wir um die 300 Menschen in unserem Haus der Migranten. Letztes Jahr waren es insgesamt 9000.
Die Diözese hat aber noch andere soziale Einrichtungen.
Es gibt ein Menschenrechtsbüro und außerdem eine Menschenrechtsstelle, die dem Haus der Migranten angeschlossen ist. Wir versuchen außerdem, eine andere Kultur gegenüber den Fremden, einen menschlicheren Umgang der Gesellschaft mit den Migranten zu fördern. Das geht einerseits über den Dialog mit der Gesellschaft, andererseits über den Dialog mit den Behörden. Sie sollen die Migranten nicht als Verbrecher sehen, sondern als Produkt eines Systems. Wir versuchen auch die Gesetzgebung zu beeinflussen. Bis vor kurzem galten in Mexiko illegale Einwanderer als Kriminelle, die man einsperren und bestrafen durfte. Das wurde jetzt durch unsere Lobbyarbeit geändert. Wenn jemand keine Papiere hat, ist das nur mehr ein Verwaltungsvergehen. Die Leute können abgeschoben aber nicht mehr eingesperrt werden. Auch Menschen, die Illegalen halfen, wurden kriminalisiert. Eine Frau saß drei Jahre im Gefängnis. Das ist jetzt nicht mehr so.
Sie haben sich auch für vergewaltigte Prostituierte eingesetzt.
Am 11. Juli 2006 haben uniformierte und bewaffnete Soldaten in der Bar El Pérsico mindestens 14 Frauen vergewaltigt. Vorher haben sie die Polizisten, die dort aufpassten, entwaffnet und das Lokal abgesperrt. Sie erfüllten neben der Vergewaltigung mehrere Straftatbestände: nämlich Freiheitsberaubung und Störung der öffentlichen Ordnung. Außerdem verlor eine der Frauen durch die Misshandlung ihr Baby.
Von den rund 20 beteiligten Militärs wurden zwölf von den Opfern eindeutig identifiziert. Nur neun landeten letzten Endes vor Gericht und nur drei wurden zu hohen Strafen – zwischen 20 und 35 Jahren – verurteilt.
Ich habe das Urteil kritisiert und wurde deswegen vom Richter beim Vatikan denunziert. Er hat bei der Römischen Kurie eine Klage wegen Amtsmissbrauchs und Rufschädigung gegen mich eingebracht.
Die Justiz ist ja in anderen Fällen viel weniger zimperlich.
Wenn es darum geht, den neuen sozialen Akteur, nämlich Basisorganisationen, zu verfolgen, agieren Polizei und Justiz schnell. So geschehen in San Salvador Atenco, wo sich die Bauern schon vor ein paar Jahren gegen ein Flughafenprojekt organisiert haben. Dort protestierten lokale Blumenzüchter gegen das Verbot, ihre Ware auf dem Markt zu verkaufen. Der Bürgermeister hatte ihnen ohne sachliche Begründung die Erlaubnis verweigert. Es kam dann zu einem Protest vor dem Markt, dem sich auch die Bauern anschlossen, die für den Flughafen enteignet werden sollten. Die hatten Erfahrung mit Demonstrationen und sperrten die Straße ab. Daraufhin schritt die Polizei mit aller Brutalität ein. Mehrere Frauen wurden dabei vergewaltigt, Dutzende wurden illegal festgenommen. Das hat die offizielle staatliche Menschenrechtskommission alles dokumentiert. Kein Polizist wurde für die Gewaltexzesse belangt aber einige der Anführer der Protestbewegung wurden zu 67 Jahren Gefängnis verurteilt. Man stelle sich die Verhältnismäßigkeit vor: der Drogenboss Chapo Guzmán, der mehrere Morde auf dem Gewissen hat, bekam nur elf Jahre.
Soziale Proteste sind ja in Mexiko an der Tagesordnung. Letztes Jahr gab es große Demonstrationen gegen die Erhöhung der Tortillapreise. Ist das eine Folge des Freihandelsvertrags NAFTA?
Die Preissteigerungen und die Unterversorgung mit Grundnahrungsmitteln hat natürlich mit dem Freihandel zu tun. Das Land ist voll mit ausländischen oder auch mexikanischen Supermarktketten. Im vergangenen Januar trat jener Teil des NAFTA in Kraft, der auch den unbeschränkten Import von Grundnahrungsmitteln erlaubt. Wirtschaftswissenschaftler bestätigen, dass der NAFTA ein Vertrag ist, dem wesentliche Teile fehlen. Es gibt darin kein Abkommen über Menschenrechte, Arbeitsrechte oder Ökologie. Die illegale Migration in die USA kann nur wirksam bekämpft werden, wenn in Mexiko Arbeitsplätze geschaffen und gerechte Löhne bezahlt werden. Heute wird nicht mehr produziert. Das Geld wird durch Spekulationsgeschäfte vermehrt. Wir leben in einer Spekulationsgesellschaft, in der keine Werkbänke mehr benötigt werden. Die Leute haben keine Arbeit. Logisch, dass sie auswandern.
Präsident Vicente Fox (2000-2006) setzte eine Kommission ein, die die Armut im Lande erheben sollte. In ihrer Studie stellte sie fest, dass 54 Prozent der Bevölkerung nicht regelmäßig essen. Wenn man auch Wohnung, Kleidung und andere Faktoren einbezieht, dann haben 73 der mexikanischen Bevölkerung kein würdiges Leben. Der Zugang zu einem Leben in Würde ist aber ein Menschenrecht.
Die Verteidiger des Freihandels weisen darauf hin, daß in den entwickelten Ländern nur zwei Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten. Da müssen aus Bauern eben Arbeiter oder Dienstleister werden.
Seit dem Konsens von Washington hat man uns schon sehr viel erzählt. Die Marktideologen glauben, dass die Regeln des Marktes genügen, um eine Gesellschaft ins Lot zu bringen. Das ist eine absurde Behauptung, die die Katholische Kirche immer kritisiert hat, denn es lässt die menschliche Dimension unberücksichtigt. Man kann den Menschen nicht auf seinen kommerziellen Wert reduzieren. Schauen Sie, bei uns in Saltillo wurde die Wasserversorgung an ein spanisches Unternehmen verkauft. Seither haben sich die Tarife vervierfacht. Das soll noch jemand sagen, dass Deregulierung allen nützt.
Sie werden manchmal mit dem salvadorianischen Erzbischof Oscar Arnulfo Romero verglichen, der ursprünglich sehr konservativ war und dann im Kontakt mit der Wirklichkeit seines Landes die Option für die Armen entdeckte.
Das ist ein Vergleich, den ich nicht verdiene. Ich versuche natürlich, seinem Beispiel zu folgen. Bevor ich dem Orden der Dominikaner beitrat, war ich Chemieingenieur. Auf der theologischen Fakultät der Universität Bologna wurde ich dann in der Tradition des Thomas von Aquin ausgebildet. Dank der Dominikaner habe ich dann die sozialen Probleme entdeckt. Es war die Zeit der Enzyklika „populorum progressio“ und der Bischofskonferenz von Medellín. Als ich 1995 nach Chiapas kam, waren diese Anlagen bei mir also schon vorhanden aber durch die neuen Erfahrungen wurden sie wachgerufen.
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