Bernhard Leupolt: Staat und Gemeinwesen. Das partizipative Budget in Rio Grande do Sul und Porto Alegre. Investigaciones. Forschungen zu Lateinamerika Band 8, LIT Verlag Wien und Berlin 2006. 202 Seiten. Herausgegeben von Stefan Bollinger
1989 schlug in Porto Alegre die Geburtstunde des "Partizipativen Budgets". Sein Kerngedanke : "Durch die Teilhabe der BürgerInnen an der staatlichen Budgeterstellung wurde ein gegen-hegemonialer Demokratisierungsprozeß in Gang gesetzt, der als Basis nicht internationale und nationale Kapitalinteressen, sondern die der lokalen Bevölkerung hat" (S.9).
Berhard Leupolt schildert in beeindruckender Weise - empirisch reich, theoretisch fundiert und leicht lesbar - Genesis, Entwicklung , Probleme und Grenzen des Partizipativen Budgets .
"In Brasilien formierten sich im Demokratisierungsprozeß- nach lang andauernder Militärdiktatur ( 1964-1985 ) - zahlreiche soziale Bewegungen. Im Widerstand gegen Totalitarismus, Klientilismus, und Populismus kämpften sie ... für demokratische Rechte ( S.61). In Porto Alegre kann "die teilhabende Zivilgesellschaft die Verteilungskriterien demokratisch mitgestalten, da sie nicht durch bürokratische oder betriebswirtschaftliche Grundsätze vorgegeben sind "(S.70). Dabei entscheidet sie sich - wie es der ehemalige Oberbürgermeister Raul Pont treffend formuliert - "nicht für pharoanische Bauten, wie Viadukte, sondern ausgehend davon, was sie konkret lebt und was ihr begegnet " (S.71).
Außer der materiellen Besserstellung entwickelte sich eine "republikanische Schule der Demokratie" (S.73 ff.). Zu Recht hält Leupolt kritisch fest, daß trotz dieser positiven Veränderungen... noch nicht von einer neuen Hegemonie gesprochen werden kann" (S.75 ). Porto Alegre kann keine "Oase in der neoliberalen Wüste " darstellen ( S.83). "Das PB (Partizipative Budget-H.D.) wird in Porto Alegre von allen Medien seit 16 Jahren ignoriert, es wird nicht zu Versammlungen eingeladen und nichts berichtet, wiewohl die Mitbestimmung der Bevölkerung das weltweit anerkannte Markenzeichen der Regierung ist. Die Großunternehmen finanzieren regelmäßig und großzügig die KokurrentInnen der Arbeiterpartei, was ein wichtiger Einflußfaktor für die verlorene Wahl 2004 und den Regierungswechsel 2005 war" (S.89 ). Die jetzige von Jose Fogaca geführte liberale Regierung führt zwar "nach dem Wahlversprechen "was gut ist, bleibt" das Partzipative Budget weiter, jedoch halten sie die Partizipation auf einem Minimalniveau" (S.91).
"Reform ist das Mittel, Revolution das Ziel" (Rosa Luxemburg )
Zu guter Letzt noch eine solidarische(!) Kritik. So richtig es ist, sich scharf vom absolut fruchtlosen "revolutionären Attentismus", also dem Warten auf eine magiche Stunde Null , wo dann "losgeschlagen" wird , abzugrenzen und demgegenüber jede, auch die kleinste Möglichkeit für die Verbesserung der materiellen, geistigen und politischen Kampfbedingungen breiter Massen (und nicht nur der ArbeiterInnenklasse) zu nutzen, so fehlführend ist es den "Staat als Gemeinwesen" zu stilisieren. Auch wenn der Staat öffentlich sinnvolle Aufgaben übernimmt , ändert dies nichts an seinem "Klassen- und Unterdrückungscharakter ". Auf der bürgerlich-demokratischen, parlamentarischen Ebene zu agieren (durchaus nicht nur - wie oben breit ausgeführt - denunziatorisch!), ist eine Sache. Den Staat in illusionärer Manier "transformieren", "gesellschaftlich aneignen" (S.51ff.) zu wollen, etwas gänzlich anderes.
Ein - ideologischer - Grund für letztere Sichtweise ist eine (reformistisch geglättete) Interpretation Antonio Gramscis bzw. eine Verkürzung der theoerischen und politischen Positionen Lenins. Aus der Fülle der Literatur erwähne ich - zwecks Stimulierung(!) und nicht Einsargung der Debatte - nur zwei relativ leicht verfügbare Bücher, die den differenziert- revolutionären Charakter der Schriften Gramscis bzw. die durchaus komplexe Sichtweise Lenins beleuchten: Perry Andersons "Klassiker": "Antonio Gramsci - Eine kritische Würdigung"(1) bzw." Lenin. Träumer und Realist"(2).
(1) Perry Anderson - Eine kritische Würdigung. Verlag Olle & Wolter. Berlin 1979. 112 Seiten (2) Stefan Bollinger (Hg.) Lenin. Träumer und Realist. Promedia Verlag Wien. 2006 . 174 Seiten |