"Der Imperialismus kennt die Größe von Fidel Castro nicht. Er wird bis zum letzten Augenblick kämpfen, obwohl dieser noch weit entfernt ist", wurde der kubanische Parlamentspräsident Ricardo Alarcón in den kubanischen Medien zitiert. Entgegen allen Beteuerungen aus dem kubanischen Politbüro lässt sich nicht leugnen, dass Fidel Castro bereits auf seinen letzten Weg aufgebrochen ist.
Die Bilder, die im Abstand weniger Wochen die internationale
Öffentlichkeit erreichen, zeigen einen zügigen substantiellen Abbau,
wie er diesem letzten Lebensabschnitt eigen ist. Allein, wie lange
diese Reise dauert, lässt sich nicht prognostizieren.
Die Bilder des von seiner schweren Darmoperation gezeichneten,
mittlerweile 80jährigen Fidel Castro veranlassen vielerorts einmal mehr
politische Beobachter, ihre spätestens seit 1989 immer wieder aus dem
Ärmel geschüttelten Hypothesen zu überdenken, wie ein Kuba ohne Castro
wohl aussehen könnte. Die Chance, in aller Ruhe an einer Straßenecke
Havannas zu stehen, den Tag, die Menschen beobachtend und das Leben
genießend an sich vorbeiziehen zu lassen, wie er einmal Gabriel García
Márquez seine Pensionswünsche anvertraut haben soll, hat er wohl
vertan. Mit der interimistischen Berufung seines Bruders Raúl Castro an
das politische Steuer Kubas gilt zumindest vorerst auch weiterhin die
Faustregel: Kuba ist Castro und Castro ist Kuba.
Von Raúl ist bekannt, dass er zweifellos ein pragmatischerer Ideologe
als sein Bruder ist, der schon 1953, vor dem Sturm auf die
Moncada-Kaserne, der kommunistischen Jugend beigetreten war und sich im
mexikanischen Exil mit Ernesto Che Guevara Tage und Nächte mit
politischen Diskussionen um die Ohren schlug, während die kubanische
Revolution erst vorbereitet wurde.
Raúl Castro ist neben seinem Bruder Fidel die zweite große Konstante in
der Geschichte Kubas seit 1959. Manch anderem potentiellen Nachfolger,
dem gute Aussichten prophezeit wurden, der hie und da in der
politischen Hierarchie Kubas aufleuchtete, Carlos Aldana, Roberto
Robaina, um nur zwei zu nennen, ist längst wieder von der großen
politischen Bühne abgetreten. Politisches Fehlverhalten, Arroganz,
mangelnde sachliche Kompetenz bis hin zu Selbstbereicherungstendenzen
bereiteten der Karriere mancher aussichtsreicher Kandidaten ein leises
Ende. Ohne Knalleffekt und Skandal, der international ruchbar geworden
wäre, wurden sie ihrer Posten enthoben und durch andere ersetzt. Zu
ehrgeizig schien das große Ziel, das Überleben der kubanischen
Revolution allen Widrigkeiten zum Trotz zu gewährleisten. Schon kurz
nach der Selbstauflösung der früheren Sowjetunion, noch während des
Besuchs Gorbatschows in Kuba, der Fidel Castro noch mit den Worten "Wer
zu spät kommt, den bestraft das Leben" gewarnt hatte, wurde in der
kubanischen Politik der unbedingte Wille zur Kontinuität deutlich. Er
bestätigt sich durch den Umstand, dass der Comandante en Jefe
persönlich seine Nachfolge organisiert, um das Überleben des gesamten
Systems nach seinem Abgang zu gewährleisten.
Die Berufung seines Bruders an die politische Führungsspitze des Landes
ist zweifellos ein erstes kräftiges Signal der Kontinuität, wenngleich
Raúl mit 75 Jahren auf lange Sicht gesehen nur eine interimistische
Lösung der Führungsfrage bedeuten kann. Ihm zur Seite sind Männer
gestellt, die sich in der kubanischen Politik in Zusammenarbeit mit dem
Comandante en Jefe jahrelang bewährt haben. Da ist Felipe Pérez Roque,
gegenwärtig Außenminister, dem eine Schlüsselrolle im
post-castristischen Kuba zugetraut wird; Carlos Lage, Sekretär des
Exekutivkomitees des Ministerrates, Vizepräsident des Staatsrates und
Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Kubas und natürlich
der Präsident der Asamblea Nacional del Poder Popular, Ricardo Alarcón
de Quesada. In den zwei Monaten der provisorischen Amtsübergabe lässt
sich bereits eine neue Stilrichtung der kubanischen Politik ablesen:
Der Wille zur Teamarbeit, vor allem hinsichtlich der Repräsentation der
Regierung Kubas bei öffentlichen Anlässen nach innen als auch auf der
internationalen Bühne nach außen.
Das neue kubanische Triumvirat Raúl-Lage-Pérez Roque, wie die drei
Herren wohlwollend in Kuba bezeichnet werden, gehen daran, einen leisen
Vorgeschmack auf die Zeit "danach" unter den wachsamen Augen Fidels zu
entwerfen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, dass man
sich keineswegs damit begnügt, die Staatsangelegenheiten für die Dauer
der Abwesenheit Fidels zu verwalten, sondern bereits selbständig
wichtige Entscheidungen gefällt hat. Da ist beispielsweise die
Ernennung des Historikers Ramiro Valdés zum Kommunikations- und
Informationsminister, der zu zwei Gelegenheiten bereits das Amt des
Innenministers bekleidete. Eine beachtenswerte Rede Raúls anlässlich
des 19. Kongresses der kubanischen Arbeitervereinigung CTC, die wenig
erfreuliche "interne Irrtümer und Defizite" thematisierte, führte rasch
zu den ersten Amtshandlungen im Sinne von Amtsenthebungen des neuen
Ministers: Der Vorsitzende des 315 Millionen Euro jährlich umsetzenden
staatlichen Telekom-Konzerns ETECSA, eines der mächtigsten Unternehmen
Kubas, José Antonio Fernández musste seinen Hut nehmen, ebenso wie der
Vorsitzende des staatlichen Telekommunikationstechnologie-Unternehmens
COPEXTEL, das für die flächendeckende Versorgung mit Informations- und
Kommunikationstechnologien in Kuba verantwortlich zeichnet. Auch wenn
in den kubanischen Medien diese Personalrochaden nicht kommentiert
wurden, lässt sich doch resümieren, dass Machtmissbrauch und
Bereicherungstendenzen auch von der "neuen Regierung" Kubas an der
Wurzel gepackt werden. Immerhin erwiesen sich derartige Aktivitäten an
den strategischen Schaltstellen der Nationalökonomie als maßgeblich
zerstörerische Tendenz des Systemwandels in den vormals sozialistischen
Bruderländern, und die Verlockungen des "ganz großen Geldes" erscheinen
manchen in Zeiten wie diesen unwiderstehlich.
Wie also wird Kuba nach Fidel Castro aussehen? Das Zentralkomitee der
Kommunistischen Partei Kubas ist keineswegs amtsmüde, resigniert oder
von interner Korruption und Machtmissbrauch zermürbt. Es ist keineswegs
mit jenen in den früheren sozialistischen Ländern zu vergleichen, die
nach dem Systemwechsel die Selbstauflösung für eine politische Option
hielten.
Kuba und die Welt werden zu allererst Zeuge eines bombastischen
Begräbnisses werden, das die Freudengesänge in Miami bei weitem
übertönen wird. Ähnlich wie 1997, als die im bolivianischen Vallegrande
entdeckten und nach Kuba überstellten sterblichen Überreste des
argentinischen Revolutionshelden Che Guevara eine Woche lang am Platz
der Revolution aufgebahrt wurden und Millionen Kubaner es sich unter
größtem Aufwand nicht nehmen ließen, sich von ihm persönlich zu
verabschieden, wird auch Fidels Anwesenheit diesen Platz ein letztes
Mal dominieren, bis schließlich der Alltag einkehrt.
Fidel Castro ist bereits zu Lebzeiten eine Legende. Als Mensch ist er
unantastbar, und sein Leben taugt hervorragend als Mythos. Die Facetten
seiner reichen Persönlichkeit werden auch und vor allem auf der
politischen Bühne Kubas vermisst werden. Unvergesslich schon jetzt
seine konzentrierte Aufmerksamkeit im Zusammentreffen mit dem Volk, das
ihm aus den entferntesten Winkeln des Landes mitunter im Zorn klagend
Missstände vortrug und an dessen Entrüstung er sich sogleich beredt
gestikulierend beteiligte. Ebenso die Bestimmtheit, mit der er sogleich
den Verantwortlichen in die "Arena der hier-und-jetzt Gerechtigkeit"
zitierte, der sich dann erst einmal nervös auf die Vorschriften "von
oben" berief, an die er sich zu halten habe. Manchmal musste
schließlich der jeweilige Minister höchstpersönlich zur Rechtfertigung
herbeigerufen werden, der dann coram publico planlos in seinen
Unterlagen blätterte und hilfesuchend Einflüsterungen seines
Beraterstabs entgegennahm, um dann schnell die sofortige Behebung des
Problems zu versprechen, die dann stets auch prompt eintrat. Diese
mitunter zelebrierten Zusammenkünfte, die auch gerne als direkte
Demokratie in Kuba bezeichnet werden, ließen bei den Kubanern die
Überzeugung wachsen, dass "wenn Fidel nur dieses und jenes wüsste" sich
schließlich jeder Missstand schnell beheben ließe. Legendär auch seine
Detailverliebtheit, mit der er seine ihm zur Antwort verpflichteten
Gesprächspartner oft in blanke Verzweiflung trieb, beispielsweise beim
Ankauf eines von drei zur Auswahl stehenden Rettungswägen, deren auch
noch so winzige technische Details abgefragt und sorgfältig
gegeneinander abgewogen werden wollten. Und schließlich ist da auch die
Erinnerung an die kleine, wütende Demonstration auf dem Gipfel der
"periodo especial", wo hie und da ein Ruf "Nieder mit Fidel" zu hören
gewesen sein soll. Kaum eine halbe Stunde soll es gedauert haben, bis
drei Militärjeeps in jener verdächtig grünbraunen Farbe, wie sie nur im
Umfeld Fidels gesehen wird, vor der wütenden Menge hielten. Fidel
mischte sich unter die Leute und sprach einen der verblüfften
Demonstranten persönlich laut und für alle vernehmlich an: "Ich habe
gehört, es soll hier Beschwerden gegen mich geben. Hier bin ich. Was
hast Du mir also zu sagen?" Gleich an welchen der Demonstranten er die
Frage richtete, er erntete ein stotterndes "Gar nichts, mi comandante,
es gibt kein Problem". Fidel beendete diese Demonstration mit dem
Vorschlag "Nun gut, dann schlage ich vor, dass wir alle wieder nach
Hause gehen". Noch ehe man es sich versah, war Fidel davongebraust und
erntete für seinen Auftritt vom Publikum bewunderndes Kopfschütteln und
das Attribut "tiene cojones" (was für ein Mann!)
Ähnlich wie schon bei Che Guevara, mit dem altersmäßig in Frage kommende Kubaner gerne persönliche Begegnungen erfinden, wird auch Fidel in den Genuss dieser Ehre kommen. Stolze 73% der kubanischen Bevölkerung oder 8 Millionen Menschen sind nach 1959 geboren. Sie sind mit Fidel Castros wort- und tatenreicher Präsenz aufgewachsen. Von Hunger und Elend erfahren sie nur noch aus den Geschichtsbüchern. Man kann sich also getrost der Meinung anschließen, dass nach Fidel Castro lange Zeit nichts Nennenswertes kommen wird. Zu überragend und dominant war seine Rolle in der Staatsführung Kubas, als dass jemand sich aus seinem Schatten lösen könnte. Das ist Kubas Fluch. Doch andererseits - und dies ist das Faktum, das den Vergleich mit den vormals sozialistischen Bruderländern kläglich scheitern lässt - hat Fidel Castro mit seiner Revolution aus den Kubanern ein sehr selbstbewusstes und stolzes Volk gemacht, das Einmischung von außen, auch wenn sie in noch so freundlichen Gesten daherkommt, nicht dulden wird, und er hat seine politischen Erben sorgsam in einer langen Periode der Prüfung ausgewählt. Das ist Kubas Segen. (Lateinamerika Anders Panorama, Nr.5)
|