Samstag, 24. Januar 2009
 
Buch: Nur Arbeit schafft ein Recht auf Leben PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Rosalia Krenn/akin   
Dienstag, 20. März 2007

Waltraud Häupl:
"Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund"

Waltraud Häupl wurde 1997 mit den konservierten Gehirnen ermordeter Kinder
konfrontiert und erinnerte sich an ihre am "Spiegelgrund" ermordete kleine
Schwester. Ein einziges Foto ließ sie "das Kind auch optisch nicht vergessen". Danach begann sie ihre mühevolle Arbeit, die Geschichte der Kinder und Jugendlichen aufzuspüren, nach Akten und Unterlagen zu forschen, um über dieses Kapitel des Nationalsozialismus ein weiteres Verschweigen zu verunmöglichen. In ihrem Vorwort formulierte sie: "Ich nahm mir vor, nicht aufzugeben. Ich wollte Einzelheiten des grauenhaften Geschehens erkunden, die vielen hundert Kinder und Jugendlichen beim Namen nennen und ihnen ihre Geschichte wiedergeben, um sie vor dem Vergessen zu bewahren."

Für die am "Spiegelgrund" ermordeten Kinder gab es nur einen kurzen Moment der öffentlichen Trauer: als ihre sterblichen Überreste 2002 in Wien am Zentralfriedhof beerdigt wurden. Angehörige wissen oft bis heute nichts von ihrer Geschichte. Die medizinischen Präparate standen bis in die 80er Jahre der Wissenschaft zur Verfügung, etwa in der Nachfolgeinstitution des ‚Ludwig-Boltzmann-Instituts zur Erforschung der Missbildungen des Nervensystems' oder im ‚Max-Planck-Institut für Hirnforschung' in Giessen.

Die Selektion und Ermordung der Kinder und Jugendlichen zwischen 1940 und 1945 erfolgte nach dem Massstab nationalsozialistischer Organisation systematischer Tötung von Menschen. Um den Schein zu wahren, wurde eine streng medizinische Vorgangsweise aufrechterhalten, an den Beratungen und Beurteilungen der Kinder nahmen ÄrztInnen, PsychologInnen, BetreürInnen und Krankenschwestern teil. Das entsprechende Todesurteil wurde von einem Reichsausschuss in Berlin abgesegnet. Als Dr. Heinrich Gross 1998 dazu befragt wurde, ob es ihm nicht aufgefallen sei, dass so viele Kinder an Lungenentzündung starben, gab er die trockene Antwort: "Es wird halt eine Epidemie gewesen sein". Mit Luminal und ähnlichen Medikamenten wurden die Kinder und Jugendlichen bis zu ihrem Tod geschwächt. Der "Spiegelgrund" gilt als zweitgrößte Mordklinik ihrer Art im gesamten "Dritten Reich", sie hatte die höchste Todesrate.

Die Anklage gegenüber beteiligten ÄrztInnen und Krankenschwestern lautete nach 1945 auf "vollbrachten Meuchelmord und begangene Quälerei und Misshandlungen". Bereits 1948 lautete die Anklage gegen den aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Dr. Gross auf Totschlag, der bekanntlich verjährt. Bereits 1948 gingen die Gerichte wieder davon aus, dass es sich bei den getöteten Kindern um Säuglinge und gehirnkranke Kinder handelte, bei denen die Verabreichung von Gift nicht heimtückisch erfolgen konnte, da den Betroffenen die Einsicht fehle, was mit ihnen geschieht. Daher kann es sich nicht um Mord gehandelt haben. Die Gerichte gingen davon aus, dass die"gehirnkranken Kinder" nicht ermordet werden konnten, da ihnen das Bewusstsein gefehlt hätte, ihre Lage zu begreifen. Ja ‚süßer Tod', die Eugenik lässt grüßen.

Waltraud Häupl stellt so gründlich wie beeindruckend aus den Restbeständen der Dokumente das Leben vieler der rund 800 getöteten Kinder und Jugendlichen dar - viele "Krankengeschichten" wurden nur deshalb archiviert, um den medizinischen Forschungen weiterhin zur Verfügung zu stehen - sie macht die Ängste, Sorgen, Nöte und unglaubliche Scham der Kinder und Jugendlichen sichtbar, die einer "heilpädagogischen Anstalt" dem Tod ausgeliefert wurden.

Auswahlkriterien für das Todesurteil entsprachen dem faschistischen Gedankengut: Die Kinder und Jugendlichen wurden als nicht bildungsfähig, als nicht arbeitsfähig und/oder arbeitswillig beurteilt, unter der Fragestellung behandelt: Wird dieser Mensch für die "Volksgesundheit" ein nützliches Mitglied werden?

Diese Woche begegnete ich einer Werbung in der Wiener U-Bahn. Sie stammt von
einem Verein für Menschen mit Down-Syndrom, eine wunderschöne, allen plakativen Idealen des momentanen Schönheitsbildes entsprechende Frau in einem Friseursalon stellt sich die Frage, ob denn das Leben von "Menschen mit Behinderung" gesellschaftlich leistbar ist. Daneben steht eine ebenso dem gängigen Ideal entsprechende attraktive Frau mit Down-Syndrom als Friseurin, sie versinnbildlicht die Botschaft, dass sie sich als wertvolles, verdienendes, nützliches Mitglied unserer Gesellschaft empfinden möchte, sie präsentiert sich in ihrer Arbeitsfähigkeit. Der Verein fordert das Lebensrecht von "Menschen mit Behinderung" aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit ein.

Waltraud Häupl:
Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund.
Böhlau 2006. 663 Seiten, 150 s/w-Kleinabb.
EUR 39,00
ISBN 3-205-77473-6

Erschienen in AKIN vom 13.3.2007

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