Wenn Männer im Irak über sexuelle Gewalt reden, geht es meist um die »Ehre«. Eine vergewaltigte Frau gilt nicht als Opfer männlicher Gewalt, sondern als Schande für ihre Familie.
Nicht selten stellen Angehörige die »Ehre« wieder her, indem sie die Frau aus der Familie verstoßen oder sogar ermorden. Irakische Vergewaltigungsopfer sprechen selbst als Flüchtlinge in Europa oft nicht über ihren eigentlichen Fluchtgrund,sie brauchen in den wenigen Frauenhäusern in den meisten Fällen sehr lange, bis sie sich einer Sozialarbeiterin anvertrauen. Deshalb wurden im Irak nur sehr wenige Fälle von Vergewaltigung bekannt. In der vergangenen Woche verurteilte ein Militärgericht in Kentucky den US-Soldaten Paul Cortez zu 100 Jahren Haft, mit derMöglichkeit, nach zehn Jahren auf Bewährung entlassen zu werden. Cortez hatte seine Beteiligung an der Ermordung einer Famile und der Vergewaltigung einer 14jährigen gestanden.
In der irakischen Öffentlichkeit wurde sexualisierte Gewalt nun zum Thema, weil erstmals zwei Frauen öffentlich über ihre Vergewaltigung durch irakische Sicherheitskräfte sprachen und damit das Tabu brachen. Eine 20jährige verheiratete Irakerin aus Bagdad und eine Frau aus Tal Afar im Nordirak, ebenfalls verheiratet und Mutter von elf Kindern, erzählten Reportern des arabischen Fernsehsenders al-Jazeera vorlaufender Kamera, sie seien von irakischen Sicherheitskräften vergewaltigt worden.
Symptomatisch für die Verhältnisse im Irak war die sofortige Politisierung der Fälle. Nicht ganz zu Unrecht werfen viele Iraker al-Jazeera gewisse Sympathien für arabisch-sunnitische Terrorgruppen vor. Dass al-Jazeera über die Fälle berichtete, wurde von schiitischen Politikern sofort als Beleg dafür gewertet, dass die Vorwürfe erfunden seien. Bevor die Fälle untersucht werden konnten, verkündete Premierminister Nuri al-Maliki bereits, der Fall der 20jährigen »Sunnitin« sei konstruiert.Sunnitische Terrorgruppen hätten die Frau lediglich vorgeschickt, um einen Vorwand für Racheakte gegen die Schiiten zu haben.
Aber auch die Gegenseite nutzte den Fall sofort für ihre Zwecke. »Am Tag der Abrechnung werdet ihr nach der Ehre der irakischen Frauen gefragt werden«, mahnte Sheikh Ali al-Mashhadani, der Imam einer Moschee in Bagdad, die Regierung. Für Ahmed Abdul Ghafar, den Vorsitzenden der sunnitischen Stiftungen, ist die Vergewaltigung »ein Beweis dafür, dass der neue Sicherheitsplan gescheitert ist«. Prompt wurde er von Maliki entlassen. Abu Hamsa al-Muhajir, der mutmaßliche Führer der al-Qaida im Irak, hat im Internet Rache für die Vergewaltigung angekündigt. Mehr als 300 Kämpfer hätten sich bereits als Selbstmordattentäter gemeldet. Umstandslos wird der Begriff der »Ehre« von der Familie auf die konfessionelle Gruppe übertragen. Die Vergewaltigung einer Sunnitin gilt als »Schande« für alle Sunniten, die mit Gewalt gerächt werden muss, obwohl nicht einmal sicher ist, dass die Täter tatsächlich Schiiten waren. Schiitische Politiker argumentieren ähnlich blöd: Da der Vorwurf die Integrität der schiitisch dominierten Regierung in Frage stellt, muss es sich um eine falsche Beschuldigung handeln.
Eine neutrale Untersuchung ist derzeit im Irak kaum möglich. Angesichts der Gefahr, der sich die Frauen aussetzen, ist es jedoch extrem unwahrscheinlich, dass sie falsche Aussagen gemacht haben. Dass zwei Frauen es wagten, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, führt nicht zu einer Debatte über sexualisierte Gewalt. Vielmehr wurden ihre Aussagen umgehend den ideologischen Konflikten untergeordnet.
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