Samstag, 24. Januar 2009
 
Ungarn: „Wir bleiben, Gyurcsany soll gehen“ PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Ralf Leonhard   
Montag, 25. September 2006

Budapester Heldenplatz, Samstag 14 Uhr. Jetzt hätte die Großkundgebung beginnen sollen, die Oppositionschef Viktor Orbán zwei Tage vorher überraschend abgesagt hat. Rund um die in Bronze gegossenen martialischen Gründerväter der Nation, die durch die Landnahme vor 1.100 Jahren die Magyaren in Europa sesshaft machten, tummeln sich vor allem Touristengruppen. Jugendliche flitzen auf Skateboards über den im grellen Sonnenlicht liegenden Platz.

Nur ein paar Einheimische gruppieren sich um einen älteren Mann, der auf einem Campinghocker sitzt und eine ungarische Fahne hoch hält. Auch die Technikstudentin Edina Balógh zieht eine Fahne aus der Tasche und montiert sie auf ihrem Rucksack. "Wenn die Demo nicht abgesagt worden wäre, stünden jetzt 100.000 hier", ist sie sicher. Sie will, dass der sozialistische Premier Ferenc Gyurcsány zurücktritt: "Er hat uns angelogen." Die Anhängerin der rechtspopulistischen Fidesz will eine halbe Stunde bleiben. Und wenn sich nichts tut, geht es auf den Kossuth-Platz vor dem Parlament.

Schon einige Häuserblocks vor dem Platz sind die blechernen Töne aus dem Lautsprecher zu hören. Inmitten eines Fahnenmeers, wo neben den rot-weiß-grünen Nationalflaggen auch immer wieder das von den Faschisten benutzte Árpád-Banner mit den acht roten und acht weißen Längsstreifen auftaucht, ist ein potenter Lautsprecher montiert. Bis zur Nacht schwillt die Menge zu der bisher größten Kundgebung seit Beginn der Unruhen an. Die von den Agenturen kolportierten 40.000 scheinen aber stark übertrieben. Jeder und jede kann hier das Wort ergreifen, wenn es gegen die Regierung gerichtet ist. Spektakulär ist der Auftritt eines Vermummten, der sich als der polizeilich gesuchte György Budházy zu erkennen gibt. Er hat bei den Krawallen am Dienstag den Sturm auf das sowjetische Ehrenmal angeführt. Nicht ihn, sondern Premier Gyurcsány solle man verhaften, brüllt er unter tosendem Applaus ins Mikrofon und taucht dann in der Menge unter.

Hier wird demonstriert, seit vor einer Woche Gyurcsánys Rede bekannt wurde, in der er in derber Sprache vor Parteifreunden Selbstkritik übte: Man habe das Volk vor den Wahlen über den Zustand der Wirtschaft belogen. Deswegen sei ein hartes Sparpaket unumgänglich. Auf dem Kossuth-Platz herrscht Volksfeststimmung. Familien haben sich auf dem Rasen niedergelassen, verliebte Paare stehen Hand in Hand und schlecken an einem Eis. Alkohol ist zwar verboten, aber so mancher hat sein Bier in einer Mineralwasserflasche mitgebracht. Ein kräftig gebauter junger Mann mit Lederstiefeln und Tarnuniform knüpft eine Schlinge aus einem dicken Strick, als hätte er vor, den Premier an den nächsten Laternenmast zu knüpfen.

Die meisten sind aber in friedlicher Absicht gekommen. Jószef Mezáros will hier bleiben, bis Gyurcsány abtritt. Natürlich nicht Tag und Nacht, schließlich ist er Lehrer und muss Geld verdienen. Aber er will jeden Abend Präsenz zeigen: "Wir wollen beweisen, dass Ungarn eine Demokratie ist." Die Árpád-Flaggen will er nicht überbewerten. Die erinnerten an den Gründer der Nation, nicht an die finstere Zeit der Pfeilkreuzler im Zweiten Weltkrieg. Und die Hooligans, die Anfang der Woche brandstiftend durch die Gassen zogen, hält er für Provokateure oder für Leute, die jede Gelegenheit nutzen, um Krawall zu machen.

Eine Gruppe am Rande des Platzes bekennt sich zur Splitterpartei Jobbik, was man mit "Die Rechten" oder auch "Die Wahren" übersetzen kann. Obwohl die meisten Umstehenden nicht den Eindruck von Extremisten machen, ernten die Radikalen großen Applaus. Etwa László Toroczkai, Anführer der Organisation "64 Burgkomitate", die von Großungarn in den Grenzen von 1918 träumt.

Der große Abwesende ist Fidesz-Chef Viktor Orbán, der seine Anhänger zwar ermutigt, zu demonstrieren, aber selbst nicht als Organisator in Erscheinung treten will. Deswegen hat er auch die Großkundgebung, wo gewalttätige Zusammenstöße befürchtet wurden, abgesagt. Alles wartet jetzt auf die Kommunalwahlen am Sonntag, die für Gyurcsány schon ein Sieg werden, wenn sich die Verluste seiner sozialistischen MSZP in Grenzen halten.

Kommentar: Konträre Wirklichkeiten in Ungarn

 

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