Samstag, 24. Januar 2009
 
Hinter der bolivarischen Fassade PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Leo Gabriel   
Dienstag, 9. Januar 2007

In den 1960er und 70er Jahren war der Name Douglas Bravo fast allen geläufig, die sich mit den lateinamerikanischen Revolutionsprozessen auseinander setzten. Heute ist der 74-jährige Chefideologe der venezolanischen Guerillabewegungen, der zu Beginn der 1960er Jahre die Fuerzas Armadas de Liberación Nacional (FALN) gegründet hatte, weitgehend in Vergessenheit geraten; nicht so in Venezuela selbst, wo er sowohl innerhalb als auch außerhalb der  Anhängerschaft von Hugo Chávez hohes Ansehen genießt.

Das nachfolgende Gespräch fand zwei Tage nach den Präsidentschaftswahlen vom 3. Dezember in Bravos kleiner Wohnung im 18. Stockwerk eines jener abgetakelten Wolkenkratzer statt, die das Stadtbild von Caracas so nachhaltig prägen. Zu unserer großen Überraschung schwelgte unser Interviewpartner jedoch nicht in seiner längst überwundenen Vergangenheit, sondern entfaltete eine zukunftsweisende Vision, aus der bei aller Kritik an seinem ehemaligen Waffenbruder Hugo Chávez die Möglichkeit einer alternativen Gesellschaftsordnung hervorleuchtet. Das Gespräch mit dem legendären venezolanischen Guerillaführer, das hier auszugsweise wiedergegeben wird, führte Leo Gabriel im Beisein von Werner Hörtner.

- Wie wir wissen, haben Sie sich immer wieder kritisch zu Präsident Chávez geäußert. Welches sind die ideologischen Grundlagen für diese Position?

Der "Dritte Weg" ist eine politische Strömung, die aus der Partido de la Revolución Venezolana hervorgegangen ist. Diese Strömung spiegelt die politische Beziehung mit unserem Freund José Maria wieder. José Maria war der Deckname von Hugo Chávez, als wir uns trafen, um die politischen Projekte gegen den Pacto de Punto Fijo zu diskutieren, mit dem sich die venezolanische Bourgeoisie an die USA verkaufte. Diese Diskussionen etablierten einen programmatischen Rahmen, in dem wir gemeinsame Strategien erarbeiteten, um die verloren gegangene Souveränität wieder zu erlangen. Das ging so lange gut, bis sich Chávez  dann bei seinem ersten Wahlkampf mit einer Reihe von politischen Kräften umgab, die den ehemaligen Strukturen  des Pacto de Punto Fijo angehört hatten: COPEI, Acción Democrática und URD. Und als Chávez sein erstes Kabinett bildete und den Generalstab ernannte, hatte er sich von den revolutionären Positionen bereits entfernt. In keinem Moment habe ich jedoch die freundschaftlichen Beziehungen zum Präsidenten abgebrochen, aber ich habe mich politisch von ihm distanziert.

- Aber hat sich nicht Chávez dann wieder geändert und gegen Mitte seiner Amtszeit radikalisiert? Hat das nicht Ihre Meinung über ihn wieder verändert?

In dem Maße, in dem er seine Bolivarianische Allianz vorantrieb, radikalisierte er seine anti-imperialistische, anti-kapitalistische und globalisierungskritische Sprache. Seine Praxis widersprach dem aber. Wenn wir uns etwa die Verfassung anschauen, so bemerken wir, dass diese den kapitalistischen Neoliberalismus widerspiegelt. Im Artikel 299 heißt es zum Beispiel, dass die Wirtschaft demokratisch, partizipativ, selbstverwaltend und marktwirtschaftlich sein soll. Das ist schon der erste Widerspruch: Eine Wirtschaft kann nicht zugleich marktorientiert und demokratisch sein. Oder der Artikel 312 oder 313, wo der Staat den transnationalen Unternehmungen, wie z.B. den Erdölkonzernen, alle Garantien einräumt.

- Sie meinen also, dass die Politik von Chávez einen doppelten Boden hat?

Ja genau. Denn unter Berufung auf diese Verfassung sind 49 Gesetze entstanden, die alle einen neoliberalen Charakter haben.

- Zum Beispiel?

Das Landgesetz, das Gesetz über den Lebensraum der Indigenen, das Gesetz über die Mineralöle und das Erdgas. Am 30. März dieses Jahres wurde im Parlament z.B. ein Rahmengesetz für die gemischten Betriebe verabschiedet. Dieses Gesetz legt fest, dass die internationalen Erdölkonzerne für die Leistungen, die sie erbracht haben und für die sie auch bezahlt wurden, jetzt zu 40 Prozent zu Miteigentümern der Betriebe werden. Andere Länder wie Mexiko und Saudi Arabien haben diese Politik der Auslieferung der Betriebe an die TNKs nicht mitgemacht. Außerdem gibt das Gesetz den Multis das Recht, eine multinationale Streitkraft zu schicken, wenn der venezolanische Staat die Vereinbarungen nicht einhält.
Das ist sehr schwerwiegend. Denn wir wissen ganz genau, dass die USA mit den 21 Milliarden Fass Öl, die sie noch unter ihrem Territorium haben, ihre Ölreserven bald erschöpfen werden. Sie brauchen also das Öl von Afghanistan und Venezuela und sind bereit, alle Mittel einzusetzen, um sich dessen zu bemächtigen. Um sich als Imperium aufrecht zu erhalten, brauchen die USA also die 300 Milliarden Fass Erdöl, die es in Venezuela gibt. Und das erwähnte Gesetz gibt ihnen die Möglichkeit, diese Verletzung der Souveränität auch "legal" durchzuführen.

- Aber andererseits gibt es das Landgesetz (Ley de Tierras), das die Grundlage für eine umfassende Agrarreform abgibt?

Ursprünglich dachten wir, dass dieses Landgesetz die Großgrundbesitzer benachteiligt. Heute wissen wir aber, dass es auch den Boden für die Übernahme der Ländereien durch agroindustrielle Großbetriebe bereitet hat. Denn 80 Prozent der Kredite für die durch das Gesetz enteigneten Ländereien sind den Agroindustrien zugesprochen worden und nur 20 Prozent den vielen, vielen Kleinbauern, für die das Gesetz angeblich gemacht wurde. Ja mehr noch: Während früher die Landlosen Landbesetzungen vornahmen und manchmal gesiegt haben, sagt jetzt das Gesetz: Wer Landbesetzungen vornimmt, verliert automatisch den Anspruch auf Eigentum und Kredite.
Auch die Formulierung des Gesetzes über den indigenen Lebensraum (Ley de Habitat Indígena) ist komplizierter, als es den Anschein hat.

- Warum?

Weil es zwar viele schöne Worte über das Recht der indigenen Völker auf ihre eigene Kultur enthält. Wenn es aber an den ökonomischen Kern geht, so bestimmt das Gesetz, dass sich die Demarkierung nur auf ihr "Habitat" erstreckt, also das umliegende Gemeindeland, und nicht auf das gesamte Territorium, auf das sie den Bestimmungen der UNO zufolge einen gesetzlichen Anspruch hätten. Warum also? Weil es auf den indigenen Territorien wie in der Gran Savana, im Amazonas, in der Sierra de Perejá Uran, Gold, Bauxit, Erdöl und Erdgas gibt.

- Aber gibt es da nicht auch eine Strömung innerhalb des Movimiento Quinta República, die gegen diese neoliberalen Tendenzen auftritt? Was halten Sie z.B. von den Misiones  und den Kooperativen, die in den letzten Jahren entstanden sind?

Theoretisch muss man diese Misiones beglückwünschen, denn durch sie werden teilweise die Einnahmen aus dem Erdölgeschäft umverteilt, die traditionellerweise von den Multis, der nationalen Bourgeoisie und der Bürokratie aufgefressen wurden. Heute kommt ein Teil, wenngleich auch ein sehr geringer Teil, den armen Klassen zu gute. Aber das hat überhaupt nichts zu tun mit dem Kampf um eine alternative, parallele Macht dieser benachteiligten Schichten. Wenn wir uns anschauen, wie sie organisiert sind, müssen wir feststellen, dass diese Organisationen sehr vergänglich sind und überhaupt nicht nachhaltig. Es wird also in keiner Weise dadurch ein Modell geschaffen, das eine Alternative zum Kapitalismus darstellt. Es gibt keine Gemeinde, keine einzige Kooperative, die gemeinschaftlich, selbstverwaltet und ökologisch produziert. Heute werden mehr Pestizide eingesetzt als in anderen Perioden der Geschichte des Landes.

- Aber es gibt doch eine Bank für die Frauen und eine Vielzahl von Kooperativen, die wir gesehen haben?

Ja, aber darunter gibt es keine einzige, die selbständig wäre. Alle werden sie durch den Staat finanziert! Das ist alles ein Geschenk, und wenn es ein Geschenk ist, dann kann es auch nicht dazu beitragen, ein neues System zu kreieren, das eine Alternative zum Kapitalismus darstellt.

- Aber es gibt doch auch linke Kräfte innerhalb der Bewegung um Hugo Chávez, wie z.B. die, die sich im Barrio 23. Januar und in vielen anderen städtischen Randvierteln gebildet haben?

Ja, aber wir müssen auch die Säuberung der linken Kräfte in Rechnung stellen, die seit 1999 stattgefunden hat, als die Regierung Chávez ihr Amt angetreten hat. Vielleicht haben Sie bemerkt, dass es in der Regierung einen linken Flügel gibt, einen revolutionären Flügel. Es gibt ein radikales Denken in der Regierung, das mit der Regierungspolitik überhaupt nicht einverstanden ist. Ich würde sogar sagen, dass diese Leute 80 Prozent der Bewegung darstellen. Da gibt es die Campesinos, Indígenas, die Arbeiter usw. Aber wir können uns nichts vormachen: Diese 80 Prozent halten nicht die realen Machtfaktoren in ihren Händen. Diese gelangen jeden Tag mehr in die Hände des neoliberal-kapitalistischen Sektors.

Erschienen in Lateinamerika Anders Panorama 6/2006
www.lateinamerika-anders.org

< zurück   weiter >