"Lateinamerika im Aufbruch"
Das von Herbert Berger und Leo Gabriel herausgegebene Buch gibt einen
fundierten Einblick, welche - tiefgehenden- Wandlungen auf dem
lateinamerikanischen Kontinent in den letzten Jahren Platz gegriffen
haben.
Nach der hemmungslosen Woge des Neoliberalismus und den oft mit ihm verbundenen politischen Verwerfungen (man/frau denke nur an Fujimori in Peru oder Color de Mello in Brasilien) hat ein Gegentrend eingesetzt: generell gesprochen bewegt sich Lateinamerika nach links.
João Pedro Stedile von der brasilianischen Landlosenbewegung MST charakterisiert diesen Trend folgendermaßen: "Die Völker, die Volksbewegungen und vor allem die politischen Kräfte, die diese Prozesse in unseren Ländern vorantrieben und über sie eine gewisse Hegemonie ausübten, bevorzugten die Wahlen als Schlachtfeld, um den Neoliberalismus zu besiegen... Das führte dazu, daß bei fast allen Wahlen, die es seit 2002 gab, diejenigen Kandidaten gewannen, die sich dem Neoliberalismus widersetzt hatten - wenngleich sich einige von ihnen später als Neoliberale demaskierten, wie das z.B. in Ecuador mit Lucio Gutiérrez der Fall war" (Einleitung S. 3).
Der allgemeine Trend verläuft also weder linear noch ident, er nimmt vielmehr die unterschiedlichsten Formen an. Die Spannweite reicht von Michelle Bachelet in Chile bis hin zu Hugo Chávez in Venezuela und Chávez wieder kann nicht eins zu eins mit Evo Morales in Bolivien gleichgesetzt werden.
Das vorliegende Buch untersucht diese länderspezifischen Unterschiedlichkeiten und die ihrer politischen ProtagonistInnen. Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, auf alle behandelten Länder bzw. die aufgeworfenen theoretischen und strategischen Fragen (Solidarwirtschaft statt Marktwirtschaft; pluriethnische Autonomien versus Zentralstaat; partizipative und repräsentative Demokratie) eingehen zu wollen. Stattdessen wird eine "exemplarische Methode" (Oskar Negt) gewählt. An Hand der Kapitel über Brasilien und Venezuela wird dargelegt, wie weit realiter eine Abkehr vom Neoliberalismus erfolgte.
Bernhard Leubolt schildert in dem Abschnitt "Ein sozialdemokratisches Projekt in der Ära des Liberalismus ?" die "Ambivalenzen der Regierung Lula". Seit 2003 regiert Lula das Land, wobei "die PT von Stimmen konservativer Parteien in Kongreß und Parlament abhängig ist" ( Brasilien-Kapitel S. 9). War im Wahlprogramm noch davon die Rede, "die gute Erfahrung mit dem partizipativen Budget auf Gemeindeebene" auch auf die staatliche Ebene auszudehnen, wurde "nach der Regierungsübernahme jedoch schnell klar, daß es sich hierbei um ein leeres Versprechen gehandelt hatte" (S. 10).
Leubolt zeigt auf eine Reihe von (neoliberalen) "Kontinuitäten in der Regierung Lula" (S. 13ff.): Hochzinspolitik, Priorität für die Bedienung des Schuldendienstes, das Ausbleiben einer echten Agrarreform. Als neue Elemente ("Brüche" - S. 16) führt er an: alternative Elemente in der Außenpolitik (Wiedererstarken des Mercosor; India-Brazil-South Africa Dialogue Forum...); trotz Fortsetzung der "grundsätzlichen Orientierung der Regierung Cardoso" einige neue Elemente in der Sozialpolitik (z.B. die Familienbeihilfe Bolsa Familia); keine weiteren Privatisierungen(mit Ausnahme der Pensionsreform).
Leubolt versucht ausgewogen zu bilanzieren: einerseits "neue Würde" für die Menschen, andererseits" weisen die individuelle Konzeptualisierung der Sozialleistungen, sowie die makroökonomischen Maßnahmen ... eher in Richtung Sozialliberalismus" (S. 21). Eine Bilanz, die meiner Meinung nach ziemliche Schlagseite hat.
Birgit Zehetmayer gibt in dem Kapitel "Die (latein-) amerikanische Herausforderung: Venezuela und die Bolivarische Revolution“ ein prägnantes Bild "Vom Elend einer zweigeteilten Gesellschaft".
Zurecht verweist sie auf die fundamentale politische Wende, die mit dem "Caracazo" 1989, dem Massaker der Regierung Carlos Andrés Pérez eintrat. Sie schildert den politischen Werdegang von Hugo Chávez und seiner Bewegung, die Tätigkeit der "misiones", die Verstaatlichungsmaßnahmen bzw. das – hilflose – Agieren der bürgerlichen Opposition: "Von der Polarisierung zum Putschversuch" (Venezuela-Kapitel S. 9 ). Und formuliert schließlich die "Gretchenfrage" (S.13): "Inwiefern ist es dem Hoffnungsträger (Chávez- H.D.) aber tatsächlich gelungen, die skandalöse Sozialstruktur, die er so feurig anklagte, durch seine Bolivarische Revolution zu verändern?"
Meines Erachtens nach geht sie bei der Beantwortung der Frage zu "personalistisch" vor - obwohl sie selbst vor den Gefahren der Personalisierung warnt (S. 15 f.). Bei aller Berücksichtigung der "charismatischen" Rolle von Chávez, sind die grundlegenden Zukunftsfragen Venezuelas vor allem struktureller Natur: inwieweit gelingt eine ökonomische Diversifizierung des Landes? Inwieweit entwickeln sich selbständige, nicht "von oben" gegängelte Volksorganisationen und Strukturen, die eigenverantwortlich und selbstbestimmt Schritte in Richtung eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" unternehmen.
Alles in allem ein materialreiches, spannendes Buch, an dem es sich auch kritisch zu reiben lohnt. Soziale Bewegungen machen Politik
(Hrsg. Herbert Berger/ Leo Gabriel), Mandelbaum Verlag Wien April 2007,
280 Seiten. 17,80 Euro.
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