Eine Tabakentziehungspille kommt in den Geruch, Menschen in den Selbstmord zu treiben.
"Nebenwirkungen von Champix: Sehr häufig genannte Nebenwirkungen sind Übelkeit, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit sowie abnorme Träume. Häufig wird von Müdigkeit, Schwindelgefühl, gesteigertem Appetit, Erbrechen, Durchfall, Verstopfung und Mundtrockenheit berichtet." Sonstige Nebenwirkungen kennt das "Rauchertelefon" der NÖ Gebietskrankenkasse nicht, wenn es die Tabakentwöhnungspille Champix aus dem Hause Pfizer anpreist. (1)
Auch die Österreichische Apothekerzeitung sieht das Mittel mit dem Wirkstoff Vareniclin eher als harmlos an: "Unter den Nebenwirkungen steht Übelkeit an erster Stelle. Sie ist in der ersten Woche am häufigsten und nimmt mit Fortdauer der Behandlung ab. Die Abbruchrate wegen Nebenwirkungen ist vergleichsweise gering." (2)
Ganz anders verhält es sich mit der Tabakentwöhnungspille "Chantix". Sucht man bei der US-Lebensmittel- und Medikamentenbehörde FDA nach diesem Stichwort, taucht ein aktuelles Dokument auf, das mit einem fettgedruckten Warnhinweis beginnt: "Falls Sie, Ihre Familie oder Ihr Pflegepersonal bei Ihnen Unruhe, Depressionen oder für Sie untypische Verhaltensveränderungen beobachten oder wenn sie Selbstmordgedanken haben oder selbstmörderisches Verhalten zeigen, beenden Sie die Einnahme von Chantix und rufen Sie sofort Ihren Arzt." (3)
Nur: Die beiden Pfizer-Produkte sind ein und dasselbe Medikament. In den USA wird es unter dem Handelsnamen Chantix verkauft, in der EU als Champix. Der darin enthaltene Wirkstoff firmiert unter dem Trivialnamen Vareniclin.
Auf den Markt kam Chantix 2006. Im Jahr darauf häuften sich in den USA die Berichte über die "Chantix Dreams", absurde, zum Teil ängstigende Träume. Einer dieser Träume dank einer Kombination von Alkohol und Chantix könnte dazu geführt haben, dass der ansonsten nicht als aggressiv bekannte US-Musiker Carter Albrecht im September 2007 aus heiterem Himmel seine Freundin verprügelte und – als sich diese in Todesangst verbarrikadiert hatte – vor der Tür seines Nachbarn zu randalieren begann. Doch dieser Nachbar fackelte nicht lange und erschoss den nicht mehr zu beruhigenden Albrecht. (4)
Ab da wuchs das öffentliche Interesse an den Nebenwirkungen der Pille. Zuvor hatte die US-Lebensmittel- und Medikamentenbehörde FDA das Mittel noch problemlos genehmigt und eventuelle Nebenwirkungen als nicht so tragisch angesehen. Wohl nicht zuletzt aufgrund des Todes des prominenten Musikers ging die FDA nochmal an die Sache ran und verschickte bereits zwei Monate nach dem tragischen Ereignis eine "Early Communication", in der ein Zusammenhang mit aggressivem Verhalten oder Selbstmordgedanken nicht ausgeschlossen wird (5). Im Februar 2008 wurde dann ein FDA-Verantwortlicher zur Häufung neuropsychiatischer Erkrankungen mit den Worten zitiert: "Wir wurden zunehmend beunruhigt, als wir eine Anzahl eindeutiger Fälle sahen, die in der Tat danach aussahen, als wären sie das Resultat der Einnahme des Medikaments und nicht aus anderen Gründen". Eine FDA-Sprecherin meinte bei der gleichen Veranstaltung, man hätte nicht nur erhöhtes Aggressionspotential bei Chantixpatienten feststellen können, sondern es wären mittlerweile auch 39 Selbstmorde dokumentiert (6).
Im Mai 2008 stellt die FDA dann hochoffiziell fest, dass die Warnhinweise für Chantix unzureichend seien (3).
Die finale Stellungnahme der FDA blieb nicht ohne Folgen. Wenige Tage später verbot die US-Flugaufsichtsbehörde FAA Piloten den Gebrauch des Mittels, einen Tag später empfahl die für Straßengütertransporte und den Busverkehr zuständige Behörde FMCSA, dass die einzelstaatlichen Behörden Chantix gebrauchenden Truck- und Busfahrern die Fahrerlaubnis entziehen sollten.
Und auch die Börse reagierte: Die Gewinnerwartungen für das Mittelchen wurden von den Analysten halbiert (7).
Pfizer aber, schon nach seiner Pleite von 2006 mit dem leider manchmal tödlichen Cholesterin-Wundermittel Torcetrabib in einigen Schwierigkeiten, will seine Raucherentwöhnungs-Cashcow nicht auch noch verlieren. Immerhin nahm der Konzern auf Druck der FDA entsprechende Warnhinweise in seine Packungsbeilagen auf – für den US-Markt. In europäischen Champix-Beipackzetteln werden seit kurzem Nebenwirkungen wie Aggressivität oder Depression erwähnt, allerdings als Folge des Nikotinentzugs bezeichnet.
Doch könnte sich das Beharren auf das Projekt Vareniclin für Pfizer noch als recht teuer erweisen: Der Pharamindustrie-Nachrichtendienst Pharmalot meldete am 10.Juli, dass die Witwe eines Mannes, der sich nach der Chantix-Einnahme erschossen hatte, Pfizer verklagt hat. Sollte die Klägerin Recht bekommen, ist eine Lawine an ähnlichen Klagen wohl kaum mehr zu vermeiden (8).
Pfizer wird in den USA also noch eine Menge "Informationsarbeit" leisten müssen, um sein Produkt in Zukunft an den Raucher und die Raucherin zu bringen. In Europa ist das nicht notwendig. Bei uns gilt: "Über Wirkungen und eventuelle Nebenwirkungen informieren Sie Gebrauchsinformation, Arzt oder Apotheker". Und zwar ganz im Sinne des Pharmakonzerns.
Quellen: (1) http://www.rauchertelefon.at/portal/index.html?ctrl:cmd=render&ctrl: window=rauchertelefonportal.channel_content.cmsWindow &p_menuid=63209&p_tabid=4 (2) http://www.oeaz.at/zeitung/3aktuell/2007/05/serie/ serie05_2007tara.html (3) http://www.bio-medicine.org/medicine-news-1/ Quit-Smoking-Drug-May-Raise-Suicide-Risk-10800-1/ (4) http://gesundheit.blogger.de/stories/960660/ http://www.dallasnews.com/sharedcontent/dws/news/ localnews/stories/DN-musiciandead_05met.ART.State. Edition2.4247864.html http://en.wikipedia.org/wiki/Carter_Albrecht (5) http://www.fda.gov/cder/drug/early_comm/varenicline.htm (6) http://www.medicinenet.com/script/main/art.asp?articlekey=86890 (7) http://blogs.wsj.com/health/2008/05/21/ faa-bans-chantix-for-pilots-air-traffic-controllers/ http://blogs.wsj.com/health/2008/05/23/ more-trouble-for-pfizers-smoking-cessation-drug-chantix/ (8) http://www.pharmalot.com/2008/07/ widow-sues-pfizer-over-chantix-suicide/ |