Am 30. April 1977 marschierten erstmals Mütter vor dem Regierungssitz auf der „Plaza de Mayo“, um Aufklärung über das Verschwinden ihrer Töchter und Söhne zu fordern. Es sollte ein langer Marsch werden, denn erst jetzt stehen erstmals Militärs vor Gericht, die den Genozid an 30.000 Menschen zwischen 1976 und 1983 zu verantworten haben. Die „Madres“, heute Frauen im Alter von 80 bis 90 Jahren, sind also noch lange nicht an ihrem Ziel. Auf dem Weg dorthin betreiben sie eine Bibliothek, ein Literaturcafé, eine Buchhandlung, einen Verlag, eine Zeitung, ein Radio, eine Druckerei und seit acht Jahren eine Volksuniversität.
„Das Zölibat ist wichtig? Was sagt der Papst zu so vielen Arschloch-Hurensöhnen von Priestern, die vergewaltigend die religiösen Schulen überschwemmen? Der Papst ist eine erbärmliche Figur!“, ruft eine aufgebrachte Frau mit weißem Kopftuch vor dem Regierungssitz, der Casa Rosada, in ein Megaphon. „Richtig, Hebe!“, ist aus dem Publikum zu hören. Hebe de Bonafini ist zu so etwas wie das Flaggschiff der Bewegung der „Madres de la Plaza de Mayo“ geworden, und der Donnerstags-Marsch der Madres steht mittlerweile in jedem Guide über Buenos Aires als Sight-Seeing-Termin. Aber wer weiß, wie viele der anwesenden Schnappschuss-Touristen die anti-imperialistischen Parolen von Hebe auf Spanisch überhaupt verstehen … Neben einem perfekten Merchandising vom Schlüsselanhänger über das T-Shirt bis zum Kaffeehäferl haben die Madres dennoch ihre politische Mission nicht aus den Augen verloren.
Widerstand als Pflichtlektüre
Was mit einem Seminar über die kritische Aufarbeitung der Zeitgeschichte Argentiniens begann, gipfelte im April 2000 in der Eröffnung einer Universität, der „Volksuniversität der Mütter der Plaza de Mayo“. Mittlerweile bietet die Universität acht verschiedene Lehrgänge, drei Universitätsstudien mit offiziellem Titel und zahlreiche öffentliche Seminare, Vorlesungen und sonstige Veranstaltungen an. Zweimal jährlich veranstaltet die UPMPM auch internationale wissenschaftliche Kongresse, rund 800 Studierende besuchen die Bildungseinrichtung und werden dabei von 140 Lehrenden betreut. Egal ob sie sich zu AnwältInnen, JournalistInnen oder SozialarbeiterInnen ausbilden lassen, ein Seminar müssen sie hier alle besuchen: jenes der Geschichte der „Madres“, das neben anderen von der Anthropologin Inés Vázquez geleitet wird, die auch mit der wissenschaftlichen Leitung der Universität beauftragt ist.
Institutionelle Stipendien
„Die Militärs und die darauf folgenden zehn Jahre des Neoliberalismus haben nicht nur Menschen zum Verschwinden gebracht, sondern auch ein Bildungssystem zerstört. Ein Bildungssystem, das der Motor zur Veränderung in Richtung einer sozial gerechteren Welt war“, erklärt Inés Vázquez dem Augustin die Notwendigkeit, sich im Bildungswesen zu engagieren. In der Volksuniversität der Madres ist nicht für alle Studien eine Matura erforderlich. Dennoch ist in allen Studienrichtungen eine Gebühr von 25 bis 40 Pesos (etwa 6 bis 10 Euro) monatlich zu entrichten. Für Studierende, die in sozialen Organisationen und NGOs arbeiten und bei denen sichergestellt ist, dass sie ihr universitäres Wissen wieder in besagte Organisationen einbringen, gibt es jedoch Stipendien. Natürlich können diese – auch nicht sehr vehement eingehobenen – Gebühren den Betrieb der Universität nicht finanzieren. Momentan wird er hauptsächlich durch die Madres und durch Spenden getragen. Mit dem kürzlichen Start von drei staatlich anerkannten Universitätsstudien erhofft sich Inés Vázquez allerdings auch öffentliche Gelder für die Bildungseinrichtung. Denn in Universitäten und Schulen anderorts vermisst Vázquez die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit bis auf Initiativen einzelner LehrerInnen gänzlich. Auch den Mangel an Publikationen innerhalb Argentiniens über die Madres beklagt die wissenschaftliche Leiterin.
Er lässt die Kirche nicht im Dorf
Sehr anerkennende Worte in punkto Vergangenheitsaufarbeitung finden die Madres über den aktuellen Präsidenten Nestor Kirchner. „Er hat Schritte gesetzt, die vor ihm noch keiner gewagt hat“, erklärt Inés Vázquez. Unter ihnen seien auch viele symbolische, aber sehr wichtige Gesten. So ließ er etwa in der Militärakademie die Konterfeis der beiden Generäle Videla und Bignone – beide an grausamsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt – abhängen und durch Gedenktafeln ersetzen. In einem Land, in dem das Militär in der Geschichte dermaßen oft Einfluss auf die Politik genommen hat, ist eine Kraftprobe dieser Art mit den Streitkräften bemerkenswert. Kirchner arbeitete auch mit voller Kraft an der Rücknahme der Amnestiegesetze, die nach dem endgültigen Rückzug der Militärs aus der Politik ausgehandelt wurden. Und schon bald werden 200 bis 300 der Verantwortlichen des Genozids in Argentinien vor Gericht stehen. Bis dahin wird Hebe de Bonafini wohl noch öfters ihre Donnertagsrede mit den Worten „Wir sehen uns nächsten Donnerstag“ beenden, und die KundgebungsteilnehmerInnen werden in Sprechchören antworten: „Jetzt führt kein Weg mehr vorbei: Gebt sie uns lebend zurück und stellt die Verantwortlichen vor Gericht.“ |