Samstag, 24. Januar 2009
 
Wahlrecht für MigrantInnen PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Ljubomir Bratic   
Montag, 4. August 2008

Ljubomir Bratic zur nationalstaatlichen Inszenierung von Wahlkämpfen und Wahlen, mit denen der Schein der Demokratie bei der Mehrheitsbevölkerung gewahrt wird, während auf der anderen Seite österreichweit mehr als 10% der Bevölkerung von der politischen Mitsprache ausgeschlossen sind.

Wer sich dem Wahlrecht für Migrantinnen
in den Weg stellt, ist eine Rassistin.

Wir haben keine Wahl,
aber eine Stimme.

Wir sind hier,
weil ihr dort seid.

Alle die hier sind,
sind von hier.

Gleiche Rechte
für Alle!


I. Es stellt sich die Frage, ob wir im Rahmen dieses Prozesses die Auflösung von Nation als Herrschaftsinstrument erleben oder ob die Nation und der an diese Idee gebundene Nationalstaat nicht gerade eine entscheidende Pufferfunktion zwischen den auf die supranationale und globale Ebene abgewanderten Entscheidungsinstanzen und den Interessen der Bevölkerungsmehrheiten erfüllen. Jedenfalls werden die national verfassten Institutionen immer mehr zu Alibi-Instanzen. Die Entscheidungen werden diesen Instanzen vorgegeben, sodass sie nur mehr für die nationalstaatliche Absegnung der Entscheidungen, deren formelle Legitimation und deren Durchsetzung im Staatsgebiet zuständig sind. Signifikant ist jedenfalls die Doppelbewegung, der die nationalstaatlich verfassten “Demokratien" unterworfen sind: Einerseits drängen neue Gruppen in Richtung
demokratischer Mitbestimmung (Wahlrecht für NichtstaatsbürgerInnen). Andererseits passiert massive Entdemokratisierung durch Verlagerung der Entscheidungen weg von den “demokratisch" legitimierten Instanzen.


Damit wird unser demokratisches politisches System von drei Seiten ausgehöhlt. Erstens haben die demokratisch legitimierten nationalstaatlichen Organe immer weniger Regelungskompetenz aufgrund der Transnationalisierung insb. der Ökonomie. Zweitens wächst durch Migration jener Anteil der Bevölkerung, der von der gesellschaftlichen Partizipation (Wahlrechte, Arbeitsrechte, usw.) ausgeschlossen ist. In Österreich betrifft das allein auf Basis der inadäquaten offiziellen Zahlen 10% der dauerhaft niedergelassenen Bevölkerung. Und drittens wächst die allgemeine Bereitschaft, unter dem Titel Sicherheit polizeistaatliche Methoden zu verbreiten bzw. sich diesen zu unterwerfen oder sie gar zu fordern.


Die Differenzierung zwischen zwei Kategorien Menschen, für die auch zwei Rechtssysteme und Parallelarbeitsmärkte geschaffen wurden, dauerte bis Mitte der 1990er Jahre an. Mit dem Beitritt zur EU änderte sich auch diese rassistische, begriffliche Bipolarität. Die Gesetzeslage verkomplizierte sich und es wurden neue Zuschreibungen wie: “EU-BürgerInnen", “Drittstaatsangehörige", “AusländerInnen, deren Herkunftsstaaten ein Assoziationsabkommen mit der EU haben", “de facto Flüchtlinge" usw. gefunden.


Welchen dieser Kategorien die “Ausländer" zugewiesen werden, hat weitreichende Konsequenzen für ihre alltäglichen Lebensbedingungen. Dadurch wird entschieden, ob es ein Wahlrecht gibt und auf welcher Ebene und innerhalb welcher Interessensvertretung es ausgeübt werden kann, welche Wohnmöglichkeit zur Verfügung steht und wie es mit den Chancen, eine Arbeit zu bekommen und im Beruf voranzukommen, steht.


Stehen Wahlen an, sind nur WählerInnen interessant: die vielbeschworenen BürgerInnen. MigrantInnen sind ausgeschlossen von dieser rudimentären Teilhabe an der gesellschaftlichen Gestaltung. Damit existieren MigrantInnen in Wahlkampfzeiten entweder gar nicht in der Öffentlichkeit oder sie sind Spielball der herrschenden Interessen: degradiert zu Objekten in ausländerInnenfeindlichen Wahlkampfparolen oder zu Objekten einer vermeintlichen Multikulturalität für die aufgeschlossenen WählerInnen. MigrantInnen als politisch handelnde Subjekte, als ProtagonistInnen, haben es in Wahlkampfzeiten noch schwerer, sich Gehör zu verschaffen, wenn jegliche Politik reduziert wird auf Wahlstimmen- Verwertungslogik.


In Österreich beruht die Diskriminierung u.a. auf dem Artikel 7 B-VG, der das
Gleichbehandlungsgebot auf StaatsbürgerInnen einschränkt. Diese Einschränkung ist eine Form der verfassungsrechtlichen Diskriminierung und hat in einer pluralistisch- demokratischen Verfassung nichts verloren. Das Gleichbehandlungsgebot muss auf alle in Österreich ansässigen Menschen ausgedehnt werden.


Alle Macht geht vom Volk aus, kehrt aber nicht zu ihm zurück. Bis zur nächsten Revolution oder sonstigen Neuordnung (z.B. nach einem verlorenen Krieg) gilt: Volk bleibt Volk. Im österreichischen Fall: das Post-NS-Volk von 1945, mehrheitlich Herr und Frau Karl nicht unähnlich. Von der Volkssouveränität bleibt nur der völkische Gedanke. Eine Änderung des Volkes wird nicht zugelassen. Wahlrecht erfordert Einvolkung und die läuft dem völkischen Prinzip zuwider; dementsprechend schleppen sich die Einbürgerungsverfahren dahin und
DoppelstaatsbürgerInnenschaft gibts auch nicht.


Die Ratlosigkeit und Vogel-Strauss-Politik der Wiener Regierung bezüglich der MigrantInnen wird weiter andauern. Die Mutlosigkeit bezüglich der - noch von Ex-Integrationsstadträtin Renate Brauner initiierten - sehr mutigen Wahlrechtsinitiative hat sich schon beim aller ersten Interview der neuen Integrationsstadträtin Sonja Wehsely gezeigt, und dieser Zustand dauert bis heute, wie wir aus den Presseberichten über ihre Tätigkeit und aus den Presseaussendungen ihres Büros entnehmen können. Den neuen Restriktionen im “Fremdenpaket" haben die SozialdemokratInnen auf Bundesebene mit dem Argument, dass es noch schlimmer hätte werden können, zugestimmt. Die Häftlinge der rassistischen Operation Spring sitzen nach wie vor hinter Gittern. Der Menschenrechtsbeirat – installiert nach der Tötung von Marcus Omofuma – ist zu einem reinen Alibiinstrument verkommen. Und die Gefängnisse springen aus allen Nähten, weil sie mit MigrantInnen überfüllt sind. 45% der Insassen dort sind nach den Worten der Justizministerin “Ausländer".


II. Eine wesentliche Voraussetzung für die Ausbildung und Formulierung von Interessen ist eine verallgemeinerte Basis, eine Gleichheit oder zumindest Ähnlichkeit von Ausgangsbedingungen. Dies ist im Fall von rassistisch diskriminierten Personen und Gruppen in Österreich der Fall: Für sie alle ist ein Ausschluss von politischer Partizipation wirksam. Dieser Ausschluss ist für
die meisten schon formalrechtlich darin begründet, dass – aktive und passive – Wahlrechte an den Besitz der österreichischen bzw. der EU-Staatsbürgerschaft gebunden sind. Die reale Verfasstheit des politischen Vertretungsprozesses, seiner Rekrutierungsmechanismen und inneren Machtverhältnisse, ist jedoch derart gestaltet, dass auch nicht-weiße österreichische StaatsbürgerInnen ausgeschlossen sind: Es gibt schlicht niemanden aus dieser “Gruppe", die/der eine (relevante) politische Funktion bekleiden würde – auch keine sozial einflussreiche Position in den Medien, den Verbänden, im Wissenschaftssystem, in der Wirtschaft, etc. Dies kann selbstverständlich nicht als Zufälligkeit begriffen werden.


“Alle Menschen, die in Österreich leben, sind vor dem Gesetz gleich." Diese Forderung schließt viele andere mit ein. Vor allem: das allgemeine, freie und gleiche Wahlrecht.


Eine Parole, für die die alte Arbeiterbewegung am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Straße ging. Und die zur Schande dieses Landes bis heute nicht verwirklicht ist. Wir wollen uns aber nicht abspeisen lassen mit billigen kleinen Reformen, mit Ausländerbeiräten oder dem Wahlrecht in Bezirken und Gemeinden. Auch nicht (so wichtig das sein mag) mit dem passiven Wahlrecht in den Betrieben. Das alles wollen wir natürlich auch. Aber es genügt uns nicht.


Mit diesem Konzept für gleiche Rechte zu kämpfen, hat den deutlichen Vorteil, dass alle speziellen Forderungen der Minderheiten von der EU-Staatsbürgerschaft abgeleitet werden können:

- das Recht, in der EU frei zu reisen

- das Recht, sich ohne zeitliche Beschränkung in allen EU-Ländern niederzulassen

- unbeschränkter Zugang zu Arbeitsmarkt und Wohnungsmarkt

- das aktive und passive Wahlrecht auf lokaler, nationaler und EU-Ebene

- unbeschränkter Zugang zu Sozialleistungen: Gesundheit, Arbeitslosenhilfe, Renten

- Zugang zu schulischer und beruflicher Bildung

- das Recht zur Familienzusammenführung

- Schutz gegen die Verletzung von Persönlichkeitsrechten: Datenmissbrauch, Fingerabdrücke

Das Konzept der Wohnbürgerschaft scheint das sinnvollste Konzept angesichts des Normalwerdens von Massenmigration zu sein: Rechte, die an die Staatsbürgerschaft gekoppelt waren, werden von ihr entkoppelt und an die Person geknüpft.


Neben den allgemeinen Wahlen sind Interessensvertretungen ein weiterer wichtiger
Partizipationshebel. Es versteht sich von selbst, dass alle auf Rollenbeziehungen zugeschnittenen Interessensvertretungen keinen Unterschied der Staatsbürgerschaft kennen dürfen, da diese in den Rollenbeziehungen keine Rolle spielt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Migranten in ihrer Eigenschaft als “Ausländer" eigene Vertretungskörperschaften brauchen. Dafür spricht, dass die Kategorie “Ausländer" ein gemeinsames Ausgrenzungsmerkmal ist, dagegen jedoch, dass dieses Merkmal vom Nationalstaat gesetzt ist und keinerlei rollen- oder
interessenbezogene Bedeutung hat. Zudem würde die Installierung einer eigenen Interessensvertretung der Ausländer den Ausgrenzungscharakter dieses Status zementieren und das Bild bestätigen, dass Ausländer den Kern des Integrationsproblems darstellten und dieses nicht als gesamtgesellschaftliches Thema zu sehen sei.


Trotz der unzweifelhaften Erfolge im Feld der Antidiskriminierungspolitik bleiben dennoch wesentliche Fragen offen: Trotz der europäischen Einigung wird es auch in der nächsten Zukunft eine Reihe von Bereichen geben, die nicht der europäischen, sondern nationalstaatlicher Kompetenz unterliegen. Die Diskriminierung auch langansässiger Einwanderer aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit zu einem Nicht-EU-Staat dürfte also auch in Zukunft Realität bleiben und das für Demokratien grundlegende Legitimationsprinzip unterlaufen, dass alle in einer politischen Gemeinschaft Lebenden gleichermaßen den gleichen Gesetzen unterworfen sein sollen und an deren Gestaltung durch das Wahlrecht teilhaben können.


Ohne gesetzliche Gleichstellung und soziale Akzeptanz wird sich an der Situation der Migrantinnen auch in den nächsten Jahren nicht viel ändern. Integration bedeutet Gleichberechtigung, Integration ist Möglichkeit sozialen Aufstiegs, Integration ist frei entscheiden zu dürfen, ob frau arbeiten will oder nicht. Integration ist die Möglichkeit zu haben, auf allen Ebenen der Gesellschaft sichtbar zu werden und nicht nur in den Putzkolonnen.


Rassismus äußert sich in historisch gewachsenen Strukturen der Ungleichheit. Ihnen liegt das Interesse zugrunde, in Abgrenzung gegenüber explizit rassistisch definierten Merkmalen (z.B. aufgrund der Herkunft, Hautfarbe, Religion) eine kulturelle und ökonomische Hegemonie zu rechtfertigen und durchzusetzen.


Rassismus muss als konstituierendes Kennzeichen eines gesellschaftlichen Systems der Ausgrenzung und Diskriminierung bekämpft werden. Nicht der Dialog mit den hegemonialen Kräften steht dabei im Vordergrund, sondern ein selbstbestimmter Empowerment-Prozess von politisch handelnden Subjekten, die nicht als Opfer gesehen werden wollen.


Neben einer umfassenden Antidiskriminierung auf gesetzlicher Ebene fordert die IG Kultur Österreich:

- die Einrichtung einer WohnbürgerInnenschaft

- allgemeines freies und gleiches Wahlrecht für alle

- die Erweiterung des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebots auf alle Menschen, die in Österreich leben.


Auf einer weiteren Ebene sollte auch die Frage gestellt werden, wer oder was der Staat ist und wer seine BürgerInnen. Ein sehr breiter Zugang wäre die Auffassung, dass jeder in Österreich lebende Mensch eben ÖsterreicherIn ist.


Eine weitere Herangehensweise an die Thematik, wäre der Erhalt der StaatsbürgerInnenschaft über die Geburt im Inland. Auch eine WohnbürgerInnenschaft wäre in Form einer Vorstufe zur StaatsbürgerInnenschaft denkbar. Diese würde einen Rechtsanspruch auf eine freiwillige Einbürgerung nach sich ziehen und der StaatsbürgerInnenschaft weniger Gewicht verleihen. In demokratischen Gemeinschaften ist der Staat unweigerlich ein territorial und personell begrenztes Gebiet, jedoch sollte dieses nicht exklusiv sein.


Auf Verfassungs- und einfachgesetzlicher Ebene muss auch der Ausschluss der MigrantInnen von den politischen Mitbestimmungsrechten beendet werden. Die Wiener Integrationskonferenz fordert das allgemeine, freie und gleiche Wahlrecht für alle Menschen in diesem Land, vom Kommunal- bis zum Parlamentswahlrecht sowie bei den Wahlen zu den Interessenvertretungen (Betriebsrat, Kammern, ÖH). Österreich ist undemokratisch, solange weite Teile der Bevölkerung – österreichweit ca. 650.000 Menschen – den Gesetzen unterworfen sind, ohne an deren Entstehung teilzuhaben.



Das Politische


III. Soll die Krise sowohl antifaschistischer als auch antirassistischer Konzepte überwunden werden, muss auch das politische Denken selbst von nationalen Schranken und kulturalistischem Ballast befreit werden.


Das Politische entsteht nach Rancière (1997) dort, wo Orte und Formen der Begegnung und Auseinandersetzung zwischen den hegemonialen Prozeduren der Distribution von Positionen, Funktionen und Legitimationen auf der einen Seite und dem Prozess der Infragestellung dieser Distributionen auf Basis der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen auf der anderen Seite geschaffen werden. Der politische Antirassismus findet in Österreich eine hochgradig rassistische Strukturierung der Verteilung von Positionen, Funktionen und Legitimationen zwischen rassistisch Diskriminierten und nicht Diskriminierten vor. Sogar im EU-Vergleich kann sich der systematische Ausschluss der größten rassistisch diskriminierten Gruppe, nämlich der MigrantInnen, “sehen lassen". Seit den frühen 70er Jahren ist Österreich das letzte Land in Europa, in dem ausländische ArbeitnehmerInnen mangels passivem Betriebsratswahlrecht nicht in den Gewerkschaftshierarchien aufsteigen können; von kommunalem Wahlrecht ganz zu schweigen.



Strategien der Verdeckung

IV. Die MigrantInnen auf den Listen der politischen Parteien vermeiden tunlichst, das Wahlrecht für alle zu fordern und die MehrheitsösterreicherInnen in dem Bereich haben die Sache an die MigrantInnen delegiert. Ich lese “Vielheit", “Humanität", “Menschenrecht", “Tolerantes Miteinander", „Durchmischung", “Gleiche Chancen". So etwas verlangen sie für uns. Das wollen sie für mich erreichen. Das Wahlrecht steht nirgendwo. Warum eigentlich? Wenn diese MigrantInnen gewählt werden dürfen und wählen können und beanspruchen, mich zu repräsentieren, warum fordern sie für mich und die anderen nicht das Wahlrecht? Diese Fragen müssen natürlich sie beantworten. Eines ist aber sicher, sie landeten auf diesen Plätzen, damit wir MigrantInnen, die nicht wählen können, ihnen diese Frage stellen.


Epilog

V. Welche Parteien sollen nach den Wahlen regieren? Diese Fragestellung ist absurd. Von “regieren sollen" kann überhaupt keine Rede sein. Eine Antwort kann nur in Anlehnung an Groucho Marx erfolgen: Es sollen diejenigen regieren, die nicht regieren. Ich werde auch nach der Wahl jeder Regierung das Regieren, d.h. das Entscheiden über die Köpfe von Betroffenen hinweg möglichst schwer machen.


Die hier abgedruckten Textpassagen stammen von:
ANAR, Arbeitsgruppe Antidiskriminierungspaket, Ljubomir Bratic, Ditutu Bukasa, Andrea Mayer-Edoloeyi, Michael Genner, IG Kultur Österreich, Birge Krondorfer, Mümtaz Karakurt, Gamze Ongan, Christian Pape, Bernhard Perchinig, Rubia Salgado, Hito Steyerl, UNITED



Quelle: MUND Wahlrecht special, 31.7.2008

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