Durch Mülltonnen und Unterwäsche |
Geschrieben von Ralf Leonhard | |
Freitag, 3. Oktober 2008 | |
Die alten Stasi-Schnüffler sind in Ungarn noch immer aktiv. Und sie werden für parteipolitische Intrigen eingesetzt. Das brachte ein Abhörskandal ans Licht, der die kleine Mitterechts-Bürgerpartei MDF erschütterte und die größte Oppositionspartei Fidesz schwer belastet. Es begann damit, dass Geheimdienstminister
György Szilvásy dem parlamentarischen Ausschuss für Nationale Sicherheit Mitte
September Tonaufnahmen vorlegte, auf denen Telefongespräche zwischen zwei
ehemaligen Ministern der Fidesz-Regierung (1998-2002) und József Horváth, zu
hören sind. In den Mitschnitten, die das staatliche Amt für Nationale
Sicherheit, einer der fünf offiziellen Geheimdienste, vorlegte, geht es um den
Stand einer Intrige gegen die MDF-Chefin Ibolya Dávid. Horváth, der vor der
Wende mit der Beobachtung von „Linksabweichlern“ betraut war, brachte seine
geheimdienstliche Erfahrung in ein privates Sicherheitsunternehmen namens UD
Vagyonvédelmi (UD Vermögensschutz ) ein,
das er vor drei Jahren gründete. Sein Teilhaber János Tóth ist ebenfalls
einschlägig vorbelastet: er überwachte einst im Realsozialismus die Kirchen.
Szilvásy sprach von einem „polypenartigen
Schattengeheimdienst“, der aufgeflogen sei. Die Medien tauften den Skandal
„Polypgate“. Dávid hatte sich bei Oppositionsführer
Viktor Orbán unbeliebt gemacht. Das MDF (Magyar Demokráta Fórum war zwar Teil
der konservativen Regierungsallianz unter Orbán, doch anders als die Anführer
anderer Kleinparteien hatte sie die Verschmelzung ihrer Partei mit Fidesz
verweigert. Es wird vermutet, dass die Verschwörung damit zusammenhängt. Im MDF
hatten Orbáns Freunde im Vorfeld der parteiinternen Wahlen den 32jährigen
Kornél Almássy als Gegenkandidaten gegen die seit neun Jahren an der Parteispitze
stehende Dávid in Stellung gebracht. Die Tagszeitung Népszabadság berichtet, dass
die UD auch Mitglieder der sozialdemokratischen Regierung monatelang beobachtet
habe: Wirtschaftminister Gordon Bajnai, den Chef des Nationalen
Sicherheitsamtes Sándor Laborc sowie einen Staatssekretär des
Finanzministeriums. Wie man es aus Spionagethrillern kennt, sollen über die
„Zielpersonen“ Dossiers angelegt worden sein, die Lebensstil,
Wirtschaftskontakte, Bankkonten und Anruflisten beinhalten. Auch sexuelle Vorlieben
wurden ausspioniert und der Haushaltsmüll durchwühlt. UD soll wie ein "Polyp" gearbeitet
und sich Zugang zu den verschiedenen Behörden verschafft haben, um an private
und Geschäftsgeheimnisse zu kommen. Die Computer des Amts für Nationale
Sicherheit wurden laut offiziellen Erklärungen angezapft. Die ungarischen Medien mutmaßen, dass neben
Fidesz auch der Forint-Milliardär Sándor Csányi, Ungarns reichster Oligarch, die
Bespitzelung in Auftrag gegeben haben könnte. Denn die größte Bank OTP, der er
als Generaldirektor vorsteht, zählt zu den besten Kunden des
Schattengeheimdienstes DU. Csányi, der direkt oder indirekt auch am
Erdölkonzern MOL, der Fleischindustrie dem Weinbau und anderen
Wirtschaftszweigen beteiligt ist, soll politische Ambitionen hegen. „Polypgate“ hat inzwischen zahlreiche Opfer
gefordert: allen voran Kornél Almássy, der seine Kandidatur für den Parteivorsitz
zurückzog und aus dem MDF ausgeschlossen wurde. Zurücktreten musste auch der
Fidesz-Abgeordnete Sándor Arnóth, der am Montag anlässlich des Berichts des
Geheimdienstministeriums zornesrot brüllte: „Ihr werdet alle baumeln“. Für
Fidesz ist der Skandal nämlich eine Erfindung der regierenden Sozialdemokraten,
die sich als Opfer inszenieren wollen, da ihnen bei den Wahlen vom kommenden
Jahr eine vernichtende Schlappe droht. Eindeutige Gewinnerin der Affaire ist Ibolya
Dávid, die beim MDF-Parteitag einstimmig wiedergewählt wurde - zum fünften Mal. Mit dem Bonus, den sie als
Opfer einer Intrige genießt, könnte es ihr gelingen, dass sich das MDF, das in
Umfragen bisher unter der Fünfprozenthürde lag, auch nach 2009 im Parlament
halten kann. |
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