Hartnäckig hält sich das Gerücht, mit dem EU-Vertrag würde die Todesstrafe wieder ermöglicht. Was ist dran an der Behauptung?
Um den EU-Vertrag ranken sich etliche Mythen, einer davon ist, daß mit dem EU-Vertrag wieder die Todesstrafe zugelassen oder sogar eingeführt wird. Die Quelle dieser Behauptung sind die "Erläuterungen" zum "Charta der Grundrechte", wo das in der Charta selbst angeführte Verbot relativiert wird.
Dazu ist vorweg einiges zu sagen: Der Grundrechtskatalog selbst ist in seiner Rechtsverbindlichkeit unklar, da er an zwei verschiedenen Stellen des Lissaboner Vertrags einmal als verbindlich und einmal als keinen neuen Rechtsbestand bildend bezeichnet wird; also eine Überprüfung grundrechtswidriger Akte durch den EuGH anhand dieses Katalogs nicht möglich wäre. Abgesehen davon bindet er wahrscheinlich nur die Institutionen der EU, weswegen Richtlinien resp. Gesetze der EU an diesem Katalog zu messen wären, nicht aber nationalstaatliche Rechtsakte. Wobei wiederum diese Lesart des Vertrags auch nicht ganz unumstritten ist, weswegen der Katalog nicht von allen EU-Staaten angenommen worden ist.
Die "Erläuterungen" zum Grundrechtskatalog liegen in einer ähnlichen Grauzone und sind mit den Erläuterungen zu vergleichen, wie sie Beamtenentwürfen zu österreichischen Gesetzen beiliegen. Beide sind nicht rechtsverbindlich, können aber im Sinne einer "historischen Interpretation" von einer juridischen Instanz als Entscheidungshilfe beigezogen werden.
Jene Kritiker, die den Grundrechtskatalog als Instrument zur Rehabilitierung der Todesstrafe ansehen, liegen aber dennoch auf alle Fälle ziemlich falsch. Sie beziehen sich auf folgende Formulierung aus dem Amtsblatt der Europäischen Union C 303/17 aus 2007: "Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen; b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern; c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen". Außerdem ist an der selben Stelle noch die Möglichkeit der Todesstrafe in Kriegszeiten vorgesehen.
An sich ist die Kritik mehr als berechtigt, relativiert die Passage ja nicht nur die Abschaffung der Todesstrafe, sondern gewährt auch die Möglichkeit, den Verfolgungswillen des Staates höher zu stellen als das Leben eines Menschen (cif. b) und daß sich der Staat mit tödlichen Waffen gegen jeden, nicht einmal näher definierten Unmut aus dem Volk wehren darf (cif. c) -- für Staaten, die sich selber Demokratien nennen, äußerst bedenklich.
Nur: Diese Formulierungen waren bisher schon überall in der EU Verfassungsrecht, sind sie doch wortwörtlich dem 6.Zusatzprotokoll (ZP) zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1983 entnommen und dieser Europarats-Vertrag wurde von allen Staaten der heutigen EU ratifiziert. Dieses 6.ZP war ein Meilenstein in der Geschichte der Menschenrechte, da damit das Verbot der Todesstrafe erstmals für den gesamten Bereich des Europarats ausgesprochen worden war. Das war damals nicht so selbstverständlich, denn immerhin hatte beispielsweise Frankreich erst 1981 die Todesstrafe abgeschafft.
Allerdings enthielt das ZP auch obzitierte Formulierungen -- wohl als Zugeständnis an Staaten, die ein erhöhtes Bedürfnis an Ausübung physischer Gewalt gegen ihre Untertanen hatten. Denn selbst dieses laue Verbot der Todesstrafe war für einige Europaratsmitglieder zu viel. So ratifizierte die Türkei erst zwanzig Jahre nach den ersten Unterzeichnerstaaten -- auf Druck der EU -- das 6.ZP. Rußland hat es bis heute nicht in seinen Rechtsbestand aufgenommen.
Wie die gesamte EMRK ist dieses ZP allerdings nur eine Grundrechtsminimalvariante und bindet die nationalstaatlichen Gesetzgeber keineswegs, die Legalität der Tötung durch Staatsorgane nicht weiter einzuschränken -- genausowenig, wie dies die Erläuterungen zum EU-Vertrag tun.
Von einer Wiedereinführung der Todesstrafe durch den Vertrag kann also nicht die Rede sein. Man kann es der EU aber ankreiden, daß sie in diesem Punkt die historische Chance verpaßt hat, diese vor einem Vierteljahrhundert entstandenen Formulierungen nicht im Sinne eines modernen Menschenrechtsstandards anzupassen. Daß sie das nicht getan hat, ist im mildesten Fall als schweres Versäumnis zu werten. Es ist aber durchaus auch denkbar, daß sich in den Regierungen in diesen 25 Jahren die Vorstellungen über ein staatliches Tötungsrecht nicht um ein Jota gewandelt hat.
Erläuterungen zur Charta der Grundrechte: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/oj/ 2007/c_303/c_30320071214de00170035.pdf |