Samstag, 24. Januar 2009
 
Ex-Ombudsmann Vogt: Systemische Gewalt im Heim PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Martin Schenk/Augustin   
Freitag, 19. Januar 2007

Am 31. Dezember vergangenen Jahres wurde entsprechend einer politischen Entscheidung in Wien das trotz seines kurzen Bestehens äußerst erfolgreiche Amt des Pflege-Ombudsmanns abgeschafft. Werner Vogt, Inhaber dieses Amtes, war als kompromissloser Kritiker des Systems der Altenpflege zum Störfaktor geworden.

Zwei Wochen vor dem Finaltag kündigte Vogt in einem Gespräch mit Augustin-Mitarbeiter Martin Schenk an, dass die Politik ihn nicht hindern werde, weiterhin die Rechte der in das „Entmündigungssystem Altenpflege“ Geratenen im Auge zu behalten:


Wodurch geriet die Situation der Altenpflege in deinen Aktionsradius?


In den 70er Jahren war ich auf der „anderen Seite“ von Lainz tätig, als Spitalsarzt. Als solcher musste ich gelegentlich ins Altersheim, um Nadeln zu setzen. Dort gab es damals noch Säle mit 30 Betten. Das war mein erster Eindruck von „Lainz“ – ein erschreckender. In dieser Hinsicht gab es ja Fortschritte. Zu dieser Zeit war ich auch noch als Rettungsarzt unterwegs und lernte einen mir unbekannten Aspekt der Schrebergartenwirklichkeit kennen. Das waren die Einsätze zu den Schrebergartenhütten, in denen sich alte Leute umbrachten, nur deshalb, weil sie nicht nach Lainz abgeschoben werden wollten. 1989 kam es dann zu den berühmten Tötungsdelikten im Krankenhaus Lainz und 2003 erneut zu einem Pflegeskandal im Pavillon 1, wo eine zu pflegende Person in einem katastrophal verwahrlosten Zustand aufgefunden wurde. Die Kronenzeitung nahm die Angelegenheit „in die Hand“ – und das wirkt sich immer auf die Republik aus. Es war das Ende der politischen Karriere der Stadträtin Pittermann. Und der Beginn meiner Tätigkeit als „Pflege-Ombudsmann“.

Was waren deine ersten Eindrücke und Erfahrungen, als du in diesem neuen Amt nach Lainz kamst?

Als erstes bestand ich darauf, dass ich mein Büro mit meinen sieben MitarbeiterInnen hier eröffne, im Pavillon 17. Also im Zentrum des Dramas. Mein erster Eindruck war, dass es überall an qualifiziertem Pflegepersonal fehlte. Das war auch das Thema der ersten Auseinandersetzung. Auf unsere Frage, wie viele Pflegepersonen in Lainz fehlten, bekamen wir die offizielle Antwort: 1,75 (eindreiviertel Personen). Unsere Erhebung ergab, dass mehr als 200 fehlen. Inzwischen ist der personelle Pflegenotstand dadurch verbessert worden, dass man bei gleich gebliebenem Personal die Bettenanzahl verringert hat. Der eigentliche Skandal von Lainz war aber die Dimension der Öde und der Langeweile, die das Leben der PatientInnen prägten. In den Zimmern leben nicht mehr 30 Menschen, sondern 4 – aber wie? Sie sitzen auf dem Gang, und es gibt nur die Wahl, in den Fernsehapparat zu schauen oder nicht. Es gab keine Zeitung, kein Radio und kaum Chancen, ins Freie zu kommen, in dieses wunderschöne, aber menschenleere Gelände – kurz, wir fanden ein System der Ruhigstellung von alten Menschen vor. Zurecht fürchten sich die Menschen, in dieses System zu geraten, zurecht herrscht der Wunsch vor, zuhause gepflegt zu werden.

Diese Situation scheint ein systemisches Problem in den Heimen auszudrücken. Die Jugend- und Erziehungsheime wiesen oder weisen ja ähnliche Entwürdigungs- Mechanismen auf.

Einrichtungen dieser Art neigen zur Entgleisung. Es passiert, was aus der Sicht der Heimleitung die Verwaltung vereinfacht, und es passiert nicht, was die Alten oder die Kinder wünschen. Ich bin ja auch schon alt, als 68-Jähriger. Aber ich lasse mir nicht vorschreiben, dass ich mich um 18 Uhr niederlegen und am nächsten Tag um 6 Uhr Früh aufstehen muss. Das geht nicht, das ist ein unmöglicher fremdbestimmter Zustand. Der Mensch muss seinen Eigenrhythmus behalten dürfen. Das System Heim setzt sich darüber hinweg. Weil kein durchschnittlicher Mensch 12 Stunden liegen kann, wird er im Heim mit Schlaftabletten ruhig gestellt. Es bedarf also Mittel der Gewalttätigkeit, um diese inhumane Ordnung aufrecht zu erhalten. Dazu kamen die Sinnlos-Regeln, etwa dass es den PatientInnen verboten war, von der ersten in die zweite Station spazieren zu gehen. Es gab, als wir antraten, niemanden, der die PatientInnen in die Anlage hinaus begleitete. Wir versuchten, freiwillige HelferInnen dafür zu gewinnen. Wenn man die Vereinsamung und Isolation aufheben will, braucht man viel Kontakt von außen.

In Dänemark, so las ich kürzlich, wurde diese Pflegedebatte, wie sie heute in Österreich abläuft, schon in den 80er Jahren geführt, mit der Konsequenz, dass solche Großanstalten, die eine Tendenz zur Demütigung der Insassen haben, aufgelöst wurden.

Das ist auch die einzige Lösung. Es wird schon einen kleinen Rest von Menschen geben, die so krank und pflegebedürftig sind, dass stationäre Einrichtungen wie Altenkrankenhäuser ihre Bedeutung behalten. Aber die sind in Wien viel zu groß konzipiert, etwa das Altenkrankenhaus in Lainz. Die „40.000 ausländischen HauspflegerInnen“, die im Vorjahr Gegenstand einer aufgeregten Debatte waren, sind ja ein Ausdruck des Protestes gegen das Heim und ein Hinweis darauf, dass immer mehr Betroffene zuhause gepflegt werden wollen. Die Qualität der Pflege wird immer nach der Intensität der Betreuung beurteilt. In dieser Hinsicht bekommen die meist slowakischen „illegalen“ PflegerInnen die besten Noten. Wenn du Alte in Lainz fragst „Wer ist gut zu Ihnen?“, werden die genannt, mit denen es sich reden lässt – die Bedienerin und der Zivildiener. Das Pflegepersonal huscht vorüber – und kann deshalb nur selten genannt werden. Ärzte werden nie genannt. Kommunikationslosigkeit und Isolation führen zu einem Stopp der geistigen Bewegung. Die Betroffenen werden tatsächlich still und stumm und depressiv – und das wird oft so gedeutet: „Der ist ja schon ganz daneben!“ Der Sachwalter wird eingeschaltet, der eigene Verstand wird geraubt, ein fremder Verstand eingeführt. In den Großanstalten schreiten die Entmündigungsprozesse mit einem speziellen, rapiden Tempo voran. Daher kann so ein System nur zerstört werden. Nur Kleinsteinheiten für LangzeitpflegepatientInnen haben ihre Berechtigung. In jedem Bezirk eine Kleinsteinheit anstelle einer Rieseninstitution am Rande der Stadt. Die Stadt Wien ist auf diesem Gebiet auf eine traurige Art hartnäckig, denn schon wird ein großes neues Heim in Liesing geplant, für 350 Alte; und ein Haus der Barmherzigkeit entsteht für 250 Alte – ein Wahnsinn. Vorarlberg ist das positive Gegenmodell: Hier baut man Kleinsteinheiten, kleine Wohnunsgverbände, wo gelegentlich Betreuer aus der Gemeinde vorbeikommen, um nachzusehen, ob es Probleme gibt.

Wie könnte dieses alternative System aber für alle leistbar werden?

Wer wird alt und bleibt gesund? Das sind die gut Gebildeten und die mit gutem Einkommen. Man muss also Bildung fördern und Armut bekämpfen – das ist die Prävention gegen den Pflegenotstand. Man muss altengerechte und barrierefreie Wohnungen schaffen. Und es muss einen Rechtsanspruch auf Rehabilitation geben. Wenn sich einer trotz barrierefreier Musterwohnung einen Schenkelhalsbruch zuzieht, muss mit ihm drei Monat lang geübt werden, auch wenn er alt ist. 80 Prozent der Betroffenen könnten dadurch nach dem Unfall wieder nach Hause kommen. Wenn man all das nicht macht, landen die Alten in der Langzeitpflege, die viel kostet und gleichzeitig viel Unglück produziert. Dazu braucht es Aufklärung über Alterskrankheiten. Es herrscht ein regelrechte Demenzhysterie in diesem Land. Alle glauben, älter werden heißt dement werden. Wichtig wäre auch, die Ärzte aufzuklären. Oft wird Demenz behandelt, die keine ist, oft wird Alzheimer diagnostiziert, der keiner ist. Oder er wird falsch behandelt. Wenn Pflege notwendig ist, darf sie für die PatientInnen und ihre Angehörigen nicht zum finanziellen Drama werden. Eine staatlich finanzierte Pflegesicherung muss her. Die Pension, das Eigentum, das Ersparte, auch das Einkommen der Angehörigen – also all das, worauf die Pflegeheimträger Zugriff haben – muss den Betroffenen bleiben.

Das Gespräch fand im Geriatriezentrum Wienerwald (besser als Lainz bekannt) statt.

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