Für die sozialen Bewegungen, allen voran die Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) war es der „Rote April“, für die indigene Bewegung war es der „Indigene April“. Ganz Brasilien war Schauplatz von Landbesetzungen und Demonstrationen bis hin zu einem Aktionscamp in Herzen der Hauptstadt Brasilia.
Schwerpunkt waren der verarmte Nordosten, der wegen unzähliger gewalttätiger Landkonflikte berüchtigte Amazonasstaat Pará sowie der Südosten mit den Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro. Schon seit mehreren Jahren konzentrieren sich große Teile der sozialen Bewegungen auf dem Monat April, um Stärke zu demonstrieren und auszuloten, wie es um das Kräfteverhältnis gegenüber der Regierung von Präsident Luis Inácio Lula da Silva steht, dessen Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) für den Großteil der Linken eine bittere Enttäuschung ist.
Für die indigenen Bewegungen ist der 20. April ein zentrales Datum: Vor genau zehn Jahren verbrannten Jugendliche aus der Mittelklasse in Brasilia den Pataxó-Indígena Galdino Jesus, der in einer Bushaltestelle geschlafen hatte. Das Verbrechen rief landesweit Entsetzen hervor und markiert den Kampf der Bewegung gegen Rassismus, Gewalttaten und politische Willkür. Anders als in den vergangenen Jahren wurden die Indígenas, die aus allen Landesteilen angereist waren und tagelang in der Hauptstadt campierten, von Präsident Lula empfangen und konnten ihre Forderungen vortragen. Konkrete Zusagen wollte der Präsident keine machen, doch gestand er öffentlich ein, es in seinen ersten vier Amtsjahren nicht geschafft zu haben, die soziale Lage der brasilianischen Indígenas wie versprochen zu verbessern. Er versprach vollmundig, das jetzt nachzuholen.
Zentrales Datum für die Landlosenbewegung ist der 17. April, der Tag, an dem im Jahr 1996 19 Aktivisten des MST bei einem Protestmarsch in Eldorado dos Carajás im Bundesstaat Pará von der Polizei erschossen wurden. Bis heute ringen die Angehörigen der Toten um juristische Gerechtigkeit. Ihre Bewegung kämpft um Zugang zu Land und für eine Agrarreform. Vier Jahre Lula, so die Kritik des MST, haben an der extrem ungleichen Landverteilung in Brasilien nichts geändert.
„Wenig oder nichts hat die Regierung für eine wirkliche Landreform getan“, beklagen die Landlosen in einer Presseerklärung anlässlich des „Roten Aprils“. „Die Priorität liegt weiterhin beim Agrarbusiness, das immer mehr Pestizide benutzt, kaum Arbeitsplätze schafft und nur für den Export produziert.“
Neben der traditionellen Forderung nach Umverteilung, die der MST immer wieder mit gut organisierten Landbesetzungen und späterem Aufbau von Ansiedlungen unterstreicht, werden genau die Projekte kritisiert, mit denen die Regierung Lula das Wirtschaftswachstum voranbringen will. Zum einen die in vielen Landesteilen geplanten Großprojekte - vor allem Staudämme, die die Vertreibung von Tausenden Menschen zur Folge haben, zum anderen das Ankurbeln der Produktion von Agro-Kraftstoffen, mit denen Lula im Einklang mit der US-Regierung eine angebliche Alternative zu fossilen Brennstoffen schaffen möchte. Vor allem die weitere Ausbreitung von Monokulturen, der so genannten Grünen Wüste, wird kritisiert, da sie keine nachhaltige Landwirtschaft erlaube, prekäre Arbeitsverhältnisse schaffe und nicht zuletzt die Produktion von Nahrungsmitteln gefährde.
Wenige Monate nach dem Beginn von Lulas zweiter Amtszeit haben die sozialen Bewegungen gezeigt, dass sie keinesfalls gewillt sind, die nach wie vor liberale Wirtschaftspolitik zu akzeptieren. Genauso aber ist es Lula gelungen, eine Konfrontation zu vermeiden und den Proteststurm mit Versprechungen und schönen Worten zu bremsen. Nach wie vor kann Lula auf eine breite Beliebtheit, insbesondere unter der verarmten Mehrheit bauen und selbstgerecht auf eine stabile Wirtschaft, eine stabile Währung und kontrollierte Inflation verweisen.
Massenbewegungen wie die Landlosen – aber auch die PT-nahen Gewerkschaften, die gerade gegen die gesetzliche Einrichtung von sozial ungesicherten Arbeitsplätzen mobil machen – stehen vor dem gleichen Dilemma wie in den vergangenen vier Jahren: Sie sind selbst Teil der politischen Basis von Lula. Würden sie ihm mit einem radikaleren Diskurs den Rücken kehren, würden sie die Macht und den Einfluss einbüßen, den sie trotz allem in der brasilianischen Politik haben. |