Samstag, 24. Januar 2009
 
Chile: Ende der Geduld PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Harald Neuber   
Mittwoch, 5. September 2007

Nach Großdemos wegen der ausbleibenden Wirtschafts- und Sozialreformen in Chile beginnt eine Diskussion über das Erbe der Diktatur. Die Sozialistische Linke opponiert gegen Präsidentin Bachelet.


Nach den größten Protesten in der jüngeren Geschichte Chiles ist in dem südamerikanischen Land eine Debatte um das Erbe der Militärdiktatur (1973–1990) entbrannt. Mitte vergangener Woche waren Zehntausende Arbeiter und Studenten in Santiago de Chile und anderen Großstädten auf die Straße gegangen, um soziale und politische Reformen einzufordern. Der Gewerkschaftsdachverband CUT positionierte sich als Organisator der Proteste damit erstmals offen gegen die konsensorientierte Linie der sozialdemokratischen Präsidentin Michelle Bachelet, die unter anderem mit rechtsbürgerlichen Kräften regiert. Seit dem Ende des Pinochet-Faschismus 1990 führt ein Bündnis bürgerlicher Parteien den Staat. Das Regime der sogenannten Concertación zementiert aber nicht nur das Erbe der Diktatur, es grenzt auch kleinere und vor allem linke Parteien von der demokratischen Teilnahme aus. Doch der Widerspruch gegen diese institutionalisierte große Koalition wird lauter.

Denn auch in der vergangenen Woche forderten die Demonstranten die lange überfälligen Reformen ein. Neben sozialen Forderungen nach Überbrückungsgeld, Flächentarifverträgen und einer Arbeits- und Bildungsgesetzreform ging es ihnen vor allem um die Novellierung des Wahlrechts. Der Konflikt dreht sich damit im Grunde um eine Rücknahme neoliberaler und antidemokratischer Bestimmungen, die unter General Pinochet 1980 in Verfassungsrang gehoben worden waren. Die Konfrontation der Protestteilnehmer mit dem Nachlass der Diktatur war aber auch konkret: Die unter Pinochet gegründete Militärpolizei der Carabineros ging massiv gegen die Arbeiter und Studenten vor. Es kam zu mehr als 700 Festnahmen, 33 Militärpolizisten wurden verletzt.

Die Proteste waren nicht nur aus der Gewerkschaftsbewegung unterstützt worden. Neben den Organisatoren der CUT beteiligten sich an den Demonstrationen auch prominente Vertreter der Kommunistischen Partei Chiles (PCCh) – und Abgeordnete der Sozialistischen Partei (PS) von Präsidentin Bachelet. Die Widersprüche zwischen dem Anspruch ihrer Regierung und der sozialen und politischen Wirklichkeit der Bevölkerung sorgen damit erstmals auch für offene Spannungen im Regierungslager. Wie die Gewerkschaften wiesen auch Abgeordnete der PS auf ein schwer zu leugnendes Paradoxon hin: Während die makroökonomischen Bilanzen Chiles immer besser aussehen – das Bruttoinlandsprodukt legt im Schnitt um sechs Prozent zu –, haben die sozialen Probleme ungebrochen Bestand. Nach Angaben des UN-Entwicklungsprogramms UNDP entfallen auf die oberen zehn Prozent der sozialen Hierarchie 47 Prozent des Einkommens, während sich die unteren zehn Prozent nur 1,2 Prozent teilen müssen. Eine breitere soziale Kluft hat in der Region nur Brasilien zu verzeichnen.

Während die Regierungsspitze auf Gesetzesinitiativen verweist und um Geduld bittet, werden aus dem Regierungslager auch Stimmen lauter, die eine neue Sozialpolitik fordern. An den Protesten nahmen an der Seite von CUT-Chef Arturo Martínez und dem Präsidenten der PCCh, Guillermo Teillier, auch die Senatoren Marcos Ominami und Alejandro Navarro (beide PS) teil. Die Vertreter des linken PS-Flügels positionierten sich damit offen gegen die Dialogpolitik der Regierung. Martínez von der CUT wertete dieses Bündnis zu Beginn der Woche als Erfolg: Zum ersten Mal würde die soziale Ungleichheit in Chile offen diskutiert, wird der Gewerkschaftsführer in der kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina zitiert. Das sei die Voraussetzung für grundlegende politische Veränderungen, die Chile brauche.

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