Venezuelas Wirtschaft wächst beträchtlich. Laut einer US-Studie sind dafür auch Bereiche außerhalb des Energiesektors verantwortlich. Der hohe Kurs des Bolivar belastet jedoch die Entwicklung.
Das Ärgerlichste an Hugo Chávez ist für seine Gegner, dass er viel Geld hat. Anders als die Sandinisten im Nicaragua der achtziger Jahre oder das sozialistische Kuba lässt sich der linken Regierung in Caracas mit wirtschaftlichen Druckmitteln nicht beikommen. Bei einem Ölpreis von derzeit über 70 US-Dollar pro Barrel (159 Liter) an der New Yorker Rohstoffbörse wird die bolivarische Revolution so bald keine Liquiditätsprobleme bekommen. Zumal die Kosten für das schwarze Gold im kommenden Winter auf über 90 Euro steigen könnten. Selbst die "US Energy Information Agency" prognostiziert für die kommenden Jahre einen durchschnittlichen Preis von 65 US-Dollar.
8,9 Prozent Wachstum
Die in- und ausländischen Gegner des Regierungskurses von Staatspräsident Chávez versuchen den Eindruck zu wecken, es gebe keine Erfolge. Venezuelas beträchtliches Wirtschaftswachstum von derzeit 8,9 Prozent, so ist immer wieder zu lesen, sei allein dem Boom des Öls geschuldet. Wenn dessen Preis auf den Weltmärkten falle, sei auch das Ende des "Diktators Chávez" gekommen. "Das an Erdöl so reiche Land", meinte etwa der 3Sat-Börsendienst in der vergangenen Woche, "könnte spätestens in einem Jahr plötzlich ganz arm darstehen." Und auch der Berliner Tagesspiegel sieht die Politik von Staatspräsident Chávez als "fast ausschließlich aus Öleinnahmen finanziert". Venezuelas Wirtschaft steuere daher auf eine Krise zu.
Anders als die meisten solcher Medienberichte führt eine jüngst erschienene Untersuchung des US-amerikanischen Zentrums für Wirtschafts- und Politikforschung mit Sitz in Washington Statistiken an – und kommt auf deren Basis zu einem gänzlich anderen Schluss: "Viele Zahlen weisen darauf hin, dass die These eines allein auf dem hohen Ölpreis basierten Aufschwungs nicht zurifft", sagt der Ökonom Mark Weisbrot, einer der beiden Autoren. Aufgrund der politischen Instabilität in den ersten vier Jahren der Chávez-Regierung habe die Wirtschaft des Landes zwar einen erkennbaren Schaden erlitten. Seither aber gehe es aufwärts. Seit dem Tiefpunkt im ersten Trimester des Jahres 2003 – nach einem Putschversuch und einer groß angelegten Sabotageaktion der Opposition in der Erdölindustrie – habe das Bruttosozialprodukt um 76 Prozentpunkte zugenommen, schreiben Weisbrot und sein Mitautor Luis Sandoval in der Studie "Die venezolanische Wirtschaft in den Zeiten Chávez'", die bislang in spanischer und englischer Sprache erschienen ist.
Unter Rückgriff auf Regierungsangaben zeichnen die Autoren ein verhalten positives Bild der binnenwirtschaftlichen Entwicklung Venezuelas. Grundsätzlich sei ein stabiles Wachstum zu beobachten, das sich vor allem auf den Aufschwung derjenigen Bereiche stützt, die nicht mit der Erdölwirtschaft in Verbindung stehen. Die verarbeitende Industrie etwa habe im ersten Trimester 2007 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 7,8 Prozent mehr Waren produziert, die Strom- und Wasserwirtschaft um 4,6 Prozent. Profiteur des Aufschwungs ist aber vor allem das Bauwesen mit einer Zunahme von 26,5 Prozent und der Transportsektor mit 16,4 Prozent.
Im regionalen Trend
"Die Situation Venezuelas unterscheidet sich aber nicht von der Lage der gesamten lateinamerikanischen Region, die Anfang der achtziger Jahre in eine schwere Krise geraten ist." Allerdings gehe die Regierung in Caracas mit Bedacht vor. Die Devisenreserven belaufen sich inzwischen auf 25,2 Milliarden US-Dollar, auf weiteren Konten lagerten Mittel zwischen 14 und 19 Milliarden US-Dollar. Dies sei genug, um die Gesamtverschuldung des Landes von vergleichsweise bescheidenen 14,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes bedienen und reduzieren zu können. Vor allem aber – und das ist das zentrale Argument gegen die Behauptung, Chávez stütze sich unbedacht nur auf den aktuellen Ölboom – geht die Regierung in Caracas bei ihren Haushaltsplanungen von einem durchschnittlichen Preis von lediglich 29 US-Dollar pro Barrel aus.
Der Aufschwung wirkt sich bisher vor allem auf die soziale Lage der Bevölkerung aus. Von 2003 bis 2006 ist der Anteil Armer unter den Venezolanern nach Regierungsangaben von 55,1 auf 30,4 Prozent zurückgegangen. "Dabei werden die neuen sozialen Dienstleistungen in Gesundheits- und Bildungswesen noch nicht einmal beachtet", schreiben die beiden Autoren der Studie, die Caracas eine Erhöhung der Sozialausgaben von insgesamt 314 Prozentpunkten von 1998 bis 2006 bescheinigen. Auch die Arbeitslosigkeit sei gesunken.
Das große Problem hinter dem venezolanischen Aufschwung ist und bleibt aber die relativ hohe Bewertung der Landeswährung. Hier befindet sich die Regierung in einem Dilemma. Wertet sie die Währung ab, steigt die Inflation, die derzeit immerhin bei 19,3 Prozent liegt. Bleibt sie aber untätig, wird es, wie schon in der Vergangenheit, attraktiver sein, zu importieren, als eigene Produktionsstrukturen zu schaffen – vom Aufbau einer eigenen konkurrenzfähigen Exportwirtschaft außerhalb der Ölsparte ganz abgesehen. Der durch den Erdölreichtum hoch bewertete Bolívar steht damit faktisch dem Aufbau einer eigenen Industrie und einer leistungsfähigen Landwirtschaft entgegen. Der Kampf gegen das historische Erbe der Inflation und für eine ausgewogene Bewertung der Landeswährung werden weiter ganz oben auf der Tagesordnung in Caracas stehen.
Studie im Internet: cepr.net -- www.haraldneuber.de
|