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  akin-Pressedienst.
  Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 9. März 2022; 08:21
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  Krieg/Glosse:
  
  > Pathos statt Nachdenken
  
  Es ist ein Menschenrecht, die Pfeife selbst zu wählen, nach der man tanzt.
  Man hat daher zu akzeptieren, dass die meisten Ukrainer*innen offenbar die
  Pfeife des westlichen Kapitals jener der russischen Oligarchen vorziehen. Es
  ist auch sehr gut zu verstehen, dass sie lieber in einer liberalen
  Demokratie tanzen als in Putins Demokratur.
  
  Ich frage mich aber, ob der Unterschied zwischen diesen beiden Tänzen
  wirklich so groß ist, dass ich bereit wäre, mich für ihn von Granaten
  zerfetzen zu lassen. Oder anders gefragt, ob der Unterschied nicht kleiner
  ist, als uns die Kampfaufrufe ukrainischer Politiker glauben machen wollen.
  Es beschleicht mich der Verdacht, dass ihre leidenschaftliche Rhetorik
  diesen Unterschied so weit aufbläst, damit er möglichst viele Menschen zur
  Selbstaufopferung motiviert.
  
  Leider kann ich über all das nicht richtig nachdenken, weil mir von der auf
  mich einströmenden Inbrunst speiübel ist. Da reicht die Konzentration nur
  für zwei weitere Fragen:
  
  Wieso transportieren die westlichen Medien dieses Pathos so undistanziert
  weiter? Soll es vielleicht verhindern, dass wir uns fragen, nach wessen
  Pfeife WIR SELBST tanzen, und wie viel Gängelung in unserer liberalen
  Demokratie steckt?
  
  Ich kann aber auch darüber nicht nachdenken, weil eine neue Welle der
  Übelkeit hochschwappt. Denn soeben ist mir eingefallen, wie reflexartig
  vormals besonnene Sozialdemokrat*innen und Grüne nun Waffen in die Ukraine
  senden. Genau wissend, dass das nichts am Ausgang dieses Krieges ändert,
  sondern nur seine Dauer verlängert und die Zahl seiner Menschenopfer erhöht.
  
  Ja richtig, je länger dieser Krieg dauert und je mehr Opfer er fordert,
  desto stärker kommt Putins Demokratur ins Wanken. Endlich verstehe ich: Die
  Ukrainer*innen opfern in diesem Krieg ihre jungen Leben für die Verteidigung
  UNSERER Art des Tanzens nach den uns vorgespielten Melodien. Wir selbst
  können leider nicht mit ihnen kämpfen, weil sonst ein Weltkrieg ausbricht.
  Wir können nur von den Balkonen aus applaudieren. Unser Pathos ist also der
  Balkonapplaus für ihr Opfer.
  
  Tschuldigung, da geriet jetzt etwas durcheinander. Balkonapplaus war ja bei
  der letzten Krise. Vor lauter Kriegspathos habe ich vergessen, welche Krise
  das war. Möglicherweise irgendetwas mit Gesundheit. Vor dem Hochsteigen der
  nächsten Übelkeitswelle noch rasch zwei weitere Fragen und ein
  abschließender Gedanke.
  
  Die erste Frage möchte wissen, ob unser Modell der liberalen Demokratie
  nicht besser zu verteidigen wäre durch Investition all des nun in
  Waffenlieferungen und eigene Aufrüstung fließenden Geldes in die Stärkung
  des Sozialstaats und in den Kampf gegen den Klimawandel.
  
  Bei der zweiten geht es wieder ums Pathos: Soll die feierliche
  Ergriffenheit, mit der die EU-Gremien auf den Beitrittswunsch der Ukraine
  reagierten, vielleicht bloß unseren dringenden Wunsch verdecken, dass sie um
  Gotteswillen bitte, bitte draußen bleiben mögen? Weil wir doch ganz genau
  wissen, in welcher Situation wir uns spätestens zehn Jahre nach ihrem
  Beitritt befänden: Die Ukrainer*innen hätten dann all ihre Illusionen über
  eine bessere Zukunft verloren, was mit unausweichlicher Konsequenz eine
  Stärkung des Rechtspopulismus in ihrem Land und damit letztlich auch in der
  gesamten EU zur Folge hätte. Dies aber würde zwangsläufig zu einem weiter
  und weiter gehenden Abbau der liberalen Elemente unserer demokratisch
  verfassten EU führen - mit dem Endergebnis einer Angleichung an Putins
  Konkurrenzmodell der Demokratur.
  
  Die Schlussfolgerung aus dieser Vision ist deprimierend. Denn sie besagt,
  dass der Kampf der Ukrainer*innen für ihren Beitritt zu einer
  liberal-demokratischen EU im Falle seines Erfolgs einen wesentlichen Beitrag
  zur Beschleunigung des Untergangs der so verfassten EU leisten würde.
  *Karl Czasny*
  
  
  
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