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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 3. Februar 2022; 00:35
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Kuba:

> Schlangestehen in der Care-Ökonomie

Der Coronakollaps ist erst mal abgewendet, und der Staat versucht, die
Wirtschaft mit Reformen zu aktivieren. Nach einem Sommer des Aufruhrs ist
wieder Ruhe eingekehrt - nicht zuletzt dank verblüffender Erfolge bei der
Impfstoffentwicklung.
Von *Raul Zelik*, WoZ Nr. 04/2022 vom 27.01.2022

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Die Extreme des spätsozialistischen Kuba manifestieren sich bereits am
ersten Morgen nach der Ankunft im Dezember. Überall Ansammlungen von
Menschen, die auf Brot, Hühnchen oder Waschmittel warten. Dafür aber
funktioniert das Gesundheitssystem: Noch am Vormittag kommt die
Nachbarschaftsärztin vorbei, um sich vorzustellen. In Kuba fehlt es an
Medikamenten, doch die Betreuung durch medizinisches Fachpersonal sucht
ihresgleichen.

Der Gegensatz von Mangel und engmaschiger Sozialversorgung hat auch Kubas
Weg durch die Pandemie geprägt. Nach dem Auftauchen der ersten Covid-Fälle
verfolgte der Karibikstaat zunächst eine resolute No-Covid-Strategie:
Schulen, Kinos und Restaurants waren seit Frühjahr 2020 geschlossen, auf die
Strasse ging die Mehrheit der Kubaner:innen nur, um sich Lebensmittel zu
besorgen. So liessen sich die Inzidenzen ein Jahr lang auf sehr niedrigem
Niveau halten, doch weil schliesslich auch der Staat fast pleite war, wurden
die Quarantäneregeln gelockert und russische Reisegruppen ins Land gelassen.
In der Folge kam es zu einer Coronawelle mit bis zu 10.000 Infektionen
täglich. Die Kombination aus Unterversorgung, strengem Lockdown und
überfüllten Krankenhäusern erwies sich als toxisch - im Juli erschütterten
Unruhen das Land.


Eine eigentliche Impfsensation

Inzwischen stellt sich die Lage fast schon wieder idyllisch dar, die
Sieben-Tage-Inzidenz liegt Mitte Januar trotz Öffnung bei 200, zuletzt
starben im ganzen Land nur noch etwa drei Personen pro Woche an Covid. Zu
verdanken hat Kuba diese spektakuläre Entwicklung - ausgerechnet - dem viel
gescholtenen Staatssektor. Gleich fünf eigenständige Vakzine, die sich vor
der internationalen Konkurrenz nicht verstecken müssen, haben die
staatlichen Pharmaunternehmen entwickelt. Abdala, ein sogenannter
Konjugatimpfstoff, bietet mit einer Wirksamkeit von 92 Prozent einen ähnlich
guten Schutz wie die bekannten mRNA-Vakzine, muss im Gegensatz zu diesen
aber nicht aufwendig gekühlt werden. Soberana Plus kann Kindern ab zwei
Jahren verimpft werden, und Mambisa schliesslich, das gerade in Studien
erprobt wird, wird als Nasenspray verabreicht.

Entsprechend gut gelaunt zeigt sich der Biophysiker Rolando Pérez vom
staatlichen Unternehmen Bio Cuba Farma. Auf die Frage, warum Kuba trotz
ungewisser Erfolgsaussichten auf eigene Vakzine gesetzt habe, antwortet der
schnauzbärtige 72-Jährige mit einem Verweis auf die globalen
Machtverhältnisse: «Uns war klar, dass die Impfstoffe am Anfang knapp und
wir nicht die Ersten sein würden, die beliefert werden», so Pérez.
«Ausserdem besitzen wir grosse Erfahrung mit der Entwicklung von Vakzinen.
Wir wussten, dass wir das schaffen können.» Um die Gefahr des Scheiterns zu
minimieren, habe man parallel an mehreren Projekten gearbeitet.

Das Ergebnis ist nichts weniger als eine Sensation: Die sozialistische
Mangelökonomie Kuba, die an der Produktion von Zahnbürsten scheitert, hat
mehr funktionierende Impfstoffe entwickelt als die reichen Volkswirtschaften
der EU zusammen - und das unter den Bedingungen des US-Embargos. «Selbst
einfache Reagenzgläser zu beschaffen, war kompliziert», sagt Pérez. «Die
waren wegen der Pandemie sowieso knapp, dazu kam dann auch noch das Problem,
wie wir sie bezahlen und hierherbringen.» Tatsächlich verwandeln die
US-Sanktionen jedes Importgeschäft in eine komplizierte Logistikoperation:
Internationale Banken dürfen keine Zahlungen mit Kuba abwickeln, Schiffe
sechs Monate lang keinen US-Hafen ansteuern, nachdem sie in einem
kubanischen waren. Dadurch wird jeder Fertigungsprozess extrem erschwert und
sogar medizinische Hilfe blockiert. Unlängst hat die niederländische Bank
ING sogar Spendengelder zurückgehalten, die an eine Delegation der
Progressiven Internationale gerichtet waren: Die Organisation möchte dazu
beitragen, die kubanischen Impfstoffe für die Länder des Globalen Südens
zugänglich zu machen.

Doch die Situation hat, so Pérez, eben auch Vorteile. «Wenn die Pandemie
etwas gezeigt hat, dann dass gesellschaftliche Faktoren genauso wichtig sind
wie technische oder biologische», erzählt der Biophysiker. «Kuba hat viel
weniger Mittel als die Industrieländer, aber das Prinzip der sozialen
Gleichheit ist für eine funktionierende Gesundheitspolitik eben auch
wichtig.» Es schaffe nämlich die Voraussetzungen dafür, dass eine
Gesellschaft Pandemiebekämpfung als gemeinsames Anliegen begreifen könne.
Anders als etwa in der Schweiz oder Deutschland hat auf Kuba die Bevölkerung
bei der Impfkampagne aktiv mitgezogen. Obwohl keine Impfpflicht besteht,
haben sich 86 Prozent vollständig immunisieren lassen.


Anstehen über Nacht

Der Kollaps des Systems, der zum Höhepunkt der Pandemie im vergangenen
Sommer in der Luft lag, ist dank des Impferfolgs also erst einmal
abgewendet. Doch die ökonomische Krise schwelt weiter. Der Tourismus, mit
normalerweise drei Milliarden US-Dollar jährlich Kubas wichtigste
Devisenquelle, ist weit von seinem Normalniveau entfernt, und dem Land
fehlen die Fremdwährungsreserven.

Vor diesem Hintergrund hat die Regierung von Präsident Miguel Díaz-Canel
versucht, die einheimische Wirtschaft durch Reformen anzukurbeln: Nach
Jahrzehnten zentralistischer Kommandowirtschaft setzt sie nun auf
individuelle und genossenschaftliche Eigeninitiative. Mehr als 200 Berufe
sind für kleine und mittlere Unternehmen freigegeben. Im Strassenbild ist
das unübersehbar: Überall haben kleine Garagengeschäfte geöffnet, die
Secondhandkleider, Gemüse oder Ersatzteile verkaufen. Havanna wirkt wie ein
Flohmarkt - doch für viele Kubaner:innen bedeutet diese Öffnung auch eine
enorme Belastung.

Mayra Tamayo ist Mitte vierzig und arbeitet für eine pensionierte Anwältin,
die mehrere Zimmer ihrer Wohnung an Tourist:innen vermietet. Weil die seit
2020 ausgeblieben sind, hat Tamayo vor allem den Haushalt für ihre Chefin
organisiert. Und das bedeutete: Schlange stehen. «Für Huhn haben wir
manchmal die ganze Nacht angestanden. Man geht abends hin und versteckt
sich, wenn die Polizei vorbeifährt. Man soll nachts nicht Schlange stehen»,
so Tamayo. «Wenn man Glück hat, bekommt man dann am nächsten Tag das Ticket.
Mit dem musst du zu einem festen Termin noch mal zur Ausgabestelle.» Die
Nächte auf der Strasse haben ihr ein Nierenleiden beschert.

Im Rahmen der Wirtschaftsreformen wollte die Regierung dieses Jahr
eigentlich die Libreta abschaffen, das staatliche System der
Lebensmittelzuteilung, über das Kubaner:innen monatlich sieben Pfund Reis,
einige Pfund Zucker, eine Handvoll Eier, einen Viertelliter Speiseöl, Seife
und ein kleines Stück Fleisch beziehen. Das Rationierungssystem hat einen
schlechten Ruf, ist bürokratisch und kostet viel Geld. In der aktuellen Lage
zeigt sich aber, dass es für viele unverzichtbar ist. Wer keine Verwandten
im Ausland hat, die helfen können, benötigt die staatliche Zuteilung. Die
Libreta wirkt letztlich wie ein bedingungsloses Grundeinkommen - hat
allerdings auch dasselbe Problem: Es garantiert ein Lebensminimum,
subventioniert zugleich aber auch jene, die die Unterstützung gar nicht
brauchen.

«Noch schlimmer als das Schlangestehen ist die Inflation», ergänzt Mayra
Tamayo. Sie verdiene 2400 Pesos im Monat, das entspricht real etwas mehr als
30 Euro. «Seit den Reformen sind die Preise explodiert. Ein Pfund Tomaten
kostet 40 Pesos, ein Mittagessen 300», sagt Tamayo. «Wer soll sich das
leisten können?» Die wirtschaftliche Lage der Kubaner:innen scheint
widersprüchlich: Neben Gesundheit und Bildung ist auch das Wohnen fast
kostenlos - 85 Prozent der Bevölkerung sind Eigentümer:innen der eigenen
vier Wände. Dafür sind Kleider, Schuhe und eben auch bestimmte Lebensmittel
für viele unerschwinglich. Durch die Freigabe von Preisen wollte die
Regierung die einheimische Produktion ankurbeln, und tatsächlich füllen sich
Bäuer:innenmärkte und Geschäfte, weil Produzent:innen und insbesondere
Zwischenhändler:innen jetzt selbstständig Geld verdienen können. Aber
gleichzeitig haben die Massnahmen eben auch eine rasante Inflation
ausgelöst. «Die Situation macht mich fertig», sagt Tamayo erschöpft. «Ich
kann nicht mehr.»

Die weitverbreitete Verzweiflung war denn wohl auch der entscheidende Grund
für die Unruhen im Juli 2021. Kubanische Medien führten die Proteste damals
auf eine US-gesteuerte Kampagne zurück, westliche Medien sprachen von einem
Aufstand gegen politische Unterdrückung. Beides scheint nicht besonders
überzeugend. Einerseits ist die Unzufriedenheit nicht zu übersehen, und
manche Protestierende wurden zu skandalösen Haftstrafen verurteilt - einige
Angeklagte sollen für mehr als zwanzig Jahre ins Gefängnis. Zugleich ist der
kubanische Alltag aber viel weniger repressiv, als man vermuten könnte.
Polizei und Armee sind auf der Strasse viel seltener zu sehen als in anderen
lateinamerikanischen Ländern, und es gibt durchaus eine politische
Öffentlichkeit. Seit der Einführung des 4G-Mobilfunknetzes 2018 haben
Kubaner:innen uneingeschränkt Zugang zum Internet.

Kubas Probleme haben vor diesem Hintergrund vermutlich weniger mit der
politischen als vielmehr mit der ökonomischen Lage zu tun. Und beim Besuch
einiger Landwirtschaftsbetriebe in der Provinz Mayabeque, die sich östlich
und südlich von Havanna ausbreitet, wird schnell deutlich, welche Probleme
das sind. Die Staatsunternehmen, die der Verband zur Förderung der
Viehwirtschaft (Asociación Cubana de Producción Animal, ACPA) in der Region
fördert, gelten eigentlich als Vorzeigeunternehmen; hier werden Mozzarella
und Rindfleisch produziert, beides Produkte, die in Kuba sehr gefragt und
nur unter der Hand zu haben sind. Die Leitungen von Zuchtbetrieben und
Produktionseinheiten treten sehr motiviert auf, doch trotz guter Stimmung
lässt sich nicht übersehen, dass in den Betrieben Leerlauf herrscht. Die für
die Käseproduktion zuständige Einheit beispielsweise stellt mit mehreren
Hundert Angestellten nicht viel mehr her als ein europäischer
Familienbetrieb.


Bescheidene Produktion

Der Eindruck bestätigt sich auch bei weiteren Produktionsanlagen. An den
Treffen mit den ACPA-Technikern nehmen jeweils bis zu zwanzig Arbeiter:innen
teil, überall ist Zeit für eine Unterhaltung. Die Betriebe verfügen
teilweise über eine beeindruckende Infrastruktur, über Solaranlagen und gut
ausgestattete Kantinen für die Mitarbeitenden. Die Produktion ist jedoch
bescheiden: Die Viehherden sind klein, die Schlachthöfe und Käsereien wenig
ausgelastet, ein Grossteil der Nutzflächen liegt brach. Seit in den
Neunzigern der Zuckeranbau einbrach, wird gemäss Schätzungen die Hälfte der
landwirtschaftlichen Flächen in Kuba nicht mehr bestellt.

Nelson Norberto González, Leiter der ACPA-Sektion Mayabeque, ist dennoch
guter Dinge. «Wir merken überall, dass es vorangeht. Hier», er zeigt auf
leere Ställe am Strassenrand, «wird in einigen Wochen eine grosse
Kaninchenzucht entstehen.» Auf dem Schlachthof, durch den er zuvor geführt
hat, werde dann vor allem Kleinvieh verarbeitet werden. «Das wird
funktionieren, weil die Bauern jetzt ein gutes Einkommen erzielen können.»

Die Reformen erinnern an die Politik des sozialistischen Jugoslawien in den
sechziger Jahren. Staatliche Betriebe sollen Gemeineigentum bleiben, aber
autonom darüber entscheiden können, was sie produzieren, und ihre Gewinne
einbehalten. Zudem werden die Arbeiter:innen dazu angehalten, auch
eigenständig Brachflächen zu bebauen. Man strebe an, so erläutert der
Direktor eines Zuchtbetriebs, den Leuten ein Gehalt von 10.000 Pesos im
Monat auszahlen zu können. Nur etwa 140 Euro, aber immerhin doppelt so viel,
wie Akademiker:innen verdienen.

«Das ist auch völlig richtig so», meint Nelson Norberto González. «Wer
produktiv ist, muss etwas davon haben. Er tut ja auch etwas Wichtiges für
das Land.» Auf die Erwiderung, ob die Reformen nicht auch problematisch
seien, weil sie die Ungleichheit zementierten, weicht González aus. Wie die
meisten Kubaner:innen äussert er sich ungern zu Problemen, die direkt mit
dem Handeln der Regierung zusammenhängen. «Es ist wichtig, dass die
Versorgung besser wird», sagt González aber, «und die Reformen eröffnen hier
ganz neue Möglichkeiten.»

Auch das ist letztlich sehr speziell: Zwar öffnet das sozialistische Kuba
seine Wirtschaft. Im Augenblick aber eher für kleinunternehmerische
Initiativen und nicht etwa für Weltmarktkonzerne.
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Quelle: https://www.woz.ch/2204/kuba/schlangestehen-in-der-care-oekonomie



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