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  akin-Pressedienst.
  Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 20. Januar 2022; 06:22
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  Ukraine/Russland/NATO:
  
  > "Gleiches Recht auf Sicherheit"
  
  OSZE-Charta: Bündniswahl "nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten".
  Eine neutrale Ukraine? Wie man das Völkerrecht auch lesen kann.
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  Vor dem Gespräch zwischen der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock
  und ihrem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow wurde Kritik am bisherigen
  Konfrontationskurs Berlins und Washingtons gegenüber Moskau laut. Denn
  anders, als Politik und Medien seit Wochen behaupten, ist die "freie
  Bündniswahl" der Ukraine nicht der einzige Grundsatz internationaler
  Vereinbarungen, der mit Blick auf einen etwaigen NATO-Beitritt des Landes
  gilt.
  
  "Sicherheit ist unteilbar"
  
  Das Recht auf "freie Bündniswahl", das die westlichen Staaten zur Zeit für
  die Ukraine in Anspruch nehmen, ist in der Tat in zahlreichen
  internationalen Vereinbarungen ausdrücklich festgehalten worden. So heißt es
  etwa in der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975, die
  Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
  (KSZE) hätten das Recht, "Vertragspartei eines Bündnisses zu sein". In der
  Charta von Paris aus dem Jahr 1990 bekennen sich die Unterzeichnerstaaten
  explizit "zum Recht der Staaten, ihre sicherheitspolitischen Dispositionen
  frei zu treffen". Allerdings ist dieses Recht eingebunden in einen Rahmen,
  der sicherstellen soll, dass die freie Bündniswahl nicht zu einer Eskalation
  von Konflikten führt. So heißt es im KSZE-"Verhaltenskodex zu
  politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit" aus dem Jahr 1994,
  "Sicherheit" sei "unteilbar": Die KSZE-Staaten dürften "ihre Sicherheit
  nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen", sondern müssten
  "ihre eigenen Sicherheitsinteressen" stets "im Einklang mit den gemeinsamen
  Bemühungen um die Festigung der Sicherheit und der Stabilität im KSZE-Gebiet
  und darüber hinaus verfolgen". Sie sollten "ihre wechselseitigen
  Sicherheitsbeziehungen auf einen kooperativen Ansatz aufbauen".
  
  "Nicht auf Kosten anderer Staaten"
  
  Die Einbindung der freien Bündniswahl in einen übergreifenden Gesamtkontext
  ist auch in der Europäischen Sicherheitscharta aus dem Jahr 1999 vorgesehen.
  In den vergangenen Tagen und Wochen wurde zuweilen darauf hingewiesen, dass
  das Dokument in Absatz 8 "das jedem Teilnehmerstaat innewohnende Recht
  [bekräftigt], seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von
  Bündnisverträgen frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu
  verändern". Systematisch ignoriert wurde dabei, dass es im selben Absatz
  heißt, "jeder Teilnehmerstaat" werde "diesbezüglich die Rechte aller anderen
  achten". Dabei habe "jeder Teilnehmerstaat ... dasselbe Recht auf
  Sicherheit". Entsprechend schreibt die Europäische Sicherheitscharta vor,
  die Teilnehmerstaaten würden "ihre Sicherheit nicht auf Kosten der
  Sicherheit anderer Staaten festigen". Dabei dürfe niemand - auch nicht der
  Westen - Vorrang beanspruchen: "Innerhalb der OSZE kommt keinem Staat,
  keiner Staatengruppe oder Organisation mehr Verantwortung für die Erhaltung
  von Frieden und Stabilität im OSZE-Gebiet zu als anderen". In Absatz 9 heißt
  es zudem: "Die Sicherheit jedes Teilnehmerstaats ist untrennbar mit der
  Sicherheit aller anderen verbunden."
  
  "Ein kapitaler Fehler des Westens"
  
  Kritik an der selektiven und damit verfälschenden Inanspruchnahme
  international verbürgter Rechte durch die westlichen Mächte hat kürzlich der
  Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, Eric Gujer, geübt. Gujer zufolge
  trägt der Westen "Mitschuld" an der gegenwärtigen Eskalation der Spannungen:
  Er "ignorierte eine zentrale Lehre der europäischen Geschichte, wohnach die
  beste Voraussetzung für Stabilität ein Gleichgewicht der Mächte ist, das von
  den Beteiligten als fair erachtet wird".[1] Seit Beginn der 1990er Jahre
  habe sich auf dem europäischen Kontinent jedoch "ein Ungleichgewicht
  ausgebildet": "Das russische Imperium wurde ... weit nach Osten
  zurückgedrängt." "Aus russischer Warte ist das kein Gleichgewicht und fair
  erst recht nicht", konstatiert Gujer; insofern hätte "das Ungleichgewicht
  ... Anlass sein müssen, den Dialog zu suchen und so den Konflikt zu
  entschärfen". Das jedoch hätten "die vermeintlichen Sieger der Geschichte"
  unterlassen und stattdessen "der wachsenden Verbitterung Moskaus über die
  Machtverteilung in Europa" völlig "gleichgültig" zugesehen. Das sei ein
  "kapitale[r] Fehler": "Moskau wird nicht aufgeben." Gujer plädiert dafür,
  "das russische Mitspracherecht und eine Neutralität der Ukraine zwischen den
  Machtblöcken [zu] akzeptieren": "Das wäre eine realpolitische
  Frontbegradigung".
  
  Verhandlungen statt Eskalation
  
  Im Kern ähnlich hat sich am gestrigen Montag Johannes Varwick geäußert,
  Professor für internationale Beziehungen an der Martin-Luther-Universität
  Halle-Wittenberg. Wie Varwick in einem Meinungsbeitrag für die Frankfurter
  Allgemeine Zeitung urteilt, "führen Empörung und formelhafte Verurteilungen
  nicht weiter": "Vielmehr ist jetzt Realpolitik angezeigt."[2] Moskaus
  Befürchtungen, "durch eine Ausdehnung des Westens unter der Führung der USA"
  eingekreist zu werden, seien nicht unberechtigt; Russland habe zudem
  "jahrelang deutlich gemacht, dass es die westliche Politik als massive
  Verletzung seiner Interessen versteht". Die im Dezember vorgelegten
  russischen Vorschläge für eine vertragliche Lösung der eskalierenden
  Spannungen zwischen dem Westen und Moskau jetzt "blind zurückzuweisen", sei
  "falsch"; stattdessen solle man die "noch sehr unverbindlichen Gespräche"
  der vergangenen Woche in "eine hochrangige Konferenz" überführen, die "ohne
  Vorbedingungen" über eine "Revitalisierung der europäischen
  Sicherheitsarchitektur berät". Während der Gespräche sollten "bei
  Militärmanövern vollständige beiderseitige Transparenz vereinbart" und
  zugleich "die Sanktionen schrittweise reduziert werden". Varwick bringt
  zudem ausdrücklich die "'Finnlandisierung' der Ukraine, also eine wie auch
  immer ausbuchstabierte Neutralität", ins Gespräch.
  
  "Als Gegner behandeln"
  
  Unbeeindruckt von jeglicher Kritik und von Warnungen vor einer
  hochgefährlichen weiteren Eskalation dringen einflussreiche deutsche Medien
  auf weitere Schritte zur Verschärfung des Konflikts. So hieß es bereits in
  der vergangenen Woche, der Westen müsse "geschlossen auftreten" und
  "notfalls scharfe Sanktionen" gegen Russland verhängen.[3] Ein angeblicher
  "Kuschel-Kurs" der deutschen Bundesregierung gegenüber Moskau hingegen sei
  "gefährlich"; wer heute von einer "europäischen Friedensordnung unter
  Einschluss Russlands" spreche, "fabuliert".[4] Ende vergangener Woche hieß
  es ausdrücklich: "Die NATO-Staaten müssen auf Konfrontation zu Kremlchef
  Putin gehen"; man müsse "Putin als Gegner behandeln - nicht als Partner".[5]
  (German Foreign Policy/bearb.)
  
  [1] Eric Gujer: Der Westen braucht eine neue Russland-Strategie: Was er im
  Umgang mit Moskau falsch macht. nzz.ch 14.01.2022.
  [2] Johannes Varwick: Der Westen muss Russland eine Brücke bauen.
  Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.01.2022.
  [3] Matthias Brüggmann: Im Russland-Streit brauchen wir harte
  Verhandlungen - und notfalls scharfe Sanktionen. handelsblatt.com
  11.01.2022.
  [4] Paul Ronzheimer: Der Kuschel-Kurs ist gefährlich. bild.de 14.01.2022.
  [5] Maximilian Popp: Putin als Gegner behandeln - nicht als Partner.
  spiegel.de 14.01.2022.
  
  Quelle: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8813/
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  Anmerkung der akin-Redaktion: Vorbild Österreich?
  
  Die völkerrechtliche Problematik, daß man einem souveränen Staat nicht
  Bündnisfreiheit vorschreiben könne, spielte auch bei den Verhandlungen um
  den österreichischen Staatsvertrag eine entscheidende Rolle -- lange vor der
  Schlußakte von Helsinki, aber umgekehrt darauf wohl auch Einfluß nehmend.
  Auch damals war das die zentrale Argumentation der USA und der noch jungen
  NATO, weil man wußte, daß ein souveränes Österreich sofort dem westlichen
  Bündnis beitreten würde. Das war auch den damaligen Sowjets klar, weswegen
  der Abschluß des Staatsvertrags sich immer wieder verzögerte. Aufgelöst
  konnte das nur werden durch ein Zugeständnis Österreichs, nach
  Wiedererlangen der Souveränität sofort seine Bündnisfreiheit zu deklarieren.
  Insofern wäre nicht eine "Finnlandisierung" (die ein oftbeklagter Stachel im
  Fleisch der NATO war) sondern eine "Österreichisierung" wohl angesagt. Dazu
  müßte aber zuallererst die ukrainische Regierung bereit sein -- inclusive
  Verzicht auf künftige NATO-Manöver auf ukrainischem Boden. Wenn dann auch
  noch vom Prinzip abgewichen würde, daß ein osteuropäischer Staat zuerst zur
  NATO müßte, bevor die EU überhaupt an eine Mitgliedschaft denkt, wäre sogar
  eine solche möglich. Auch insofern könnte Österreich (bei aller aktueller
  Schleißigkeit seiner Neutralität) ein Vorbild darstellen.
  
  
  
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