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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 20. Januar 2022; 06:28
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Ukraine/Geschichte:

> Die Machnowtschina

Von *Caroline Meijers*, aus: Archipel 309

Vor 100 Jahren wurde die anarchistische Bewegung Machnowtschina in der
Ukraine (1917-1921) von der sowjetischen Regierung unter Lenin und Trotzki
blutig beendet. Heute ist dieser politische und soziale Versuch, ein Land
anarchistisch selbst zu verwalten, beinahe in Vergessenheit geraten.

Nestor Machno - Bauer und Anarchist

«Ich bin ein Bauer und wurde in Guliai-Polje, einer Ortschaft in der Region
Jekaterinoslaw in der Ukraine, geboren. Meine Eltern waren zunächst
Leibeigene und später freie Bauern. Nach den Erzählungen meiner Mutter war
ihr Leben unter der Leibeigenschaft entsetzlich. Noch als Kind wurde sie
zweimal mit Ruten geschlagen. [...]» (1)

Diese Worte stammen von Nestor Machno, einem armen Bauern aus der Ukraine,
der zu «Batko Machno» wurde, was auf Ukrainisch «Väterchen Machno» bedeutet.
Der Titel wurde ihm nicht wegen seines Alters verliehen, sondern wegen
seines militärischen Genies, seines Mutes, seiner Unbestechlichkeit und
seiner Treue zu den anarchistischen Ideen. Diese Ideen setzte er, zusammen
mit seinen Freunden von der anarchistisch-kommunistischen Bauerngruppe
Guliai-Polje, in einem Gebiet von der Grösse halb Frankreichs zwischen den
Flüssen Don und Dnepr in der Ukraine, in die Praxis um - bis die sowjetische
Rote Armee unter Lenin (2) und Trotzki diese Bewegung, die man
«Machnowtschina» nannte, vernichtete.

Was davor geschah

Wir schreiben den 1. März 1917. Nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917
wird Russland eine parlamentarische Demokratie und viele politische
Gefangene werden freigelassen. Machno erzählt: «Ich taumelte auf die
Strasse, die Abwesenheit der Fesseln, die ich acht Jahre lang getragen
hatte, waren mir ungewohnt. Eine riesige Menschenmenge erwartete uns und
jubelte uns zu, indem sie rief: Es lebe die Freilassung der politischen
Gefangenen!» Die meisten seiner anarchistischen Kameraden bleiben in Moskau,
wo sie unter dem Zarenregime inhaftiert worden waren, aber Nestor kehrt in
sein Dorf zurück, um sich wieder seiner anarchistisch-kommunistischen
Bauerngruppe anzuschliessen und zu versuchen, endlich seine anarchistischen
Ideale zu verwirklichen. Er ist damals 28 Jahre alt.

Gleich nach seiner Rückkehr nach Gulyai-Polje rief Nestor seine Freunde von
der anarchistisch-kommunistischen Bauerngruppe zusammen und begann mit
ihnen, revolutionäre Organe aufzubauen: Zunächst liessen sie ein neues
Gemeindekomitee (die Verwaltungseinheit der Koalitionsregierung) wählen, das
repräsentativ für die Landbevölkerung war. Im April 1917 wurde Machno zum
Leiter dieses Komitees gewählt. Daraufhin gründeten sie mit den Bauern die
«Union der Bauern von Gulyai-Polje» (später «Sowjet der Bauern- und
Arbeiterdeputierten» genannt), zu dessen Vorsitzenden Nestor Machno gewählt
wurde. Arbeiter schlossen sich der Bewegung an: Die Gewerkschaft der Metall-
und Holzarbeiter in Gulyai-Polje bat Nestor, ihr bei der Gründung eines
Verbandes zu helfen, sich selbst einzuschreiben und bei der Organisation
eines Streiks zu helfen. Also machte man sich an die Arbeit: «Die
anarchistische Gruppe schlug vor, unverzüglich Land und Besitz zu enteignen,
um freie Agrarkommunen zu organisieren, wenn möglich unter Beteiligung eben
dieser Pomechtschiks und Kulaken [reiche Grundbesitzer und Bauern, Anm. d.
Autorin]. Wenn sie sich weigerten, sich der Familie der freien Bauern
anzuschliessen, und den Wunsch äusserten, auf eigene Faust, jeder für sich,
zu arbeiten, sollten sie ihren Anteil an den gesellschaftlichen Gütern, die
sie besessen hatten, und die Mittel, von ihrer Arbeit zu leben, unabhängig
von den Agrargemeinschaften erhalten.»(1) Dies wurde auch getan, und zwar
noch vor der Oktoberrevolution 1917, in deren Folge die Bolschewiki und
Sozialrevolutionäre die Abschaffung des Privateigentums verkündeten.

«Das Volk muss in seinem eigenen Haus souverän sein. Die Zeit ist endlich
gekommen, um seinen jahrhundertealten Traum zu verwirklichen. Von nun an
sollen das Land, die Fabriken und Betriebe den Arbeitern gehören. Die Bauern
werden die Herrscher über das Land sein, die Arbeiter die Herrscher über die
Fabriken und Betriebe.»(1)

Ein wahrer Volksaufstand

Um die umliegenden Dörfer davon zu überzeugen, dem Beispiel von Gulyai-Polje
zu folgen, reisten Nestor und seine Freunde von Dorf zu Dorf, besuchten aber
auch die Fabriken in den Städten. Überall, wo sie hinkamen, stiessen ihre
Ideen auf Begeisterung und Zustimmung, und die Bauern und Arbeiter
emanzipierten sich in einem Akt der Autonomie und Selbstbestimmung von ihren
Chefs und Grundbesitzern. Gulyai-Polje wird zum Zentrum eines wahren
Volksaufstandes in der Ukraine. Den Anarchisten gelingt es, die Mehrheit der
ukrainischen Bevölkerung von ihren Ideen zu überzeugen - auf Kosten der
Bolschewiki und der Sozialrevolutionäre, die erfolglos versuchen, die
Bevölkerung zum Beitritt in ihre politischen Parteien zu bewegen.

«Seit Ende August hatten die Bauern uns verstanden und zersplitterten ihre
Kräfte nicht mehr auf die verschiedenen politischen Gruppierungen, die nicht
in der Lage waren, etwas Entscheidendes und Dauerhaftes zu erreichen. Und je
besser sie uns verstanden, desto mehr glaubten sie an sich selbst, an die
Rolle, die ihnen in der Revolution zukam: das Recht auf Privateigentum an
Land abzuschaffen, es zu kollektivem Eigentum zu erklären und dann, nachdem
sie sich mit den Proletariern in den Städten geeinigt hatten, jede Form von
Privilegien und jede Möglichkeit der sozialen Herrschaft abzuschaffen.»(1)

Die Unterstützung dieser Aktionen für die Enteignung und Kollektivierung des
Landes durch eine ländliche und zudem teilweise analphabetische Bevölkerung
mag überraschen. Sie lässt sich durch mehrere Faktoren erklären, von denen
der wichtigste sicherlich die unermüdliche Propagandaarbeit der
anarchistisch-kommunistischen Bauerngruppe von Gulyai-Polje ist, die bereits
seit 1905 aktiv war. Makhno war damals 16 Jahre alt.

Bewaffneter Widerstand

Im August 1917, nach der Offensive der sogenannten «weissen», also der
zaristischen russischen Generäle gegen die laufende Revolution, wurde in
Gulyai-Polje ein «Komitee zur Verteidigung der Revolution» gewählt, mit
Nestor Machno als Vorsitzendem. «Es wurde sofort beschlossen, die gesamte
Bourgeoisie der Region zu entwaffnen und ihre Rechte auf den Reichtum des
Volkes - Land, Fabriken, Druckereien, Veranstaltungsräume und andere
Staatsbetriebe - abzuschaffen. Denn um dem Vormarsch von Kornilow [weisser
General, Anm. d. Autorin] Einhalt zu gebieten, musste zuerst die bürgerliche
Herrschaft beendet werden [...].

Ich wurde mit einem riesigen Ruf begrüsst: 'Es lebe die Revolution! Es lebe
ihr treuer Verteidiger, unser Freund Genosse Machno!' Ich spürte, dass ich
diese Jubelrufe nicht verdient hatte; deshalb verlangte ich Ruhe und bat die
Demonstranten, mir zuzuhören. Doch die Menge hob mich auf ihre Schultern und
rief immer wieder: 'Es lebe die Revolution! Es lebe Genosse Machno!' Als sie
sich beruhigt hatten, fragte ich sie, warum sie die Arbeit niedergelegt
hatten und warum sie zum Komitee zur Verteidigung der Revolution gekommen
waren. 'Wir sind gekommen, um uns ihm zur Verfügung zu stellen', sagten sie,
'und wir sind nicht die Einzigen.' 'Es gibt also Schiesspulver in den
Pulvermagazinen?' 'Ja, das gibt es, und zwar in grossen Mengen!'»(1)

Die Machnowtschina, die das gleichnamige Lied inspirierte, war eine echte
Aufstandsarmee, die bis zu 29.000 Kämpfer an der Front und 200.000 Mann in
der Reserve hatte, weil es nicht genug Waffen gab(4). Diese Armee wurde im
September 1918 mit der Unterstützung der Bevölkerung von Gulyai-Polié
gegründet, die Nestor erneut zu ihrem - diesmal militärischen - Führer
wählte. Sie kämpfte erfolgreich gegen die Offensiven der Weissen Armeen und
der deutsch-österreichischen Armeen sowie gegen die ukrainischen
Nationalisten von Petljura und die Kosaken am Don sowie diejenigen von Kuban
und Tejek, die sich den Weissen Armeen angeschlossen hatten.

Doch sobald die Gefahr der konterrevolutionären Armeen gebannt war, wandten
sich die Bolschewiki gegen die Bewegung der Machnowisten, um die Ukraine
unter ihre Kontrolle zu bringen. Ab Januar 1920 versuchten sie, die
Machnowtschina zu enthaupten, indem sie einige von Machnos engsten Gefährten
eliminierten. Dank der Unterstützung der Bevölkerung hielten die
Machnowisten fast zehn Monate lang gegen die zahlenmässig und
waffentechnisch weit überlegene Rote Armee stand. Ihr Kampf endete jedoch im
August 1921, nachdem die meisten von ihnen massakriert worden waren. Auch
die Zivilbevölkerung zahlte einen hohen Preis: «Pjotr Archinow, der
Memorialist der Machnowtschina und Augenzeuge dieses Vernichtungskrieges,
schätzt für das Jahr 1920 nach den gemässigsten Berechnungen die Zahl der
von den bolschewistischen Behörden erschossenen oder verstümmelten Bauern
auf fast zweihunderttausend!»(3)

Warum so viel Hass?

Das erklärte Ziel der herrschenden Bolschewiki mit Lenin an der Spitze war
es, an der Macht zu bleiben, koste es, was es wolle. In diesem Sinne ist
klar, dass die libertären Anhänger der Machnowtschina, die die
Selbstbestimmung der Bauern und Arbeiter auf ihrem Land und in ihren
Fabriken forderten, diesen absoluten Machthunger der Bolschewiki
behinderten. Für sie waren die Bauern und Arbeiter «nicht reif», um ihr
Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die Bolschewiki hatten es aber nicht nur
auf Anarchisten abgesehen; alle andere politische Strömungen, darunter die
Sozialrevolutionäre, ihre früheren Verbündeten, wurden von der Macht
verdrängt und ihre Vertreter verfolgt oder sogar beseitigt.

Um die Vernichtung der Machnowtschina zu legitimieren, griffen die
Bolschewiki auf eine bewährte Methode zurück: Verleumdungskampagnen in der
Presse, in denen Machnos Mitstreiter des Banditentums, des Alkoholismus, der
Plünderungen, des Antisemitismus, der Gewalt gegen Frauen usw. beschuldigt
wurden. Der Vorwurf, der Machno am meisten empörte, war der des
Antisemitismus, weshalb wir ihm zu seiner Verteidigung das Wort erteilen:
«Jüdische Bürger! In meinem ersten Appell an die Juden, der von der
französischen Zeitung Le Libertaire veröffentlicht wurde, bat ich euch,
sowohl die Bürgerlichen als auch die Sozialisten und sogar Anarchisten wie
Yanovsky, die alle von mir als Pogromisten sprachen und die
Befreiungsbewegung der ukrainischen Bauern und Arbeiter, die ich anführte,
des Antisemitismus bezichtigten, mir genaue Fakten zu nennen: Wo und wann
haben ich oder die oben genannte Bewegung solche Taten begangen? [...]
Bisher ist mir keine derartige Antwort bekannt. [...] Ausserdem spielten in
dieser Bewegung revolutionäre Kampfeinheiten, die aus jüdischen Arbeitern
bestanden, eine führende Rolle.» Auch die Forschungen von Tscherikover, der
sich auf die Erforschung der Verfolgung und Pogrome gegen Juden in der
Ukraine spezialisiert hat, kommen zu dem Schluss, dass es in der
Machnowtschina keinen Antisemitismus gab: «Es ist unbestreitbar, dass sich
von all diesen Armeen, einschliesslich der Roten Armee, die Machnowtschina
am besten gegenüber der Zivilbevölkerung im Allgemeinen und der jüdischen
Bevölkerung im Besonderen verhalten hat.»(3)

Uns bleibt nur zu wünschen, dass dieses konkrete Experiment der
Selbstverwaltung, das in einem Gebiet, acht Mal so gross wie die Schweiz,
mit mindestens zwei Millionen Menschen durchgeführt wurde, uns als Beispiel
dient.

Ein Beispiel für die Möglichkeiten, die wir haben, wenn wir den Mut und die
Entschlossenheit aufbringen, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ein
Beispiel, das uns zeigen soll, dass der Mensch nicht von Natur aus
egoistisch und gleichgültig ist, dass er zu grossen Dingen fähig ist! Hut ab
vor Nestor Machno, Semjon Karetnik, Petja Ljuty, Alexej Martschenko, Fedor
Schtschus, Wassili Kurilenko und all den anderen, die ihren Willen, ihre
anarchistischen Ideen in die Tat umzusetzen zu einem Grossteil mit dem Leben
bezahlten - die meisten von ihnen wurden nicht einmal 30 Jahre alt.(4)


1. Dieses und alle weiteren mit 1 gekennzeichneten Zitate stammen aus der
Feder Machnos und sind Auszüge aus seinen Memoiren, die es leider nur auf
Französisch gibt: Nestor Makhno, «Mémoires et écrits», 1917-1932, Verlag
Ivrea, Paris, 2009
2. «Erinnerungen an Vladimir Iljitsch Lenin», Band XXXV, Seite 488.
3. Alexandre Skirda, Nestor Makhno, «Le cosaque libertaire», 1888-1934, les
Éditions de Paris, 1999.
4. 90 Prozent der Anhänger der Machnowitschina-Bewegung wurden umgebracht.
Machno selber überlebte und ging nach Paris ins Exil, wo er am 16. März 1934
in ärmsten Verhältnissen an Tuberkulose starb.

Quelle:
https://forumcivique.org/artikel/gestern-heute-morgen-die-machnowtschina/

Der "Archipel" ist die Monatszeitschrift des Europäischen BürgerInnenforums.



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