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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 1. Dezember 2021; 21:21
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Italien:

> 13 Jahre Haft für Menschlichkeit

Von *Tonino Perna*, 15.11.2021, Archipel 308 (1)

Das Dorf Riace in Süditalien ist weltbekannt als Modell für den Empfang von
Migran·tinn·en. Am 30. September 2021 wurde der ehemalige Bürgermeister und
Initiator dieses Projektes, Domenico «Mimmo» Lucano, von einem Gericht in
Kalabrien zu einer drastischen Strafe verurteilt.

Das Urteil des Gerichts in Locri, das Mimmo Lucano zu 13 Jahren und zwei
Monaten Gefängnis verurteilt hat, macht uns fassungslos.(2) Wir können kaum
glauben, was passiert ist, und sind zutiefst empört. Der Teil Italiens, der
noch an Demokratie und Rechtsprechung glaubt, ist aufgewühlt. Die anfänglich
von der Staatsanwaltschaft beantragten sieben Jahre erschienen uns bereits
als eine Ungeheuerlichkeit, aber jetzt hat der Richter mit seinem Urteil den
Einsatz verdoppelt und ist damit über jede Limite, die juristisch noch zu
rechtfertigen wäre, hinausgegangen.

Ich kenne Mimmo Lucano seit Herbst 1998, als er in die Gemeinde Badolato (3)
kam. Dort hatte das CRIC (4), eine damals sehr aktive NGO, das erste Projekt
zur Aufnahme von Migrant·inn·en durchgeführt, um dieses alte, verlassene
Dorf wiederzubeleben. Mimmo kam mit der Einfachheit und Spontaneität, die
ihn schon immer auszeichnete, um uns mitzuteilen, dass er dasselbe in Riace
tun wollte: «Könnt ihr mir dabei helfen?» So entstand das Projekt Riace dank
eines Darlehens der Ethikbank und vor allem dank der Solidarität zahlreicher
italienischer und ausländischer Initiativen, insbesondere der Kooperativen
von Longo maï und des Europäischen BürgerInnen Forums, die das Projekt nicht
nur finanziell, sondern auch durch die Organisation eines «solidarischen
Tourismus» unterstützten. Und dann «Recosol», das Netz der solidarischen
Gemeinden Italiens, das seit mehr als zwanzig Jahren die Idee von Riace
unterstützt und in sein kollektives Projekt einfliessen lässt.

Mimmo Lucano ist die Ikone von Riace: Er hat sein gesamtes Leben diesem
Projekt gewidmet. Er gab sogar seine eigene Familie auf, um sich voll und
ganz um den Empfang der Geflüchteten zu kümmern. Ihn jetzt mit einer solchen
Brutalität zu schlagen, bedeutet, das Modell Riace treffen zu wollen, das in
der ganzen Welt als das konkrete Symbol für eine menschliche Empfangskultur
gilt und ein anderes Bild von Kalabrien und Italien vermittelt. Ein Modell,
das gezeigt hat, dass es eine echte Alternative zu den Lagern und Ghettos
gibt. Eine Alternative gegen die Politik der Zurückweisung von all den
Menschen, die nur danach streben, in Würde leben zu können.

Aber es gibt noch Anderes, was sehr wertvoll ist: Das Modell von Riace, das
von zahlreichen Gemeinden in Kalabrien und in anderen Regionen übernommen
wurde, hat den Weg aufgezeigt, wie von der Abwanderung betroffene «innere
Gebiete» wiederbelebt werden können. Riace ist eine wirksame Antwort auf
Umweltrisiken wie Erdrutsche und Überschwemmungen, die gerade durch die
fortschreitende Versteppung von denjenigen Gebieten verursacht werden, die
für eine nachhaltige Zukunft des Landes so wichtig sind.

Haltlose Vorwürfe

Was hat Mimmo Lucano denn getan, das so schwerwiegend wäre, dass er eine
Strafe verdient hätte, die normalerweise für hartgesottene Mörder, Mafiosi,
internationale Drogenhändler, Vergewaltiger und Terroristen verhängt wird?
Dem ehemaligen Bürgermeister von Riace wird vorgeworfen, die illegale
Einwanderung gefördert zu haben, weil er einer verzweifelten, vor der
Abschiebung stehenden Migrantin riet, einen älteren italienischen Mann zu
heiraten. Wer von uns hätte das nicht auch als letzten Ausweg vorgeschlagen?
Und wenn es ein Verbrechen ist, eine Ehe zwischen einer jungen Immigrantin
und einem älteren italienischen Mann zu schliessen, dann müssten wir
Tausende von Ehen annullieren und alle Paare ins Gefängnis stecken. Doch
damit nicht genug: Noch schwerere und unglaubliche Anschuldigungen kommen
hinzu: Klientelismus, Betrug, Veruntreuung und Machtmissbrauch. In den
Hosentaschen von Mimmo wurde jedoch kein einziger Cent gefunden, und es gibt
keinerlei Beweise dafür, dass er sich in irgendeiner Weise öffentliche
Gelder angeeignet hätte. Die unbequeme, ja sehr unbequeme Wahrheit ist
diese: Lucano wird ein "Verbrechen der Menschlichkeit" vorgeworfen. Er nahm
Zehntausende von Migrant·inn·en auf, die ihm die Präfektur ständig zuwies,
um eine Lösung zu finden. Er hat versucht, den Menschen Arbeit zu geben und
ihnen eine würdige Existenz zu verschaffen. Er versuchte, einem Dorf, das
fast völlig verlassen war, wieder Leben einzuhauchen. Aus diesen Gründen ist
er heute einer der gefährlichsten Straftäter im Land.

Sicherlich hat Lucano aufgrund seiner administrativen Unzulänglichkeiten und
seiner man-gelnden Vertrautheit mit bürokratischen Regeln eine Reihe von
Fehlern gemacht. Doch es gab kein Verbrechen, keine Veruntreuung, keine
kriminelle Vereinigung... nur Erfindungsreichtum als allergische Reaktion
auf die Grenzen einer engstirnigen Bürokratie. (5) Mit diesem Urteil hat das
Gericht von Locri «de facto» das Verbrechen der Menschlichkeit in die
Rechtslandschaft unseres Landes eingeführt und einen beunruhigenden
Präzedenzfall geschaffen: ein weiteres Zeichen für die tiefe Krise, die
unsere Justiz und unsere demokratischen Institutionen durchzieht. Wir nehmen
diese Tatsache zur Kenntnis, jedoch ohne zu kapitulieren, denn wir wollen
nicht im Lande Erdogans aufwachen.

Um unsere Demokratie und unsere Gesellschaft zu retten, wird in Riace eine
Demonstration zur Unterstützung Mimmos stattfinden. Natürlich werden wir
nicht dabei stehen bleiben und rechnen damit, dass dieses unglaublich
ungerechte Urteil in der Berufung aufgehoben wird.
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Tonino Perna ist Wirtschaftswissenschaftler, Soziologe und Vizebürgermeister
der Stadt Reggio Calabria
*

1. Der Artikel wurde am 1.10.2021 in "Il Manifesto" veröffentlicht. Die
Übersetzung stammt vom Europäischen BürgerInnenforum.
2. Zur Gefängnisstrafe kommen 500.000 Euro Geldzahlungen hinzu. Im gleichen
Prozess wurden elf Mitstreiter·innen von Domenico Lucano zu geringeren
Strafen verurteilt. Auch diese Verurteilungen sind skandalös.
3. Kleinstadt in Kalabrien nördlich von Riace
4. CRIC: Centro Regionale de Intervento per la Cooperazione
5. Ein weiteres seiner "Verbrechen": Er soll Aufträge zur Müllabfuhr ohne
Ausschreibung an Migranten-Kooperativen vergeben haben. Näheres zu den
Vorwürfen: Salvini lässt Flüchtlinge aus Vorzeigedorf räumen. In: welt.de.
Vgl. auch: "Riace im Visier der Lega: Ein Integrationsmodell wird
abgewickelt." Sendung des Deutschlandfunks in der Reihe "Das Feature", 11.
Juni 2019, 19.15 Uhr. Flüchtlingsfreundlicher Bürgermeister von Riace
festgenommen. In: zeit.de, 2. Oktober 2018.

Quelle:
https://forumcivique.org/artikel/italien-migration-menschlichkeit-ein-verbrechen/


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