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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 3. November 2021; 22:53
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International/Soziales:

> Im Labor der Extreme

*Leo Furtlehner* über Wohnungsmisere und gewollte Zersiedelung in
Kalifornien

Wenn Elon Musk - der Tesla-Boss gilt mit 202 Milliarden US-Dollar (Stand
2021) als reichster Mann der Welt und kann es sich quasi als Jux leisten
höchstpersönlich in den Weltraum zu fliegen - seine Firmenzentrale nach
Texas verlegt, weil sich sein Personal im Silicon Valley die Wohnungen nicht
mehr leisten können, ist wohl Feuer am Dach. Auch wenn der Hauptgrund für
Musk dabei sein mag, dass der US-Bundesstaat Texas "keine private
Einkommensteuer oder Kapitalertragsteuer erhebt" (Spiegel 41/2021,
9.10.2021).

Symbolisch für die Entwicklung in Kalifornien gilt auch der Weggang des
IT-Konzerns Hewlett-Packard, dessen Gründung im Jahre 1939 heute als
Geburtsstätte des Silicon Valley gilt. Google hingegen versucht mit der
Schaffung von 40.000 Wohneinheiten gegenzusteuern - weil man offensichtlich
erkannt hat, dass ohne bezahlbare Wohnung alle gepriesenen Annehmlichkeiten
der IT-Welt nicht viel wert sind.

Tatsächlich muss es wohl schwierig sein, wenn man mindestens 39 Dollar netto
pro Stunde bzw. 6.200 Dollar im Monat verdienen muss, um eine mickrige
Zwei-Zimmer-Wohnung in der Bay Area, der Metropolregion um San Francisco,
San Josè und Oakland finanzieren zu können (Süddeutsche Zeitung, 9.10.2021).
Weil aber der Mindestlohn in Kalifornien nur bei 14 Dollar liegt, müsste
jemand 112 Stunden pro Woche arbeiten, nur um sich die Miete für die
beschriebene Wohnung leisten zu können.

Ein Immobilienboom sondergleichen hat die Häuserpreise dort in unermessliche
Höhen getrieben: Von zwei Millionen Dollar für ein Haus mit vier Zimmern in
San Josè ist da die Rede. Oder von 2,8 Millionen für ein Objekt mit drei
Zimmern plus Garage in Los Altos, jener Stadt, wo einst Steve Jobs in einer
Garage den heutigen Weltkonzern Apple gründete. Der durchschnittliche Preis
für eine Wohnimmobilie in der Bay Area stieg in den letzten zwölf Monaten um
satte 39 Prozent auf 1,34 Millionen USD.

Bezeichnend ist, dass es in Kalifornien auf 100 Haushalte nur 65 bezahlbare
Wohnungen gibt und allein in der Bay Area 160.000 Wohneinheiten fehlen.
Schon kursiert zur Beschreibung der Misere der Spruch, dass jemand, der
zwischen San Francisco und San José einen Stein wirft, entweder einen
Millionär oder einen Obdachlosen trifft. Und nicht zufällig sind mehr als
die Hälfte der Obdachlosen der USA im "Golden State" Kalifornien registriert
sind, bei einem Anteil von nur zwölf Prozent der US-Bevölkerung von 330
Millionen Menschen. Anfang 2020 waren das 161.548 Personen, jetzt sind es
infolge der Corona-Pandemie schon über 200.000 Obdachlose in Kalifornien.

Was das politische Establishment von Obdachlosen hält demonstrierte der
rechtskonservative Talk-Show-Moderator Larry Elder (Republikaner), der bei
einer 276 Millionen Dollar verschlingenden vorgezogenen - jedoch
gescheiterten - Abwahl des amtierenden Governors Gavin Newson (Demokraten).
Elder meinte: "Viele von ihnen sind geisteskrank oder drogenabhängig, wir
können das nicht länger hinnehmen" - und forderte Obdachlose einfach in die
Wüste zu karren.

Single-family zoning

Wohin exzessiver Kapitalismus nach dem Verständnis von Freiheit Marke USA
führt, demonstriert Berkeley, das als Keimzelle des US-Liberalismus
schlechthin gilt. Die Stadt gilt als Geburtsstätte des "single-family
zoning", ein Gesetz, das bestimmte Gebiete für den Bau von
Einfamilienhäusern reserviert und dort die Errichtung von mehrgeschossigen
Wohnbauten untersagt. Dahinter verbirgt sich ein struktureller Rassismus,
der die Ansiedlung von farbigen Menschen in von weißen dominierten
Wohngebieten verhinderte.

Eine Steigerung erfährt diese Regelung im Artikel 34 der Verfassung von
Kalifornien, laut welchem die Bewohner*innen einer Gemeinde darüber
abstimmen dürfen, ob in ihrer Wohngegend Wohnungen für niedrigverdienende
Menschen geschafften werden können. Zwar wird allgemein verlangt - man will
ja ein "Gutmensch" sein - die Regierung müsse etwas gegen die
Obdachlosigkeit tun, aber bitte "not in my backyard", also nicht in der
eigenen Wohnumgebung.

Der mit der gescheiterten Abwahl im Amt bestätigte Governor Newson will nun
gegensteuern. Mit 10,3 Mrd. Dollar für bezahlbaren Wohnraum in den nächsten
zwei Jahren, zwölf Millionen Dollar für den Kampf gegen Obdachlosigkeit und
einem Programm das den Umbau von leerstehenden Hotels und Motels in 44.000
Wohneinheiten vorsieht. Ob das reicht, um der Misere Herr zu werden darf
bezweifelt werden, liegen die Probleme doch viel tiefer, nämlich im Wesen
des neoliberal enthemmten Kapitalismus.

Wäre Kalifornien mit seinen 40 Millionen Einwohner*innen ein eigener Staat
würde es mit einem Bruttoinlandsprodukt von knapp drei Billionen Dollar
(Stand 2018) hinter den USA, China, Japan und Deutschland auf Platz fünf der
stärksten Wirtschaftsräume der Welt rangieren (www.capital.de, 10.6.2019).
Der bevölkerungsstärkste der 50 US-Bundesstaaten gilt als Labor globaler
Entwicklungen, das Silicon Valley als Sitz namhafter globaler IT-Konzerne
ist ein sichtbarer Ausdruck davon.

Betongold

Das gilt allerdings nicht nur für technische Innovationen und
gesellschaftliche Trends, sondern auch für negative Entwicklungen wie beim
Thema Wohnen deutlich wird. Was im Labor der Extreme in der US-Bay Area vor
sich geht, zeichnet sich bekanntlich unübersehbar im Umfeld aller - also
auch der europäischen - Metropolregionen und Großstädte ab. Dass nämlich die
Immobilienpreise durch die Decke gehen, ein Prozess, der durch die
unsägliche Nullzinspolitik der Zentralbanken forciert und durch Corona nicht
etwa gestoppt, sondern durch die Flucht in "Betongold" weiter befeuert
wurde. Was in der Folge bedeutet, dass sich immer mehr Menschen das Wohnen
in den Zentren nicht mehr leisten können und als Konsequenz in billigere
Wohngegenden im Umfeld ausweichen müssen, was wiederum dazu führt, dass
konträr zu den Zielen einer höchst notwendigen Klimapolitik der Autoverkehr
weiter gesteigert wird.

Die Verfechter des Neoliberalismus - der de facto schon mit der Finanzkrise
von 2007/2008 gescheitert ist und die zur Erinnerung mit dem Platzen einer
Immobilienblase begann, dessen Ideologie sich aber in den Hirnen der
Mehrheit der Bevölkerung durch das Wirken von Politik und Medien mit der
Verbreitung einer angeblichen Alternativlosigkeit faktisch festgefressen
hat - argumentieren bekanntlich gebetsmühlenartig, dass der "freie Markt"
alles zum Besten regeln würde.

Die sich verschärfende Misere am Wohnungsmarkt zeigt jedoch das genaue
Gegenteil. Da werden Ressourcen durch einen wachsenden Leerstand von
Wohnungen, die sich normal Sterbliche nicht mehr leisten können, bewusst
vergeudet, nur damit Investoren und Spekulanten maximale Renditen kassieren.
Und das geheiligte Privateigentum - in dem Fall an Grund und Boden bzw.
Immobilien - erweist sich als maximal gegen elementare Ansprüche auf ein
Leben in Würde und sozialer Sicherheit gerichtet. Höchste Zeit also, dies in
Frage zu stellen.

Quelle:
https://furtlehner.wordpress.com/2021/10/31/im-labor-der-extreme



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