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  akin-Pressedienst.
  Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 27. Oktober 2021; 17:36
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  Wien/Initiativen:
  
  > Aus für die "Fischerstiege"!
  
  *Ernst Schmiederer* muß sein Sozial-Labor im 1.Bezirk mit Ende des Monats
  räumen. Hier schildert der Betreiber das Warum und Wieso -- und wozu dieses
  Lokal überhaupt existierte:
  *
  
  Seit 1. Oktober 2006 logieren und agieren wir (mein Ich blüht und gedeiht
  immer mit vielen anderen) mit Projekten, Ideen und Produkten in den als
  "Lokal" ausgewiesenen Räumlichkeiten auf der Fischerstiege im ersten Wiener
  Gemeindebezirk. Die 179 Quadratmeter auf zwei Stockwerken wurden seither als
  Werkstatt und Atelier, als Büro und Lager, als Videostudio und Schnittraum,
  als Geschäft und Bühne, als Salon und Teehaus, als Pop-Up-Store für dies und
  jenes, als Konferenz-, Ausstellungs-, Lern- und immer öfter auch als
  Veranstaltungsort genutzt. Unser Blinklicht Media Lab wurde hier gegründet,
  etwas später kamen das Institut für die Geschichten der Gegenwart sowie
  Projekte (Berichte aus dem neuen OE), Aktivitäten (mimu - das 1.
  Österreichische Migrationsmuseum), Kooperationen (Volkshochschulen und
  Pensionistenklubs) und Kollaborationen (Lockdown) dazu.
  
  Jetzt muss das alles weg, weil ich im Zuge der Pandemie - erstmals nach 14
  Jahren pünktlicher Überweisungen - die Mietzinsforderungen von Wiener Wohnen
  nicht mehr erfüllen kann. Mietschulden liefen auf. Meine Versuche, in
  Gesprächen eine gute Lösung herbeizuführen, waren (bislang!) nicht
  fruchtbar.
  
  Seit 2006 haben wir an diesem Ort die Geschichten der Menschen dieser Stadt
  gesammelt. Geschichten von Menschen, die in unserem Land oder anderswo
  geboren wurden, die in Österreich leben oder hier gelebt haben. Geschichten,
  die unsere Gegenwart dokumentieren. Geschichten aus dem Hausarrest im
  Lockdown. Geschichten über Glück und Liebe. Geschichten über Krieg und Hass,
  über Klasse und Identität, über Arbeit, Freundschaft und Freiheit. Über
  Lebenspläne und Langeweile. Über Flucht und Vertreibung. Geschichten über
  ungenutzte Chancen. Geschichten über alltägliches Unrecht.
  Migrationsgeschichten. Arbeitsgeschichten. Pensionsgeschichten.
  Liebesgeschichten. Scheißgeschichten. Glücksgeschichten.
  
  Wir nutzen dabei die Werkzeuge und das Potential der narrativen Demokratie.
  Wir sammeln und publizieren diese Geschichten, machen damit Unsichtbare
  sichtbar, Ungehörte hörbar. Wir geben Menschen, die das wollen, eine
  Möglichkeit, ihre Stimme zu erheben. Von sich zu erzählen. Zu berichten, was
  ist. Demokratie heißt: Aufmerksamkeit für alle! Eine demokratische
  Gesellschaft kann nur aus Individuen bestehen, die auch in ihrer Würde
  gleichberechtigt sind, die ihr Recht auf Teilhabe, ihr Recht auf
  Aufmerksamkeit einfordern und realisieren können.
  
  Tag für Tag wächst unsere Sammlung weiter. An die 5.000 Geschichten wurden
  bislang archiviert. 5.000 Schicksale, 5.000 Geschichten, die das Leben
  schrieb. Wir sammeln Handschriften, Dokumente, Notizen. Und Filme, Fotos,
  Bücher. Immer wieder gab es - vor der Pandemie -Lesungen aus diesen
  Geschichten. Und Diskussionen darüber. Und Workshops, in denen weiter
  erzählt und geschrieben wurde. Es gibt eine Bibliothek zur Geschichte, zur
  Theorie, zur Praxis des Geschichtenerzählens, des autobiografischen
  Arbeitens, der Biografiearbeit, der Oral History. Verstrickt ist all das in
  einem Netzwerk von Menschen und Institutionen. Neben dem Archiv der
  Geschichten der Gegenwart haben wir unseren kleinen Verlag etabliert, die
  edition IMPORT/EXPORT mit einer Backlist von rund 20 feinen Titeln und einem
  Verlagsprogramm, das aus unseren Köpfen in die Zukunft führen wird. In Summe
  also: 15 Jahre Projektarbeit, die nicht unsichtbar geblieben ist. Zuletzt,
  im Jahr 1 mit Corona, hat die Stadt Wien unser Werken hier mit dem Preis der
  Volksbildung ausgezeichnet.
  
  Dass diese Arbeit ausgerechnet hier im Herzen der Stadt Wien, im ersten
  Bezirk, eine Heimat gefunden hat, ließe sich auch biografisch erklären. Dass
  wir nun 15 Jahre lang im Gemeindebau auf der etwas unscheinbaren
  Fischerstiege residierten, ist aber pures Glück. An keinem Ort dieser Stadt
  wäre es besser für uns gewesen. Die Freund- und Bekanntschaften, die aus
  unserem Tun hier gewachsen sind, unser Netzwerk aus Kollaborateusen und
  Unterstützern, das wir über die Jahre an diesem und von diesem Ort ausgehend
  knüpfen konnten, all das wird lange noch unter dem Rubrum "Fischerstiege"
  laufen und also irgendwie auch Geschichte werden. (Von wegen: urkundlich
  erwähnt wurde diese Fischerstiege erstmal 1373. Im Mittelalter war dort, wo
  wir heute den Donaukanal kennen, der Hauptarm der Donau. Am Salzgries gingen
  Schiffer und Fischer an Land. Über die Fischerstiege hinauf lieferten sie
  Fische und Salz in die Stadt.)
  
  Manche der Lokale hier stünden leer, "was der Gasse, zusammen mit
  Wandschmierereien, einen tristen Charakter verleiht", behauptet Wikipedia
  nicht falsch und doch längst an der Wahrheit vorbei. Die Zeit, auf die das
  Lexikon Bezug nimmt, ist vergangen. Die vormals leerstehenden Geschäfte der
  Umgebung - bekannt als Wiener Textilviertel - sind heute als "Showrooms"
  oder "Innovation Hubs" gebrandet und dienen dem Verkauf exklusiver
  Sofalandschaften, futuristischer Sanitärmöbel und diversem
  Einrichtungsschnickschnack. Die umliegenden Gebäude werden nach und nach zu
  Nobelimmobilien aufgerüstet und entsprechend vermarktet, so dass
  Quadratmeterpreise jenseits der 30.000 Euro kaum noch Nachrichtenwert haben.
  Und mittendrin saßen wir mit unserem Blinklicht Media Lab, mit unserem
  Institut für die Geschichten der Gegenwart, mit unserem Archiv, in unserem
  Haus der Geschichten. Eingemietet in einem wehrhaften Gemeindebau, den der
  Zeitgeist gerade zur Exklave macht.
  
  Wer auf einer der neun Stiegen hier ein halbwegs erschwingliches Zuhause
  gefunden hat, passiert morgens am Weg von dort oder abends am Weg dorthin
  fremd gewordenes Gebiet, markiert vom "Golden Quarter" der Signa Holding des
  Herrn Benko, vom heute "Cotton Residence" genannten ehemaligen "k.k. Post-
  und Telegraphenamt" in der Neutorgasse, von der Adresse "Börseplatz 1" in
  der ehemaligen "k.k. Telegraphen Centrale", von einem als "Étage de Luxe"
  gebrandeten Immobilienprojekt namens "Am Werdertor", von dem benachbarten
  "Werder Six" ("eine urbane Heimat für Anspruchsvolle") und so weiter und so
  fort.
  
  Auch Geschichten, die von der Transformation dieses Mikrokosmos erzählen,
  sollten aufgezeichnet, publiziert, diskutiert, gesammelt werden.
  Geschichten, die prototypisch eben genau dort spielen, wo es jetzt weh tut:
  während sich die Immobilienhändler stolz auf die Brust klopfen, weil sie die
  Nachfrage nach Luxuswohnungen kaum decken können, fürchten in der Pandemie
  säumig gewordene Parteien im Gemeindebau den Delogierungstrupp, der sich
  wohl auf den Weg zu ihnen machen wird, wenn die Stundungsversprechen
  ablaufen. Wer weiß, vielleicht kommen wir demnächst als Besucher mit dem
  selbst erteilten Auftrag zurück, diese Geschichten zu sammeln.
  
  Jetzt erst einmal aber dreht sich bei mir alles ums Weggehen. Ums
  Aussortieren, Verschenken, Wegwerfen, Einpacken. Nach 15 Jahren und einem
  Monat werde ich am 31. Oktober die Tür hier endgültig zusperren. Werde den
  rostig schreienden Rollbalken zum letzten Mal nach unten drücken. Werde die
  Fischerstiege runtergehen, ein bissl traurig sein und mich ein bissl freuen:
  morgen ist der Tag der Toten, aber übermorgen geht das Leben wieder weiter.
  Anders. Und anderswo. Aber eben weiter.
  
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  Nachtrag der Redaktion: Schmiederer hat ein kleines Lokal im 2.Bezirk
  gefunden und hofft, dort in stark reduzierter Form weitermachen zu können.
  Die Idee anderer, doch Geld für seine Schulden zu sammeln, will er lieber
  anders sehen. Er schreibt: "Das Crowdfunding würde ich gerne in ein
  Zukunftsprojekt wandeln: Wir haben gerade zwei gute Bücher fertig; wenn
  Leute diese Bücher kaufen und verschenken, dann macht das mehr Sinn für sie
  und mich, als wenn ich jetzt für Wiener Wohnen schnorren geh. Worüber ich
  mich sehr freuen würde: einen Hinweis auf unseren Shop mit dem Zusatz, dass
  Kaufen und Verschenken der Bücher am besten hilft."
  
  Das tun wir natürlich gerne: https://shop.gegenwart.org
  
  Die weiteren URLs, die mit den Projekten zusammenhängen seien hier auch
  empfohlen:
  http://importundexport.at/
  https://wirberichten.at/
  https://gegenwart.org/
  http://www.ernstschmiederer.com
  
  
  
  
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