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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 14. Oktober 2021; 02:38
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Causa Prima:
> Paradoxe Politik
Die ÖVP stolpert über ihre Amoralität, die Grünen über ihre Moralität.
"Ein neuer Stil. Es ist Zeit."
ÖVP-Wahlplakat 2017
"Mein Ziel ist ein ganz einfaches: Ich möchte gerne für unser wunderschönes
Land arbeiten und zwar mit meinem politischen Zugang, mit meinem Kurs, und
auch mit der Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung, aber ganz ohne
Einzelfälle, Zwischenfälle und sonstige Skandale."
Sebastian Kurz, Rede zum Rücktritt HC Straches, 18. Mai 2019
"Wen würde der Anstand wählen?"
Grünes Wahlplakat 2019
"Es war von Beginn an klar, daß wir mit einer Partei koalieren, die sehr
weit von uns entfernt ist. Wir sind mit vollem Bewußtsein in diese Koalition
gegangen, weil wir den Wählerinnen und Wählern versprochen haben, das
umzusetzen, und das tun wir, und das ist ein härterer Konflikt, ja, aber
deswegen kann nicht die restliche Regierungsarbeit stehen bleiben und
dementsprechend läuft die Zusammenarbeit einfach normal weiter."
Sigrid Maurer, Mittagsjournal 20. Februar 2021, nach der Hausdurchsuchung
bei Finanzminister Blümel
"Unser Regierungsprogramm hat nicht umsonst den Titel 'Verantwortung für
Österreich'."
Werner Kogler im Plenum des Nationalrats, 12. Oktober 2021
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Kurz mußte nicht zurück- respektive "zur Seite" treten wegen der
strafrechtlichen Vorwürfe und auch nicht wegen seiner vielleicht nicht
gerichtlich zu verfolgenden Macheloikes -- sondern wegen des "Sittenbildes"
(Van der Bellen), das daraus enstanden ist. Siehe: "So sind wir nicht!" --
auch von Van der Bellen, allerdings nach dem Öffentlichwerden des
Ibiza-Videos.
Denn außer ein paar Details war das alles ja bekannt. Schon fünf Wochen vor
dem Bekanntwerden des Ibiza-Videos 2019 präsentierte der demontierte VP-Chef
Mitterlehner ein Buch, in dem man nachlesen kann, wie diese Kabale
abgelaufen ist -- ohne die jetzigen strafrechtlichen Vorwürfe, aber mit
allen wichtigen Verwerflichkeiten des Kurz-Teams.
Die Grünen wollten Kurz ja sogar noch die Stange halten, als klar war, daß
der Untreue-Vorwurf im Raum stand. Erst nach Lektüre der Chats war
öffentlich, mit welchem Stil der nachmalige Gesalbte seinen Vorgänger
abgeschossen hat. Es geht eben nicht um die Sitten, sondern um das
entstehende Bild. Die visualisierten Chats erreichten die gleiche
Plastizität wie die Bilder aus Ibiza.
Strache mußte komplett gehen, weil es bei ihm nur diese Peinlichkeiten gab.
Kurz hingegen konnte so tun, als gäbe es diese Peinlichkeiten nicht, sondern
er würde nur aus Staatsräson zur Seite treten, eben wegen dieser von ihm als
unzulässig angesehenen strafrechtlichen Vorwürfe. Er stilisiert sich
wiedermal selbst als Opfer und lenkt dabei von jener Niedertracht ab, die
ihm und seiner Entourage eigen sind. Denn während die Unschuldsvermutung ein
gutes Argument gegen eine Vorverurteilung wegen strafrechtlicher Delikte
ist, liegen die Chats -- deren Authentizität nicht einmal er anzuzweifeln
vermag -- offen zu Tage. So paradox ist es: Die strafrechtlichen Vorwürfe
haben ihn einstweilen einmal vor dem politischen Totalabsturz bewahrt.
Nicht sauber, sondern rein
Deswegen haben die Grünen jetzt kein Problem, weiterzumachen, wo der mit der
nicht mehr ganz so weissen Weste nunmehr weg vom Kanzlerposten ist. Nur:
Ihr Koalitionspartner ist immer noch die gleiche ÖVP. Und die Frage, ob man
einer machtgeilen und kapitalgesteuerten Partei das Beiwagerl machen und
gleichzeitig von sauberer Politik reden kann, bleibt. Es ist nämlich eben
nicht nur das System Kurz -- man erinnere sich nur an die Ära Schüssel, von
der Ära Pröll in NÖ gar nicht zu reden. Die ÖVP ist immer noch die
Nachfolgepartei der "Christlich-Sozialen" des Herrn Dollfuß, der dort auch
heute noch als "Heldenkanzler" verehrt wird. Es ist die Partei, die einen
Sebastian Kurz großgemacht hat. Und wenn diese Partei jetzt aus dem gleichen
Machtkalkül, aus dem sie Kurz hochgehoben hat, ihn wieder fallen läßt,
ändert das nichts an ihrem Charakter. Die Kritik der Linken bei den Grünen
von Weihnachten 2019, daß mit der ÖVP zu Koalieren unzulässig sei, gilt
jetzt um keinen Deut weniger, nur weil Kurz nimmer die Kühlerfigur macht.
Das weiß man bei der grünen Spitze sehr genau. Man hofft aber, mit dem
Austausch dieser rostig gewordenen Figur darüber hinweg zu täuschen, was für
ein SUV dieses Gefährt ÖVP ist.
Die Grünen haben versucht zweigleisig zu fahren, um ihre Würde zu
bewahren -- im Ibiza-Ausschuß hat man auf Opposition gemacht, aber im Plenum
haben die selben Abgeordneten jeden Mißtrauens- und Kontrollantrag der
wirklichen Opposition niedergestimmt. Eben: Das ginge sich aus, wenn die
Grünen eine klassische Machtpartei im macchiavelistischen Sinne wären und
Politik auf das Handwerk des Bohrens harter Bretter reduziert hätten. Nur
genau so wollten sie ja nie sein und -- Greta hin oder her -- haben auch mit
ihrem moralischen Anspruch den Wiedereinzug in den Nationalrat geschafft.
Jetzt hoffen sie halt auf ihre "Leuchtturmprojekte", die leider eher trübe
Grabkerzerln sind, und daß sie die Legislaturperiode noch bis zu ihrem
regulären Ende durchhalten können, wenn die Ära Kurz einigermassen vergessen
ist. Aber ihr moralisches Gehabe wird ihnen niemand mehr abkaufen -- wegen
ihres jetzigen Versagens und auch wegen der Akzeptanz der türkisen
Flüchtlingspolitik.
Hassliebesheirat
Die Inszenierung als Technokraten-Regierung oder besser: technischen
Regierung, die lediglich deswegen zusammenarbeite, damit es eine
funktionierende Verwaltung gäbe, ist notwendig zur Profilschärfung der
beiden Koalitionsparteien. Die Botschaft ist: Eigentlich hassen wir uns,
aber wir nehmen diese Ungemach zum Wohle der Republik demütig in Kauf.
Tatsächlich dürften sie sich nicht nur politisch, sondern auch persönlich
nicht mögen. Man macht halt immer dann gute Mine zum bösen Spiel, wenn es
angebracht erscheint, geht aber auf Distanz, wenn es gerade nicht so ist.
Ist das Ganze vielleicht nur ein Drahtseilakt, wo der Akrobat immer wieder
so tut, als würde er straucheln, damit das Publikum in der Manege was zum
Gruseln hat? Da hätten wir das nächste Paradoxon: Gerade auch, weil es in
dieser Regierung immer wieder kriselt, kann sie stabil sein -- denn nur
dadurch bleiben die Parteien als unterschiedlich erkennbar. Eine nicht nur
farbliche Verschmelzung von Türkis und Grün in der öffentlichen Wahrnehmung
würde beiden Parteien bei kommenden Wahlen nur schaden. Diese
Vermeidungsstrategie kennen wir aber auch schon aus rot-schwarzen
Regierungen, wenn auch etwas dezenter auf der offenen Bühne ausgetragen.
Aber wie lange kann das funktionieren? Und: Was kommt da noch? Viele der
Angelegenheiten, von denen die ÖVP behauptet, da hätte sich herausgestellt,
daß nichts dran sei, dürften in Wirklichkeit noch in der Pipe der Justiz
sein. Dazu kommen vielleicht aber noch andere Causen. Was hätten wir denn
da? Kurzens Aussage U-Ausschuß, Casinos-ÖBAG-Connection, Verbindungen Kurz
mit Rene Benko und Martin Ho sowie "Presse"-Chef Rainer Nowak,
Schredder-Affäre, Alois-Mock-Institut und auch Wirecard -- letztere beiden
Angelegenheiten könnten auch den Präsidenten des Nationalrats in Bedrängnis
bringen. Nebenbei kann man auch vermuten, daß die Hausdurchsuchungen nicht
aus reinem Spaß an der Freud gemacht worden sind, sondern daß da sehr wohl
noch zusätzliches Material aufgetaucht ist, das jetzt untersucht werden muß.
Mani pulite
Natürlich gilt in allen Fällen die oft malträtierte Unschuldsvermutung und
vieles ist vielleicht nur politisch brisant, nicht aber strafrechtlich. So
wie es aussieht, kommt da aber trotzdem noch Einiges von der WKStA. Aber
wieso eigentlich, wir sind doch in Österreich? Wieso erscheint eine
Staatsanwaltschaft jetzt als hiesige Version der mani pulite im Italien der
90er?
Damit sind wir beim dritten Paradoxon. Auf die Spur bringt uns da eine
Aussage vom ersten, mittlerweile pensionierten Leiter der
Korruptionsstaatsanwaltschaft, Walter Geyer: "Es ist auch nicht leicht,
Staatsanwälte zu finden, die sich zu dieser Staatsanwaltschaft bewerben und
sozusagen mit solchen Fällen daher beruflich zu tun haben müssen". Das sagte
er in einem eher versteckten Winkerl des ORF, nämlich im "Wien
heute"-Interview am 9. Oktober. Was er damit andeutet, ist wohl Folgendes:
Gerade durch das von der ÖVP parallel zum System Kurz aufgebaute System
Pilnacek, das dafür gesorgt haben dürfte, daß karriereorientierte Juristen
die WKStA scheuen wie der Teufel das Weihwasser, sitzen dort eher Leute, die
angefressen sind über den Zustand des Rechtsstaats. Das sind nicht Hangers
"Linke Zellen", aber Juristinnen und Juristen, die ihre Aufgabe ernstnehmen.
Und da die ÖVP nicht nur generell schon seit langer Zeit die Partei mit dem
größten Einfluß in Österreich war, sondern auch sämtliche Justizminister
zwischen 2008 und 2019 stellte, hat sich gerade eben im Machtbereich dieser
Partei besonders viel an seltsamen Geschehnissen aufgestaut, das jetzt halt
abgearbeitet wird.
Maschine brennt
Wie meinte Sigi Maurer? "Es waren turbulente Zeiten. Wir haben sie
gemeistert." (ORF-Report, 11. Oktober 2021) Ich hingegen schätze mal, die
Turbulenzen sind noch nicht vorbei. Für die Grünen kann man -- um im Bild zu
bleiben -- nur hoffen, daß ihr Fallschirm aufgeht, wenn sie sich per
Schleudersitz aus der abstürzenden Maschine retten wollen.
*Bernhard Redl*
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