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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 29. September 2021; 22:56
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Zeitgeschichte/Nachruf:

> Otelo de Carvalho 1936 - 2021

Als Stratege der Nelkenrevolution von 1974, die einer der ältesten
faschistischen Diktaturen in Europa, einer 500-jährigen Kolonialmacht sowie
einem 13-jährigen Kolonialkrieg in Afrika ein Ende setzte, wurde der
portugiesische Oberstleutnant Otelo de Carvalho 1984 beschuldigt, der
«moralische Urheber» terroristischer Aktionen in Portugal zu sein und zu 15
Jahren Gefängnis verurteilt. Daraufhin startete C.E.D.R.I.1 eine Kampagne
für seine Freilassung.

Von *Beatriz Graf*, CEDRI, aus: Archipel 305, September 2021

Otelo de Carvalho wird 1936 in Lourenço Marques (heute Maputo) in der
damaligen portugiesischen Kolonie Mozambique geboren. Von 1955 bis 1959
studiert Otelo an der Militärakademie in Lissabon. Viele Jahre später
schreibt er in seinen Memoiren: «Nachdem ich meine ganze Jugend in
Mozambique verbracht hatte, gingen mir erst später die Augen auf. In
politischen Fragen hatte ich natürlich nur Ansichten, die ich mir in
zahlreichen Diskussionen mit Gefreiten, Soldaten und Milizoffizieren
erworben hatte. (...) Ich verspürte das innige Bedürfnis, etwas dazu
beizutragen, etwas Entscheidendes zu tun, um Tausende oder Millionen von
Portugiesen und Portugiesinnen aus ihren elenden, entwürdigenden und
unglücklichen Lebensbedingungen herauszuholen.»21961 wird er in den
Kolonialkrieg nach Angola geschickt. 1970 hält er sich in Guinea auf, wo er
sich mit den politischen Ideen der afrikanischen Befreiungsbewegungen
auseinandersetzt.

Die Nelkenrevolution

Otelo nimmt an den ersten geheimen Versammlungen der anti faschistischen
Offiziere teil. Ab 1973 beteiligt er sich an der Gründung und dem Auf bau
der MFA (Movimento das Forças Armadas, Bewegung der Streitkräfte), die ihm
die Ausarbeitung des Operationsplans anvertraut, der am 25. April 1974 zum
Sturz des faschistischen Regimes in Portugal führt.Zukunftsorientierte Gene
räle und junge Offiziere, die von den Kolonialkriegen genug hatten, hatten
also die Revolution gewagt. Die Bevölkerung lief auf die Strassen, anstatt
wie geheissen, in den Häusern zu verbleiben. Die symbolische Geste, mit der
eine Frau einem Soldaten eine Nelke in den Gewehrlauf steckte, verhalf der
Revolution zu ihrem Namen. Die Nelkenrevolution war ein geplanter, fast ohne
Widerstand vollzogener Umsturz des von Salazar totalitär geführten
Ständestaates. Im folgenden Jahr gibt Otelo als Kommandant der schnellen
Eingreiftruppe COPCON ein weiteres Beispiel dafür, wie mili tärische
Organisation und Effizienz im Dienst des Volkes stehen kann. Unter seiner
Führung werden Soldaten und Offiziere aus Fallschirmspringereinheiten und
der Marine zu Arbeiten in den Armenvierteln der Städte und in den Dörfern
eingeteilt wie für den Bau von Abwasseranlagen, zur Alphabetisierung, für
die Erschliessung von Land und die Ausbildung von Fachkräften zum Auf bau
von Kooperativen sowie für juristische und soziale Beratung. Doch das ist
noch nicht alles: Andere Aufgaben gehen von der Ausarbeitung eines Programms
zur Drogenbekämpfung bis hin zur Schlichtung von Ehestreitigkeiten.

Die Ereignisse vom 25. November 19753 setzen der Periode der von Otelo
vertretenen revolutionären Demokratie ein Ende. Von diesem Zeitpunkt an
werden die Arbeiter-, Bäuerinnen- und Soldatenräte durch
Parteipolitiker·innen ersetzt, und unter dem Vorwand einer Reformpolitik
beginnt die Zeit der Restauration. Otelo stellt in seinen Memoiren fest:
«Meine libertäre, unabhängige und unkonformistische Gesinnung hat mich in
den Augen der politischen Parteien, die ich nicht wesentlich für das gute
Funktionieren der Demokratie (im etymologischen Sinn des Wortes: die Macht
des Volkes) finde, unbeliebt gemacht.»4

Nach der Revolution von 1974 pilgert die europäische Linke massenweise nach
Portugal. Doch nach 1975 legt sich der Enthusiasmus schnell. Otelo
kandidiert 1976 bei den Präsidentschaftswahlen, tritt in Kontakt mit
linksextremen Aktivisten und gründet 1980 eine Partei, die den Namen FUP
(Forças de Unidade Popular, Kräfte der Volkseinheit) trägt.

Ein neues Sicherheitsgesetz

Im Jahr 1984 wird das Gesetz über die «innere Sicherheit» vom Parlament
verabschiedet. Für uns ist klar, dass hier versucht wird, eine äusserst
restriktive Gesetzgebung, die eine Bedrohung für die europäischen
Rechtsstaaten darstellt, auf ein weiteres europäisches Land auszudehnen.
Dafür braucht man einen Sündenbock, der in der Person Otelos gefunden wird.
Portugal ist ein kleines Land, in dem sich alle kennen, und es war bekannt
geworden, dass Kontakte zwischen Otelos Partei FUP und der terroristischen
Organisation FP-25 (Forças Populares 25 de Abril, Volkskräfte 25. April)
bestanden. Daraus fabrizierte man eine Anklage wegen moralischer
Urheberschaft der Attentate, welche die FP-25 begangen hatte. Gleichzeitig
wurde ein Mann kriminalisiert, der als Symbol der Befreiung des Landes von
der Diktatur galt, riesige Hoffnungen bei der Bevölkerung geweckt hatte und
daher immer noch eine Gefahr für die Restaurationsbestrebungen der 1974
vertriebenen und seither wiederkommenden Kräfte darstellte.

Für die Freilassung von Otelo

Nach eingehendem Studium der Gesetzestexte, der Prozessakte und von
hunderten Presseartikeln, Gesprächen mit Otelo selbst und mehreren
Rechtsanwält·inn·en und dem Unterstützungskomitee in Portugal verfassten wir
im Juli 1987 eine Broschüre5, die den historischen und politischen
Hintergrund beschrieb und die Unregelmässigkeiten des Prozesses
entlarvte.Mehrere Pressekonferenzen im Beisein von europäischen
Rechtsanwält·inn·en sowie eine Veranstaltung mit Ramsey Clark, dem
ehemaligen Justizminister der USA, die alle die Anklage widerlegen, Otelo
sei ein Terrorist, erregen in Portugal einiges Aufsehen. Wir erreichen sogar
ein Treffen mit dem damaligen Präsidenten Mario Soares in dieser
Angelegenheit. Eine Klage gegen die portugiesische Justiz am Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte wegen Formfehlern im Prozess wird von
mehreren Anwält·inn·en vorbereitet.An der grossen Demonstration, die jedes
Jahr am Jahrestag der Nelkenrevolution, dem 25. April, stattfindet,
verkaufen wir eine Doppellangspielplatte mit Liedern, die etwa 20
Musikerinnen und Musiker aus der ganzen Welt für diese Aktion gratis zur
Verfügung gestellt haben.

Am 17. Mai 1989 ist es dann so weit: Otelo wird freigelassen, einige Jahre
später werden er und die anderen Mitglieder der FUP amnestiert. Otelo
beteiligt sich an der vom Europäischen BürgerInnenforum (EBF) organisierten
Kundgebung in Berlin ein Jahr nach dem Fall der Mauer. Er zieht sich in der
Folge vom öffentlichen Leben zurück und widmet sich seiner grossen
Leidenschaft: dem Theater.

Am 25. Juli 2021 stirbt Otelo im Militärspital von Lissabon.Catarina
Martins, Koordinatorin des portugiesischen Linksblocks, schreibt auf
Twitter: «Otelo Saraiva de Carvalho, eine Persönlichkeit, die die Geschichte
geprägt hat. Als Stratege der Nelkenrevolution wird er immer als einer der
Befreier Portugals in unserer Erinnerung bleiben.»

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1. Europäisches Komitee zur Verteidigung der Flüchtlinge und Gastarbeiter.
2. Otelo de Carvalho: Alvorada em Abril (Morgenröte im April), Edition.
Livraria Bertrand, nicht übersetzt. 3. Staatsstreich der gemässigten
Militärs («Gruppe der Neun»), der Rechten und der Sozialistischen Partei,
der Portugal durch eine «samtene Gegenrevolution» zu einer liberalen
Demokratie machte und den revolutionären Experimenten, die dem 25. April
1974 folgten, ein Ende setzte.4. Otelo de Carvalho: Alvorada em Abril. 5.
Nicholas Busch, Beatriz Graf: Der Prozess gegen Otelo de Carvalho. Die
Nelkenrevolution auf der Anklagebank. CEDRI 1984



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