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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 16. September 2021; 00:43
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Thema Arbeitslosigkeit

> Hundert Jahre Arbeitslosenversicherung (1920-2020)

Der emeritierte Uniprof *Emmerich Talos*, Proponent des Volksbegehrens
"Arbeitslosengeld rauf!", spannt in diesem Beitrag einen Bogen über 100
Jahre Geschichte der Arbeitslosenversicherung von 1920 bis 2020.
*

Wenn wir einen Blick auf den österreichischen Sozialstaat werfen, so ist
konstatierbar: Der österreichische Sozialstaat ist ein zentraler und
unverzichtbarer Faktor in unserer Gesellschaft. Jenes Ausmaß von
Teilhabechancen, das heute Erwerbstätigen und ihren Familien, aber auch
Bedürftigen zukommt, wäre weder allein durch den Markt, geschweige denn
allein durch familiäre und caritative Unterstützung erreichbar. Der
Sozialstaat fiel nicht vom Himmel. Er ist seit seinen Anfängen Ergebnis
politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.

1. Zur Konstituierung

Nach ersten Ansätzen des österreichischen Sozialstaates in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte unter den veränderten sozialen und
politischen Bedingungen in den Jahren nach dem Krieg ein beträchtlicher
Ausbau. Zu den her-ausragenden Errungenschaften vom Beginn der Ersten
Republik zählte neben dem Achtstundentag und der Einführung der Betriebsräte
die definitive Regelung der Arbeitslosenversicherung im Jahr 1920. Wichtig
dabei war zum einen der politische Konsens, dass Arbeitslosigkeit kein
individuell verursachtes Problem, sondern Konsequenz der Arbeitsmarkt- und
Wirtschaftsentwicklung sei. Zum anderen der Konsens, dass die
Arbeitslosenversicherung keine materielle Alternative zu bezahlter Arbeit
ist und neben bereits geleisteter Erwerbsarbeit auch Arbeitsfähigkeit und
Arbeitswilligkeit zur Voraussetzung hat.

Trotz dieses Konsenses zählte die Arbeitslosenversicherung zu jenen
sozialpolitischen Materien, um die sich in der Folgezeit heftigste
Auseinandersetzungen und Ablehnung seitens bürgerlicher Parteien und
Unternehmerorganisationen rankten. So erfolgten beispielsweise im
Austrofaschismus weitreichende Einschnitte in das System der
Arbeitslosenversicherung: Das Leistungsniveau wurde gesenkt, große Teile der
Arbeitslosen wurden ausgegrenzt und ausgesteuert.

Ebenso wie andere sozialpolitische Einrichtungen wurde nach dem "Anschluss"
1938 das in Deutschland bestehende Arbeitslosenversicherungsgesetz mit dem
Inkrafttreten des deutschen Rechts (1.1.1939) auf Österreich übertragen.
Allerdings hat der Nationalsozialismus dann die Arbeitslosenversicherung
durch die Verordnung über die Arbeitslosenhilfe faktisch beseitigt. Damit
wurde das Versicherungsprinzip durch das Fürsorgeprinzip der
Arbeitslosenfürsorge ersetzt: Deren Gewährung setzte bloß eine
Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitseinsatzunfähigkeit voraus.

2. Arbeitslosenversicherung in der Zweiten Republik

Die sozialpolitische Entwicklung war ab 1945 zum einen durch die Anknüpfung
an die Tradition der Ersten Republik und an das in der Ersten Republik
erreichte sozialpolitische Niveau geprägt. Zum anderen ging es vorerst auch
um die Beseitigung verschiedener sozialpolitischer Bestimmungen, die im
Austrofaschismus und Nationalsozialismus getroffen worden waren - was auch
für die Arbeitslosenversicherung galt.

Am 15. Mai 1946 wurde das Arbeitslosenfürsorgegesetz als vorläufige Regelung
der Arbeits-losenunterstützung auf versicherungsmäßiger Grundlage
beschlossen. Als Anspruchsvoraussetzungen galten wie bereits 1920
Arbeitsfähigkeit, Arbeitswilligkeit und Arbeitslosigkeit. Die endgültige
umfassende Neuregelung erfolgte mit dem am 22. Juli 1949 beschlossenen
Arbeitslosenversicherungsgesetz. Der Kreis der Pflichtversicherten wurde
durch Einbeziehung der landwirtschaftlichen ArbeiterInnen erweitert. Das
Arbeitslosengeld wurde nach Dauer der Beschäftigung abgestuft berechnet.
Einen ganz wichtigen Punkt stellt die mit dem Gesetz aus 1949 ein-geführte
Krankenversicherung der Arbeitslosen während des Bezugs der Leistungen aus
der Arbeitslo-senversicherung dar. Anders waren die Bedingungen für die
Anschluss-leistung an das Arbeitslosengeld: die Notstandshilfe. Für diese
gilt das Kriterium der Notlage, sie ist zeitlich nicht begrenzt.

In der Folgezeit erfuhr die Arbeitslosenversicherung eine Reihe von
Verbesserungen: hinsichtlich der Anwartschaft bzw. der Anrechnung von
Einkünften auf das Arbeitslosengeld. 1969 wurde mit der Einführung der
aktiven Arbeitsmarktpolitik eine Trennung von der traditionellen
Arbeitslosenversicherung vorgenommen.

Seit Mitte der 1980er Jahre zeichneten sich im Bereich der Sozialpolitik
merkbare Veränderungen ab. Die Hochblüte des österreichischen Sozialstaates
neigte sich ihrem Ende zu. Ambivalent gestaltete sich eben - so wie in
anderen Leistungssystemen - der Veränderungsprozess im Bereich der
Arbeitslosenversicherung: Bis 1993 sind sowohl Erweiterungen als auch
Restriktionen konstatierbar. Zu jenen Maßnahmen, die Verbesserungen des
Status quo im Leistungssystem brachten, zählen exemplarisch die Aufhebung
der frauendiskriminierenden "Vollverdienstklausel", die Einführung einer
einheitlichen Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld (57,9%), die
Einbeziehung von Teilen der AusländerInnen in die Notstandshilfe. Nicht
zuletzt sei auch die Verlängerung der Bezugsdauer bei länger dauernder
Versicherungszeit gekoppelt mit Lebensalter erwähnt.

Zur gleichen Zeit wurden leistungsbegrenzende Maßnahmen wie die Kürzung des
Niveaus der Notstandshilfe (von 95% auf 92%), die Ausweitung der
Sperrzeiten, die Anrechnung der Transferleistungen von Angehörigen bei der
Berechnung der Notstandshilfe sowie die Ausweitung der erforderlichen
Anwartschaftszeit für Jugendliche beschlossen.

Nach 1993 kommt der restriktive Kurs bis Ende des Jahrzehnts durchgängig zum
Tragen: die Bedingungen des Arbeitslosengeldbezuges und die Bestimmungen
zumutbarer Beschäftigung wurden verschärft, die Nettoersatzrate von 57,9%
auf 57% bzw. auf 56% reduziert, die Dauer der Sanktionen bei sog.
Arbeitsverweigerung erweitert.

Einschneidender sind die von der erstmaligen schwarz-blauen Koalition
ergriffenen und angepeilten Maßnahmen. Diese ist im Jahr 2000 unter anderem
mit dem Vorhaben angetreten, den Missbrauch von Sozialleistungen zu
verhindern und zu sanktionieren, und verstärkte den restriktiven Kurs der
vorangegangenen Jahre. Als Teil des Paketes "Erhöhung der Treffsicherheit"
wurde im Herbst 2000 das Leistungsniveau des Arbeitslosengeldes erneut
reduziert (auf 55%), die Anwartschaftszeit bei wiederholter Inanspruchnahme
des Arbeitslosen-geldes von 26 auf 28 Wochen verlängert, die Kontrolle und
Sanktion bei Arbeitslosengeld-BezieherInnen verschärft sowie der
Familienzuschlag vermindert. Ohne Umsetzung blieb die in Anlehnung an
Deutschland ventilierte Zusammenlegung der Anschlussleistung an das
Arbeitslosengeld, der Notstandshilfe, mit der Sozialhilfe. Kernpunkte einer
Novelle des Arbeitslosenversicherungsgesetzes aus 2004 sind die Ablöse des
Berufsschutzes (Verhinderung der zwangsweisen Vermittlung in eine andere als
erlernte Tätigkeit während des Arbeitslosengeldbezuges) durch den
Entgeltschutz (Sicherung von 80% des früheren Entgelts während der ersten
120 Tage) sowie die Berücksichtigung von Betreuungspflichten und Wegzeiten.

Unter der neuerlichen schwarz-blauen Regierungskoalition in den Jahren
2017 - 2019 war in der Arbeitslosenversicherung wie schon unter der
Regierung Schüssel ein Paradigmenwechsel geplant: Die Notstandshilfe sollte
abgeschafft, deren Aufgabe in die neu geregelte "Sozialhilfe" verschoben
werden. Das vorzeitige Ende der schwarz-blauen Regierung stoppte dieses
Vorhaben.

3. Corona-Zeiten

Angesichts der coronabedingten enormen Zunahme der Anzahl und der Dauer der
Arbeitslosigkeit wurde auf Basis einer Vereinbarung zwischen den
Sozialpartnerorga-nisationen und der türkis-grünen Regierung ein
spezifisches Kurzarbeitsbeihilfe-Modell realisiert. Zudem erfolgte ein
Beschluss über eine befristete Anhebung der Notstandshilfe auf das Niveau
des Arbeitslosengeldes und eine Einmalzahlung zum Arbeitslosengeld (von
bisher 900 Euro).

Was Türkis-Grün für die Arbeitsl-senversicherung noch bringen wird, kann
zurzeit noch nicht eingeschätzt werden. Insbesondere in der aktuellen
Arbeitsmarktsituation und einer wachsenden Zahl von Langzeitarbeitslosen
zeigt sich die Wichtigkeit der materiellen Absicherung im Fall der
Arbeitslosigkeit, zugleich aber auch deren Reformbedürftigkeit. Denn
unübersehbar ist, dass die österreichische Arbeitslosenversicherung für
viele Betroffene keine ausreichende Absicherung bietet . Österreich zählt
mit 55% neben Großbritannien, Rumänien, Griechenland und Polen zu den
Ländern mit den geringsten Nettoersatzraten in der Arbeitslosenversicherung.
Das Niveau der Notstandshilfe ist noch niedriger.

Die von den Gewerkschaften, Arbeiterkammern, der SPÖ und
zivilgesellschaftlichen Organisationen geforderte Erhöhung des
Arbeitslosengeldes und der Notstandshilfe wird einen wesentlichen
Streitpunkt in den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen der
nächsten Zeit bilden. Denn der (trotz Koalition mit den Grünen) zurzeit
dominierende gesellschaftspolitische Entscheidungsträger ÖVP und ihr neuer
Arbeitsminister sind nach wie vor strikt gegen eine Anhebung der
Nettoersatzrate - mit der unzutreffenden Behauptung und Unterstellung, dass
dies die Arbeitsunwilligkeit befördern würde.

(leicht gekürzt)


Quelle:
https://www.solidarwerkstatt.at/arbeit-wirtschaft/hundert-jahre-arbeitslosenversicherung-1920-2020


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