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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 2. September 2021; 01:42
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Flucht aus Afghanistan:

> Wie geht es jetzt weiter in Afghanistan?

*Kathrin Glösel* interviewte für KONTRAST am 18.August den Politologen
*Thomas Schmidinger* über Hintergründe und Aussichten

Afghanistan ist in den Händen der Taliban. Binnen weniger Wochen haben sie
das Land und die Hauptstadt unter ihre Kontrolle gebracht. Was bedeutet das
für die Bevölkerung? Wie werden sich Nachbarländer verhalten - kann es
überhaupt so etwas wie politische Beziehungen mit den Taliban geben? Und:
Wie kann man aus der Ferne den jetzt gefährdeten Menschen helfen? Über das
alles haben wir mit dem Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger
gesprochen.

KONTRAST: Seit 2001 haben die USA in Afghanistan interveniert, mit dem Ziel,
die Taliban zu vertreiben. Trotzdem haben die jetzt binnen weniger Wochen
das Land eingenommen. Wie kam das?

Thomas Schmidinger: Die USA haben 2001 mit den Warlords zusammengearbeitet,
die sie schon gegen die Sowjetunion und das Regime der realsozialistischen
Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA) unterstützt hatten. Diese
Leute bildeten später das politische Personal und bauten auch die Armee der
neuen "Islamischen Republik Afghanistan" auf. Herausgekommen sind ein Staat
der korrupten Warlords - die sich noch ein paar aus Afghanistan stammende
Weltbankfunktionäre wie Ashraf Ghani und andere Exilanten geholt hatten -
und eine Armee, deren Soldaten finanziell und logistisch von den USA
abhängig waren.

2001 waren die Taliban in Afghanistan relativ unbeliebt. Die Art der
Kriegsführung der USA, insbesondere der Drohnenkrieg mit seinen vielen
zivilen Opfern, hat aber viele im ländlichen Afghanistan den Taliban wieder
in die Arme getrieben. Sie haben es geschafft, sich als nationale
militärische Kraft gegen die Besatzer zu positionieren. Außerhalb der
urbanen Oberschichten, die vom Staat direkt profitierten, wurden sowohl die
Besatzer als auch die Regierung immer unbeliebter.

Als die USA mit ihrem Rückzug begannen und auch die Unterstützung dieser
Armee zu Ende ging, wurde teilweise der Sold nicht mehr bezahlt, kaum noch
Nachschub geliefert und bald wusste niemand, warum er für diese Regierung
noch kämpfen sollte. Viele Regionen Afghanistans sind fast kampflos an die
Taliban gefallen, da der Staat de facto implodiert ist. Die Kämpfe, die es
zuletzt in Kabul gab, waren teilweise Kämpfe bisheriger
Pro-Regierungs-Sicherheitskräfte um die Frage, wer mit wie viel Geld noch
abhauen kann. So konnten die Taliban ernsthaft behaupten, sie würde in Kabul
einmarschieren, um Plünderungen zu verhindern.

KONTRAST: Manche meinen ja, man hätte mit den Taliban verhandeln können - um
die Frage: Wie viel Macht bekommen sie, wenn sie dafür ihre gewalttätigen
Eroberungszüge beenden. Wie siehst du das?

Thomas Schmidinger: Diese Frage ist längst historisch. Vor einigen Monaten
hatten die Taliban noch eine Übergangsregierung angeboten, wenn Präsident
Ashraf Ghani zurücktritt. Jetzt haben sie das gesamte Land unter Kontrolle
und keinen Grund mehr, mit der bisherigen Regierung zusammenzuarbeiten. Zwar
sprechen sie jetzt von einer "inklusiven islamischen Regierung", die auch
andere nicht-Taliban-Kräfte inkludieren soll. Aber selbst wenn diese
zustande kommen sollte, ist klar, dass diese von den Taliban dominiert
werden wird. Für andere Lösungen ist es nun zu spät. Die Taliban sind sicher
nicht mit jihadistischen Gruppe wie dem "Islamischen Staat" gleichzusetzen,
weil sie begrenzte territoriale Ziele haben. Insofern würde ich, anders als
beim IS, Verhandlungen nicht per se für unmöglich handeln. Es sieht ja auch
sehr danach aus, dass die USA sich ihren freien Abzug herausverhandelt
haben. Ob die Taliban aber zu einer Teilung der Macht langfristig bereit
wären, ist eine völlig andere Frage.

KONTRAST: Haben die Taliban jetzt nach der Eroberung Kabuls ihr Ziel
erreicht?

Thomas Schmidinger: Ja. Es gibt zwar auch territoriale Ansprüche auf
paschtunische Siedlungsgebiete im Westen Pakistans, die ja erst durch die
Briten von Afghanistan abgetrennt wurden, und wo auch die pakistanischen
Taliban aktiv sind. Ich erwarte aber nicht, dass die Taliban sich in dieser
Situation gleich mit Pakistan anlegen, das ja in den 1990ern der
Hauptförderer der Taliban war. Sie werden in den Grenzen des heutigen
Afghanistan ein extrem rigides Regime errichten und hoffen, damit irgendwann
auch international anerkannt zu werden.

KONTRAST: Was glaubst du, wie jetzt die Nachbarländer reagieren? Werden oder
müssen sie die Taliban als politische Partner ansehen?

Thomas Schmidinger: Es gibt jetzt schon informelle Kontakte mit Pakistan,
China, Russland und dem Iran. Ich rechne damit, dass China und Pakistan die
neue Regierung vielleicht noch bis Jahresende anerkennen werden. Beim Iran
wird es auch davon abhängen, wie die Taliban diesmal die schiitischen Hazara
behandeln, die in den 1990er-Jahren sehr unter der Herrschaft der Taliban
gelitten hatten. Die nördlichen Nachbarstaaten werden wohl darauf warten,
wie sich Russland verhält. Aber auch hier gibt es bereits informelle
diplomatische Kontakte, die zu einer formalen Anerkennung führen könnten.

KONTRAST: Wer ist denn jetzt in Afghanistan besonders gefährdet?

Thomas Schmidinger: Jeder, der mit den USA, den Deutschen aber auch anderen
Staaten zusammengearbeitet hat. Auch Österreich hatte ja bis Juni 2021 im
Rahmen der so genannten NATO-"Partnerschaft für den Frieden" einige
Bundesheersoldaten in Afghanistan, hätte also eine gewisse Verantwortung für
die Ortskräfte, die nun gefährdet sind.

Ebenso gefährdet sind politische Gegner:innen der Taliban, vor allem jene
die ihren politischen Kampf fortsetzen wollen, sowie Angehörige religiöser
Minderheiten, wie die Sikhs, Hindus und Zoroastrier. In großer Angst leben
auch viele schiitische Hazara, wobei sich hier in einigen Gebieten, zB. in
der Provinz Ghazni gezeigt hat, dass es auch mit den Hazara zu Abkommen der
Taliban gekommen ist und möglicherweise der Iran die Funktion einer
Schutzmacht übernehmen könnte.

Frauen, die sich nicht der rigiden Geschlechterordnung der Taliban
unterwerfen wollen oder Homosexuelle gehören sicher auch zu den akut
gefährdeten Personengruppen.

Obwohl es zumindest ein öffentliches Bekenntnis gibt, diese Menschen
verschonen zu wollen. Die Taliban müssen aber erst beweisen, dass diese
Ankündigungen ernst gemeint sind.

KONTRAST: Wie funktioniert das Weiterleben unter den Taliban? Wie sieht da
der Alltag aus?

Thomas Schmidinger: Wir wissen noch nicht, ob das Leben im "Islamischen
Emirat Afghanistan" 2.0 gleich aussehen wird wie im ersten "Emirat" von
1997-2001. Damals herrschte eine extrem rigide Geschlechterordnung, die
Frauen völlig aus dem Bildungswesen und Arbeitsmarkt verbannt und unter die
Burka gezwungen hat. Und es gab eine extreme Interpretation der Sharia als
Strafrecht. Wenn man den Ankündigungen der Taliban heute Glauben schenken
will, soll dies nun nicht mehr so extrem gehandhabt werden. Frauen sollen
demnach weiter zur Schule gehen können, arbeiten dürfen und nur den Tschador
tragen müssen. Dass das wirklich so sein wird, müssen die Taliban aber erst
in der Realität unter Beweis stellen.

KONTRAST: Wie muss man sich das vorstellen, wie das für die Bevölkerung
weitergeht - auch wirtschaftlich? Können Menschen in Afghanistan gerade
überhaupt ihre Grundbedürfnisse decken?

Thomas Schmidinger: Das drängendste Problem ist sicher die Versorgung der
vielen intern Vertriebenen in den nächsten Monaten.

In zwei Monaten kann schon der Wintereinbruch kommen. Wenn dann immer noch
tausende Menschen in Zelten in Kabul leben, wird es schwierig werden.

Aber auch längerfristig, gibt es außer der Opiatherstellung kaum eine
ökonomische Grundlage für das Land. Eine Isolation des Landes werden sich
die Taliban schon rein wirtschaftlich nicht leisten können. Interessant wird
längerfristig die Entwicklung des Verhältnisses zu China, mit dem es über
den Wakhjir Pass ja einen historischen Verbindungsweg aber keinen aktuellen
Grenzübergang gibt. Sollte es den Taliban gelingen, den Krieg zu beenden und
ihren autoritären Maßnahmen so etwas wie ein Gewaltmonopol herzustellen,
könnte das Land für Chinas Belt and Road-Initiative (neue Seidenstraße,
Anmk. d. Redaktion) durchaus ein interessantes Verbindungsstück zum Iran
werden. Aber das liegt wohl noch etwas in der Zukunft.

Europa kann der Bevölkerung selbstverständlich weiterhin humanitär helfen,
wenn man bereit ist, dazu irgendwie mit der neuen Regierung zumindest zu
kommunizieren. Ebenso wichtig ist es aber jene, die nun wirklich ins Exil
gehen müssen und als Flüchtlinge nach Europa kommen, auch anständig zu
behandeln und ihre Asylanträge entsprechend zu bearbeiten.

Anstatt, wie Innenminister Nehammer, von völlig illusorischen Abschiebungen
von Afghanen in die Nachbarländer zu träumen, sollte sich Österreich
endlich - wie andere EU-Staaten auch - daran beteiligen, gefährdete
ZivilistInnen, die nun in Sicherheit gebracht werden, aufzunehmen.
(leicht gekürzt)

Creative Commons Lizenz CC BY-SA 4.0

https://kontrast.at/afghanistan-wie-geht-es-weiter



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