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  akin-Pressedienst.
  Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 7. Juli 2021; 20:13
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  Sommergedanken:
  
  > Die Sache mit dem Hauptwiderspruch
  
  "Wenn ein Prozeß mehrere Widersprüche enthält, muß einer von ihnen der
  Hauptwiderspruch sein, der die führende und entscheidende Rolle spielt,
  während die übrigen nur eine sekundäre, untergeordnete Stellung einnehmen.
  Sobald dieser festgestellt ist, kann man alle Probleme leicht lösen." (Mao)
  
  "Es ist alles sehr kompliziert." (Sinowatz)
  
  
  Die Theorie des Hauptwiderspruchs war ja ganz besonders in den KPs dieser
  Welt lange Zeit sehr beliebt, aber auch die Sozialdemokratie konnte damit
  recht gut leben -- vor allem, weil man damit wunderbar die Frauen in der
  zweiten Reihe halten konnte. Motto: Nach der Revolution löst sich die
  "Frauenfrage" ganz von selbst.
  
  In den Comecon-Staaten war auch die Unterdrückung anderer Fragestellungen
  damit leicht argumentierbar, egal, ob es um Umwelt, Militarismus, Demokratie
  oder Homosexualität ging; Alle Probleme werden gelöst sein, wenn der real
  existierende Sozialismus im Himmelreich des Kommunismus angelangt ist und
  der neue Sowjetmensch die ganze Welt gestalten darf.
  
  Im Westen entstand hingegen im Gefolge von 68ern und Hippies die
  Alternativbewegung, die sich nie so wirklich entscheiden konnte, ob sie
  esoterisch-idealistisch oder modern-materialistisch denken sollte.
  
  Diese Entwicklung hatte durchaus auch ihr Gutes: Die bisherige
  Nebenwidersprüche wurden aufgewertet, soziale Bewegungen abseits des
  Widerspruchs zwischen Arbeit und Kapital erhielten eine größere
  gesellschaftliche Relevanz. Dabei blieb aber zumeist schon klar, daß der
  bisher einzige Hauptwiderspruch immer präsent zu sein hatte.
  
  Doch diese ideologische Indifferenz, vor der ja obzitiert Mao gewarnt hatte,
  gebar schließlich ein ideologisches Zwischending, irgendwas zwischen Moderne
  und Romantik: die Postmoderne. Die sorgte dafür, daß nun fast alle
  gesellschaftlichen Probleme Hauptwidersprüche waren, nur der Kapitalismus
  zum Nebenwiderspruch herabsank. Ja, man könnte sagen, vagunnt, vagunnt, das
  Kaprizieren auf diesen einen Punkt rächt sich jetzt. Allerdings hängt das
  auch mit den nunmehrigen Akteurinnen und Akteuren zusammen, die halt zumeist
  nicht aus der Arbeiterklasse stammen und sich oft trefflich mit dem
  Kapitalismus arrangiert haben.
  
  Das Denken in Hauptwidersprüchen allerdings feiert trotzdem fröhliche
  Urständ. Der jetzige wäre global der Klimawandel, wenn ihm da nicht mittels
  Blutgrätsche Corona dazwischengefunkt hätte. Seit Anfang 2020 müssen sich
  die beiden als thematische Doppelspitze das Feld teilen. Alles andere ist
  aber egal, besonders in der Argumentation der meisten derjenigen, die sich
  heute noch als irgendwie links verstehen.
  
  Besonders dramatisch zeigt sich diese Entwicklung bei den hiesigen Grünen --
  denn die können überhaupt nur mehr auf die beiden Hauptthemen hinweisen, um
  ihre Regierungsbeteiligung irgendwie zu rechtfertigen; was insbesondere bei
  dieser Partei nahezu als pervers anzusehen ist, waren sie doch diejenigen,
  die früher predigten, man müsse "ganzheitlich" und "vernetzt" denken.
  
  Sogar die verwandten Problematiken dieser Dia-Thematik werden noch mehr
  ignoriert als alles andere, nämlich die Fragen von Gesundheit und
  Umweltschutz:
  
  Hauptwiderspruch Corona: Es ist völlig blunzen, wenn Menschen vereinsamen
  oder sich nicht zum Arzt trauen oder wenn Ärzte vor lauter Corona-Angst
  Patienten nimmer angreifen und Ferndiagnosen stellen oder lebensnotwendige
  Operationen so lange verschoben werden, bis es zu spät ist. Long Covid wird
  nicht nur als die Dauerfolge einer Infektion mit dem Virus, sondern auch
  sozialmedizinisch existieren -- als Folge der Maßnahmen.
  
  Hauptwiderspruch Klimawandel: Plötzlich soll alles elektrisch werden!
  Mobilität und Heizen dürfen nicht mehr mineralkalorisch sein, ab sofort
  kommt der Strom umweltfreundlich aus der Steckdose. Ja, da sind wir wieder
  speziell bei den hiesigen Grünen, die nur wegen Zwentendorf und Hainburg
  existieren, das aber längst vergessen haben. Jetzt ist die Wasserkraft
  plötzlich total sauber und den Atomstrom importieren wir sowieso aus dem
  Ausland.
  
  Natürlich kommt dieses Denken nicht nur bei den Grünen vor, es ist dort nur
  besonders auffällig. Ich will auch weder die Pandemie noch die
  Klimaproblematik verharmlosen. Worum es mir geht, ist, daß diese "Denke" in
  einer komplexen Welt völlig inadäquat ist.
  
  Es geht mir auch gar nicht um Corona oder Klima -- ersteres wird hoffentlich
  bald vorbei sein und zweiteres zwar auch weiterhin ein vorhandenes Problem,
  das aber aus den Schlagzeilen verschwindet, weil es keiner mehr hören kann
  und damit auch als Wahlkampfthema uninteressant wird.
  
  Wir leben in einer Welt von Verteilungskämpfen und in denen dreht es sich um
  Geld, Ressourcen, Gesundheit und wohl auch um Rechte und Würde. Die
  Diskussionen laufen heute aber gerade in der Linken nicht mehr darum, wie
  diese Welt besser zu machen ist, sondern wovor wir uns am meisten fürchten
  sollen. Das ist vielleicht der Unterschied zu den früheren Zeiten der
  Moderne, als ein wie immer gearteter Fortschritt eine optimistischere
  Weltsicht ermöglichte.
  
  Damals wie heute war es en vogue, einfache Lösungen zu finden, und daher ist
  immer ein einzelnes Grundübel auszumachen oder zumindest ein vorrangiges
  Problem. Da kann man eindeutige Losungen ausgeben und muß sich um den ganzen
  Rest nicht scheren. Gerade die Linke ist da mit ihrem Ansatz von "Which side
  are you on?" ein einziges Empörium, das sich eindeutige Frontverläufe
  wünscht und damit auch einfache Forderungen erhebt -- in Zeiten von Social
  Media noch verstärkter als früher.
  
  Was ich mir nur wünsche, ist sowas wie eine Denkfolgenabschätzung: 'Was
  verursache ich, wenn ich ein einzelnes Grundübel verorte und mich um alles
  andere nicht mehr schere?' Wahrscheinlich ist das heutzutage zuviel
  verlangt, notwendig wäre es aber trotzdem. Das Fokussieren auf
  Hauptwidersprüche könnte dann vielleicht endlich ein Ende haben.
  
  Allerdings: Kapitalismus war, ist und bleibt scheiße und muß bekämpft
  werden.
  
  Aber eben nicht nur dieser.
  
  v
  Ce
  
  
  (Überarbeitete Fassung einer ursprünglich für die KPÖ Wien verfaßten Glosse
  in der Rubrik "Left Comments" auf Facebook)
  
  
  
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