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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 26. Mai 2021; 10:50
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International:

> Quod licet Iovi...

Die EU verhängt neue Sanktionen gegen Belarus. Ein vergleichbarer Übergriff
auf die zivile Luftfahrt seitens mehrerer EU- bzw. NATO-Staaten blieb 2013
folgenlos. Daran erinnert der Blog *German Foreign Policy* (24.5.2021):


Die EU verhängt in Reaktion auf die erzwungene Zwischenlandung eines
Ryanair-Fluges in Minsk sowie die Festnahme eines belarussischen
Exiloppositionellen neue Sanktionen gegen Belarus. So sollen etwa
belarussische Airlines den Luftraum der EU nicht mehr durchqueren dürfen;
auch neue Wirtschaftssanktionen stehen bevor. Die Reaktionen stehen in
krassem Gegensatz zu den Reaktionen auf einen Vorfall im Juli 2013. Damals
hatten mehrere EU-Staaten das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Evo
Morales mit der plötzlichen Sperrung ihres Luftraums zu einer
Zwischenlandung in Wien gezwungen, wo die Maschine unter Bruch
internationaler Normen kontrolliert wurde. Grund war, dass die Vereinigten
Staaten den Whistleblower Edward Snowden an Bord vermuteten und ihn nach der
erzwungenen Zwischenlandung festnehmen wollten. Das Ansinnen scheiterte nur,
weil Snowden in Russland geblieben war. Proteste Berlins und der EU blieben
aus. Die aktuellen Reaktionen erklären sich auch daraus, dass das Minsker
Vorgehen die gesamte vom Westen protegierte belarussische Exilopposition in
Verunsicherung stürzt.

"Staatliche Luftpiraterie"

Bereits am Sonntag, unmittelbar nach der erzwungenen Zwischenlandung des
Ryanair-Flugs in Minsk und der Festnahme des mitgereisten belarussischen
Oppositionellen Roman Protasewitsch, hatten Politiker in Berlin und der EU
sowie in den USA das belarussische Vorgehen aufs Schärfste verurteilt. Es
sei "absolut inakzeptabel, den Ryanair-Flug von Athen nach Vilnius zu
zwingen, in Minsk zu landen", erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von
der Leyen.[1] Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz wurde mit der
Äußerung zitiert, die EU werde "Konsequenzen ziehen müssen gegen den
weißrussischen Diktator Lukaschenko und sein Regime". Außenminister Heiko
Maas kündigte ebenfalls schon am Sonntag "deutliche Konsequenzen von Seiten
der Europäischen Union" an.[2] Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock
stellte die erzwungene Landung "einer staatlichen Entführung eines
Passagierflugzeugs" gleich, während die litauischen Behörden Ermittlungen
wegen Flugzeugentführung ankündigten und das griechische Außenministerium
"staatliche Luftpiraterie" anprangerte.[3] US-Außenminister Antony Blinken
kündigte eine enge Abstimmung mit den US-Verbündeten in Europa an und
verlangte zudem eine "internationale Untersuchung".

Zur Zwischenlandung gezwungen

Der Vorfall ist keineswegs präzedenzlos. Vergleichbares war in der Nacht vom
2. auf den 3. Juli 2013 mit dem Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Evo
Morales geschehen, der sich auf dem Rückflug von einer Konferenz in Moskau
befand. In der russischen Hauptstadt war kurz zuvor der Whistleblower Edward
Snowden eingetroffen, dessen die Vereinigten Staaten um fast jeden Preis
habhaft zu werden suchten. In Geheimdienstkreisen zirkulierten -
unzutreffende - Gerüchte, Morales könne Snowden an Bord seiner Maschine
genommen haben, um ihm in Bolivien Asyl zu gewähren. Nachdem das
bolivianische Präsidentenflugzeug in Moskau abgehoben war, sperrten -
offenkundig auf Druck aus Washington - die NATO-Mitglieder Frankreich,
Italien, Spanien und Portugal in einer Blitzaktion ihren Luftraum für den
Flug. Morales musste notgedrungen einen Zwischenhalt in Wien einlegen. Dort
kam es zu einer Kontrolle des Flugzeugs, die schließlich den Nachweis
erbrachte, dass Snowden nicht an Bord war.[4] Erst danach durfte der
bolivianische Präsident seine Heimreise fortsetzen. Hätte sich der
US-Whistleblower in der Maschine befunden, wäre er nach menschlichem
Ermessen ebenso festgenommen worden wie jetzt der belarussische
Oppositionelle Roman Protasewitsch.

"Rechtlich einwandfrei"

Der damalige Vorfall belegt nicht nur die prinzipielle Bereitschaft der
westlichen Staaten, ihrerseits fremde Flugzeuge zum Landen zu nötigen, um
Oppositionelle festnehmen zu können. Erschwerend kam noch hinzu, dass es
sich bei Morales' Maschine um ein Präsidentenflugzeug handelte, das laut
internationalen Normen diplomatische Immunität genießt.[5] Nach harten
Auseinandersetzungen gelang es, die Kontrolle des Jets in Wien als
"freiwillige Nachschau" zu deklarieren, um einen noch größeren
diplomatischen Skandal zu vermeiden.[6] Von einem Akt der "Piraterie" war
damals mit Blick auf die involvierten Staaten - sämtlich Mitglieder von NATO
und/oder EU - im Westen nicht die Rede. Die Regierungen Frankreichs,
Italiens, Spaniens und Portugals gaben wenig später zu Protokoll, sie
"bedauerten" den Vorfall; bei bolivianischen Stellen gingen lediglich
folgenlose Bitten um Entschuldigung ein. In Kommentaren hieß es
zurückhaltend, "die Jagd" auf Snowden treibe "seltsame Blüten" [7];
kritisiert wurde allenfalls, der Übergriff sei "taktlos, undiplomatisch,
peinlich" [8]. Zitiert wurden Völkerrechtler mit der Äußerung, die
plötzliche Sperrung ihres Luftraums für Morales' Flugzeug, die die Landung
in Wien erzwang und die Kontrolle ermöglichte, sei "rechtlich ...
einwandfrei"; dieselbe Position vertrete, so hieß es, auch die
EU-Kommission.[9] Sanktionen standen nie zur Debatte.

Die Hauptstadt der Exilopposition

Im Unterschied zu damals fallen die Reaktionen in Berlin nicht nur deshalb
so scharf aus, weil diesmal nicht westliche Staaten, sondern Belarus die
Zwischenlandung des Flugzeugs erzwungen hat, sondern auch, weil der
Übergriff die vom Westen protegierte belarussische Exilopposition hart
trifft. Der am Sonntag in Minsk festgenommene Roman Protasewitsch hat sich
als Mitherausgeber des Telegram-Kanals Nexta, einem der zentrlaen
Agitationsorgane der belarussischen Opposition, einen Namen gemacht.
Protasewitsch befand sich auf der Rückreise aus Griechenland, wo er einen
Aufenthalt von Oppositionsanführerin Swetlana Tichanowskaja begleitete;
diese hatte dort auf Einladung des Athener Außenministeriums ein von
Spitzenpolitikern besuchtes Wirtschaftsforum ("Delphi Forum") besucht.
Vilnius, das Ziel des Ryanair-Fluges, ist nicht nur Tichanowskajas
gegenwärtiger Aufenthaltsort, sondern auch "eine Art Hauptstadt der
belarussischen Dissidenten", heißt es bei deren Unterstützern; Litauen
"orchestriere" zudem die politischen Aktivitäten der belarussischen
Exilopposition.[10] Über Vilnius fördern auch bundesdeutsche Stellen die
Proteste gegen den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko; von
dort aus hält die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung enge Kontakte zu
"Partnern in Belarus".[11] Nach Protasewitschs Festnahme macht sich in
Vilnius nun allerdings Verunsicherung breit.[12]

Neue Sanktionen

Die EU und ihre Mitgliedstaaten erhöhen nun den Druck auf Belarus massiv. Am
gestrigen Montag hatten zunächst mehrere Airlines aus EU-Ländern
angekündigt, den belarussischen Luftraum künftig zu meiden, darunter die
Lufthansa und die niederländische KLM. Die britische Regierung schloss sich
an und gab bekannt, britische Fluggesellschaften sollten in Zukunft den
belarussischen Luftraum ebenfalls nicht mehr durchqueren. Dazu forderten die
EU-Staats- und Regierungschefs gestern Abend dann alle Fluggesellschaften
aus der Union auf. Darüber hinaus sollen belarussische Airlines Flughäfen in
der EU nicht mehr nutzen und auch den Luftraum der EU-Mitgliedstaaten nicht
mehr durchqueren dürfen. Damit ist ihnen jeder direkte Flug in Richtung
Westen verwehrt. Es kommen neue Sanktionen gegen Personen und Unternehmen
hinzu; zudem legt die EU geplante Investitionen in Belarus auf Eis.[13]
Genauere Angaben zu den neu geplanten "gezielten Wirtschaftssanktionen"
liegen noch nicht vor.
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Quelle: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8606/
[1] "Eine dreiste und schockierende Tat des Lukaschenko-Regimes".
sueddeutsche.de 23.05.2021.
[2] Außenminister Maas zur erzwungenen Zwischenlandung des Ryanair-Flugs in
Minsk. Pressemitteilung des Auswärtigen Amts. Berlin, 23.05.2021.
[3] "Eine dreiste und schockierende Tat des Lukaschenko-Regimes".
sueddeutsche.de 23.05.2021.
[4] Ruth Eisenreich: Flugzeug von Morales auf Kanaren gelandet.
tagesspiegel.de 03.07.2013.
[5] Latin American nations voice concerns to Ban over rerouting of Bolivian
leader's plane. news.un.org 09.07.2013.
[6] Bolivien: Österreich hat Morales "gekidnapped". diepresse.com
03.07.2013.
[7] Michaela Seiser: Unfreiwilliger Staatsbesuch. faz.net 03.07.2013.
[8] Johannes Kuhn: Taktlos, undiplomatisch, peinlich. sueddeutsche.de
03.07.2013.
[9] Claus Hecking: Juristen geben Überflug-Verweigerern recht. spiegel.de
03.07.2013.
[10] BNN analyses: Lithuania is playing first fiddle in Belarus freedom case
abroad. bbn-news.com 20.08.2020.
[11] S. dazu Der Kampf um Minsk.
(https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8359/ , nur für
Abonnenten im Volltext lesbar.)
[12] André Ballin: Verhaftung Protassewitschs zeigt Hilflosigkeit der
Opposition auf. derstandard.at 24.05.2021.
[13] EU sperrt Luftraum für weißrussische Flieger und stoppt Investitionen.
derstandard.at 24.05.2021.

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> Anmerkung aus der Redaktion

Bezüglich der wahrscheinlich gewesenen Festnahme Snowdens ist der
Einschätzung obigen Kommentars zu widersprechen. Der damalige
Bundespräsident Heinz Fischer bestritt eine Durchsuchung oder auch nur
freiwillige Nachschau. Lediglich ein Flughafenmitarbeiter habe das Flugzeug
betreten, da ein technischer Defekt bei der Maschine gemeldet worden war.
Fischer im Interview mit dem 'Kurier': "Der österreichische Beamte hat die
Auskunft erhalten, dass der Defekt bereits behoben sei und hat bei dieser
Gelegenheit gesehen, dass das Flugzeug leer ist. Er hat nicht unter den
Sitzen nachgesehen." (1)

Möglicherweise war das nur eine zwischen Fischer und Morales akkordierte
Sprachregelung, weil man die Übereifrigkeit einiger Polizeibeamten
kaschieren wollte; den diplomatischen Gepflogenheiten würde das keinen
Abbruch tun. Denn selbst wenn Snowden an Bord gewesen wäre, wäre es kaum zu
einer Verhaftung gekommen, weil, wie Fischer klar feststellte, das Flugzeug
eines Staatspräsidenten zu dessen Hoheitsgebiet gehöre. Folglich hätte
Snowden schon freiwillig aussteigen müssen.

Genauso wie Fischer war auch der damalige Außenminister Spindelegger nach
Schwechat zu einem Empfang des unerwarteten Staatsgastes gefahren. Beide
österreichischen Politiker wußten aber ganz genau, was sie gemäß dem
diesbezüglichen internationalen Vertrag, der nicht ohne Grund als "Wiener
Abkommen" bekannt ist, zu tun haben.

Allerdings: Beim heutigen politischen Personal kann man sich im Falle eines
ähnlichen Vorkommnisses nicht mehr sicher sein, wie sie agieren würden.
-br-

(1)
https://kurier.at/politik/inland/fischer-keine-durchsuchung-von-morales-jet/18.146.247



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