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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 29. April 2021; 05:18
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Debatte:

> Linke Benimmregeln

Kritik an der Verhaltensoriginalität fortschrittlich gesinnter Kreise
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In der Wiener Wahlgemeinschaft "LINKS" kursiert derzeit ein Papier, das sich
"Code of Conduct" nennt. Den dürfte zwar bislang kein relevantes Gremium
beschlossen haben, soll aber offensichtlich einfach so einmal gelten. Die
Redaktion hat dieses dreiseitige Papier weitergeleitet bekommen zusammen mit
einem empörten Offenen Brief, den wir hier wiedergeben. Zum besseren
Verständnis dessen veröffentlichen wir aber zuerst relevante Auszüge aus
diesem "Code":
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"Das Programm und die Statuten von LINKS machen klar: Wir wollen eine
Gesellschaft ohne Ausschlüsse, wo sich alle Menschen gleichermaßen an
demokratischen Prozessen beteiligen können. Die derzeitige Gesellschaft ist
allerdings geprägt von strukturellen Diskriminierungen, Gewalt und
Übergriffen. [...]

LINKS steht als politische Organisation selbstverständlich nicht außerhalb
dieser gesellschaftlichen Machtstrukturen. Ungleichheit in System und
Gesellschaftstrukturen, sowie Unconscious Bias (unterbewusste
Vorverurteilung) existieren auch innerhalb von LINKS. [...] Deshalb stellen
wir diesen Code of Conduct bereit - einen Leitfaden zum respektvollen und
diskriminierungsfreien Umgang miteinander. Wir wollen damit dazu beitragen,
dass wir alle sensibler für die aufgezählten Typen von Unterdrückung und
Diskriminierung werden können.

In diesem Zusammenhang wird auch eine Anlaufstelle eingerichtet, an die
Beschwerden über Fehlverhalten und Übergriffe gerichtet werden können. [...]

Beispiele für good practices: [...]

Ausreichende und einladende Information von Neulingen (u. a. zu viel
"Szenesprech" vermeiden) [...]

Dem Vorwurf Platz geben: Wenn marginalisierte Personen auf Diskriminierung
bzw. Übergriffe aufmerksam machen, zuhören und sich auf deren Seite stellen.

Akzeptieren, dass bestimmte Diskriminierungen existieren. Die Erfahrung
einer Person, diskriminiert zu werden, muss immer ernstgenommen werden, darf
nie abgesprochen werden, muss gehört werden
und es muss ein Raum gegeben werden, diese Erfahrung kommunizieren zu
können.

Behinderte Menschen können am besten verstehen, was ableistisch ist,
Schwarze Menschen und PoC, was rassistisch ist, trans Menschen, was
transfeindlich ist, jüdische Menschen, was antisemitisch ist, ... [...]

Beispiele für bad practices (Verhalten, das wir vermeiden / verhindern
wollen):

Sexistische//rassistische//ableistische//transfeindliche//klassistische//
transmisogyne//homophobe/queerfeindliche//altersdiskriminierende//...//
Aussagen und Übergriffe [...]

Tone Policing: Marginalisierte Personen zurechtweisen / von ihnen
Höflichkeit einfordern und das damit begründen, dass sie "zu emotional"
reagieren, laut werden, wenn sie über Diskriminierung oder einem Übergriff
reden (z.B. Frauen als "hysterisch" bezeichnen). Ein weiteres Beispiel für
Tone Policing ist, Argumente mit dem Argument der Emotionalität inhaltlich
vom Tisch wischen, statt auf den Inhalt einzugehen.

Wir wollen bei LINKS einen möglichst inklusiven Raum schaffen! Grundsätzlich
soll LINKS die Sicherheit marginalisierter Personen über den Komfort von
privilegierten Personen stellen. Zum Abschluss: Umgekehrte "Ismen"
existieren nicht, schon gar nicht auf struktureller Ebene. Umgekehrten
Rassismus gegen Weiße gibt es nicht. Umgekehrten Sexismus ebenso, ..." ###

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Liebe Links-Aktivist*innen!

Ich habe ein paar Fragen zum versendeten "Code of Conduct"! Aber vor diesem
Anstreifen bei Euch muss ich noch den Konsens einholen: Darf ich Euch bitte
eine reinhauen? Wegen der geistigen Notwehr wäre es gewesen. Verstehe ich
doch Euer Papier als untergriffigen, gewalttätigen Anschlag auf meine
Intelligenz.

Wie kommt ihr zu der Aussage: "Umgekehrten Rassismus gegen Weiße gibt es
nicht. Umgekehrten Sexismus ebenso"?

Gibt es dafür irgendwelche wissenschaftlichen Belege bzw. wer behauptet so
etwas? Das scheint schon wieder so ein verkürzter Schnellschuss von Euch zu
sein. Leider gibt es rassistische Jüd*innen. Leider gibt es rassistische
Schwarze Personen und People of Color. Es gibt behindertenfeindliche Schwule
ebenso wie heterophobe Lesben. NIEMAND ist vor Rassismus, Sexismus und
anderem diskriminierenden Denken gefeit. Schon alleine Eure Aufzählung von
marginalisierten Personen solltet Ihr hinterfragen: "Migrant*innen, People
of Color, Schwarze Personen, Frauen, Schwule, Lesben, Bisexuelle, Asexuelle,
trans, inter und nicht-binäre Personen, queere Personen, behinderte
Menschen, Sexarbeiter*innen, arme Menschen, wohnungslose Menschen, Menschen
in Ausbeutungsverhältnissen, Menschen bestimmter Glaubensrichtungen,
Muslim*innen und Jüd*innen." Sind die wirklich alle immer und überall
marginalisiert? Oder widerspiegelt das vielleicht auch Eure
eurozentristische Sichtweise? Eventuell solltet Ihr noch einmal an Eurer
Definition arbeiten - die, die Ihr momentan verwenden dürftet, wird einer
ernsthaften Debatte nicht standhalten.

Weiters schreibt Ihr: "Wenn marginalisierte Personen auf Diskriminierung
bzw. Übergriffe aufmerksam machen, zuhören und sich auf deren Seite
stellen." In blindem Gehorsam? Bedingungslos? Ihr habt ja eine schöne Macke!
Schon mal was von Unschuldsvermutung gehört? In welchem Rechtssystem lebt
Ihr eigentlich und habt Ihr Euch das gut überlegt? Der Rechtsstaat fühlt
sich von Euch diskriminiert.

Und: Wer hat Links bzw. "Nini" dazu beauftragt dieses Papier zu entwickeln?
Wie kommt es zu solchen Beschlüssen? Inwieweit steht dieses Papier bzw. eure
Herangehensweise in einem historisch-materialistischen bzw. linken Kontext?

Wie kommt ihr überhaupt auf die Idee, dass ein "Code of Conduct" (ein
Konstrukt, dass schon im Namen nicht der englischen Sprache mächtige
Menschen ausschließt, die eventuell schon vorher dazu gezwungen wurden, in
dieser Gesellschaft Deutsch zu lernen und so doppelt exkludiert werden) zu
einem respektvolleren und diskriminierungsfreien Umgang miteinander führen
könnte?

Die Idee eines solchen Verhaltenskodex kommt aus der Industrie und ist oft
genug einfach ein Maulkorb, den die Geschäftsführung den Beschäftigten
umhängt, damit diese auch privat nichts äußern, was den Interessen der Firma
zuwiderläuft -- mittels Kündigungsdrohung bei Fehlverhalten. Mittlerweile
gibt es so etwas auch bei Medienunternehmen wie beispielsweise dem ORF als
"Social-Media-Guidelines". Zuletzt konnten wir von einem solchen Kodex resp.
Guidelines bei der NGO epicenter.works hören, wo ein Konflikt darüber
tatsächlich zur Auflösung eines Beschäftigtenverhältnisses führte.

Ja, politische Parteien haben schon länger solche Bestimmungen (Stichwort:
"parteischädigendes Verhalten"). Aber hier geht es um interne Diskussionen,
wo in einem "Safe Space" ernsthafte Auseinandersetzungen vermieden werden
sollen. Dazu braucht es natürlich auch so ein Vernaderungsinstitut wie diese
"Anlaufstelle", damit man nur ja nicht direkt miteinander darüber redet, was
einem nicht paßt. Das kann es wohl nicht sein! Oder seid ihr zulange auf
einem US-Unicampus herumgelungert?

Wenn ich gesellschaftliche Probleme verpöne, per Dekret verbiete oder
ausschließe, existieren sie nicht mehr? Das spielen vielleicht kleine
Kinder, wenn sie sich die Augen zuhalten, aber Erwachsene? Sind die
Widerspiegelungen der real existierenden Machtstrukturen, die diese Leute
vielleicht zu deren Verhalten bringen, nicht immer wieder einem diskursiven
Prozess zu unterziehen, um durch eine permanente Bewusstmachung dieser
Strukturen überhaupt erst die Entwicklung von Gegenstrategien zu
ermöglichen? Muss ich nicht die Widersprüche herausarbeiten und begründen,
bzw. die eigenen Ideale und Werte dem entgegenstellen, damit erst durch
diesen Diskurs neue Denkweisen überhaupt möglich werden? Wird der Widerstand
gegen die herrschenden Verhältnisse nicht erst dadurch materialisiert? Aber
nicht die Leute, die irrtümlicher Weise unreflektiert diese Machtstrukturen
wiederkäuen, solltet Ihr angreifen, sondern die Nutznießer*innen dieses
Systems. Lebt Eure Einstellungen vor, beweist den Leuten, dass Eure Utopien
lebenswerter sind als die des Kapitalismus, zeigt Widersprüche auf, aber
macht nicht die Geknechteten zu Täter*innen, die Ihr verurteilt.

Ein warnendes Beispiel sollte Euch die Sozialdemokratie sein: Einstens hat
die Voraussetzung eines formalisierten und ahistorischen
(staats-)antifaschistischen Grundkonsenses in der SPÖ dazu geführt, dass die
nötigen Debatten zur Bewusstseinsschaffung, zur Reflexion der realen
Situation und der eigenen Position dazu nicht geführt wurden. Die Weitergabe
der Erkenntnisse aus der Vergangenheit bzw. Geschichte an neue
Parteimitglieder wurde nicht mehr praktiziert. Das half dann aber schon sehr
dabei mit, dass die Sozialdemokratie verbürgerlichte und dass eines Tages
mehr rechte Kräfte in der Partei waren als linke.

Vielleicht stellt ja Euer ganzes Papier schon einen "Unconscious Bias" eines
selbstkritischen Diskurses dar. Und mit leichter Sprache lassen sich manch
komplexe gesellschaftliche Verhältnisse halt nicht erklären. Umgekehrt wird
aber auch ein Schuh daraus: Ihr wollt "Szenesprech" vermeiden und dann laßt
ihr so ein Papier raus? Ihr wollt nicht "klassistisch" sein und "Neulingen
einladend" begegnen? Hm, ich stelle mir gerade vor, ein Mundl Sackbauer
schaut mal vorbei, ist an Euch interessiert und bekommt als erstes Eure
Benimmregeln in die Hand gedrückt, na servas...

Aber IHR dürft Euch jetzt leider nicht lautstark über mich beschweren, weil
das wäre Tone Policing - ich fühle mich nämlich total diskriminiert von
Euch. Punkt. Dank Eurer Rechtsauffassung muss ich das auch nicht begründen
und wir gehen alle in den Arsch oder endlich aufeinander los. Eine sinnvolle
Auseinandersetzung miteinander werden wir so allerdings nie hinbekommen. Der
Feind lacht sich ins Fäustchen, weil so braucht er sich um uns nicht mehr zu
kümmern.

Also wenn Ihr den ersten Satz in dem Papier ernst meint ("Wir wollen eine
Gesellschaft ohne Ausschlüsse..."), dann solltet Ihr die dort nachfolgenden
Sätze noch einmal überdenken.

Utopische Grüße

*Alter Nebel (die auch Andromeda genannte Galaxie links neben Euch)*


(AutorIn der Redaktion namentlich bekannt)



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