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  akin-Pressedienst.
  Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 15. April 2021; 04:58
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  In eigener Sache:
  
  > Die Krankheit ist politisch
  
  Bekenntnisse eines Depressiven und warum die akin nicht erschienen ist. Von
  *Bernhard Redl*.
  
  
  "Das Sein bestimmt das Bewußtsein." Ist so nicht von Karl Marx. Aber es gibt
  zumindest Stellen bei Marx, die man in diese kurze Form bringen könnte. Es
  ist so wie mit vielen Zitaten: Oft genug sind sie komplett falsch, wenn man
  (wie in diesem Fall) Glück hat, sind sie zumindest ungefähr richtig. Marx
  sprach nämlich vom "gesellschaftlichen Sein". Trotzdem gefällt mir die
  falsch zitierte Kurzform besser. Ja, natürlich, so groß ist der Unterschied
  gar nicht -- fast alles in der Identität eines Menschen hat auch eine
  gesellschaftliche Komponente. Und doch ist unser Sein eben mehr als nur das
  Gesellschaftliche und eben ausnahmslos alles an diesem Sein bestimmt unser
  Bewußtsein mit. Ja, ich gestehe, ich hab in meinem Leben mehr Freud als Marx
  gelesen -- einfach weil der besser schreiben konnte.
  
  Okay, Schluß mit dem Namedropping -- das war ja nur, damit dieser Text ein
  bisserl was Hochgeistig-Allgemeingültiges hat. Weil: Man kann ja keinen
  Essay über seine persönlichen Probleme schreiben! Genau darum geht es mir
  aber. Sicher, ich kann jetzt als Ausrede auch gegenüber mir selbst
  verwenden, daß ich meinen Fall nur pars pro toto nehme. Das stimmt
  vielleicht sogar, aber trotzdem geht es um mich -- und wie dieses Individuum
  die Welt sieht. Dieser Text ist auch eine Art Erklärung, warum ich die ganze
  Corona-Sache anders sehe als der Großteil meiner Genossen und wohl auch des
  p.t. akin-Publikums.
  
  Zurück zum Sein! Keine Panik, jetzt kommt nicht der Heidegger! Viel
  schlimmer: Mein eigenes Ego! Ich bin Depressionspatient. So richtig von
  klein auf und unheilbar. Und wütend werdend, wenn der Bundes-Sascha meint,
  die jetzige Krise sei kein Grund, "depressiv zu werden". Das ist
  ofensichtlich einer von denen, die in der glücklichen Lage sind, keine
  Ahnung von Depressionen zu haben. Immerhin kann man für solche Sager dankbar
  sein, denn da wird man als Betroffener grantig und das holt einen zumindest
  kurzfristig aus dem Loch. Meine Depressionen sind auch der Grund, warum die
  akin jetzt nur recht sporadisch erschienen ist -- wenn ihr das lesen könnt,
  heißt das, daß ich die Krankheit oder besser: Behinderung gerade mal wieder
  einigermassen unter Kontrolle gehabt habe.
  
  Das mit dem Sein, das das Bewußtsein bestimmt, korreliert natürlich auch mit
  dem Spruch aus der Frauenbewegung, wonach das Private politisch sei -- auch
  hier ist der Zusammenhang zwar ein anderer, aber trotzdem paßt der Spruch
  hier sehr genau auf das, worum es mir geht. Man kann es auch im Zusammenhang
  mit den Identity Politics sehen. Im Gegensatz aber zu dieser leicht
  vertrottelten postmodernen Bobo-Attitüde, die daher kommt als "Ich bin
  betroffen, also hab ich recht und bin schützenswert und in Watte zu packen",
  geht es mir darum, sich bewußt zu werden, daß man eben von einer bestimmten
  Warte aus denkt und dieses subjektive Denken eben weder sakrosankt noch
  grundfalsch ist. Ein individueller Ansatz darf nicht entwertet werden wegen
  seiner Subjektivität aber genausowenig absolut gesetzt werden.
  
  Es geht darum, sich seiner Subjektivität bewußt zu werden -- das ist so wie
  beispielsweise diese unseligen Bildungsdebatten, wo irgendwelche Experten
  darüber reden, was in den Schulen falsch läuft, aber nicht einer zugeben
  will, daß sein Standpunkt vor allem geprägt ist von seinen eigenen
  Kindheitserfahrungen. Diese Experten verstecken sich gerne hinter angeblich
  total objektiven Studien und haben panische Angst, irgendwer könnte sie
  wegen ihrer eigenen Subjektivität als unwissenschaftlich agierend
  brandmarken.
  
  Ecce Homo Sapiens
  
  Wir sind alle Menschen und keine Maschinen. Wir denken und handeln nicht
  "vernünftig". Als ich 1992 in Sarajevo war -- auf einer eigentlich sinnlosen
  Aktion namens "Friedensmarsch", die auch nur stattfand, weil man halt nicht
  völlig tatenlos beim Krieg vor der eigenen Haustür zusehen wollte --, konnte
  ich vor allem beobachten, wie unterschiedlich Menschen auf eine Gefahr
  reagieren. Die ausländischen Journalisten neigten zur Selbstheroisierung,
  die Bewohner der belagerten Stadt zu Fatalismus oder hedonistischer
  Trotzigkeit und unser kleiner Trupp Kriegstouristen zu tiefschwarzem Humor.
  Vernünftig im engeren Sinne war nichts davon, aber es war vernünftig als
  Überlebensstrategie. Man lernte auch sehr schnell mit der Situation
  umzugehen: Stand an einer Straßenkreuzung "Pazi Snaiper!" und warnte einem
  damit davor, daß man beim Überqueren der Straße in das Zielfernrohr eines
  Scharfschützen geraten könnte, ging man halt ein bisserl flotter -- weil man
  wußte, daß einem der Schütze dann nicht wirklich gut anvisieren konnte. Es
  war nicht anders, wie wenn man eine stark befahrene Straße überquerte -- daß
  da einer einem nach dem Leben trachten könnte, blendete man schnell aus.
  Genauso ist es aber auch in Friedenszeiten eben mit Autofahrern -- sehr
  schnell verdrängt man, daß man in einer Maschine sitzt, die andere, aber
  auch einen selbst töten kann. Sonst wäre Autoverkehr undenkbar.
  
  Wurde jemals eine Autobahn gesperrt oder der motorisierte Individualverkehr
  generell eingeschränkt, weil es zuviele Unfallopfer gab? Nein, das tat man
  nur in den 70ern, weil man mit einer Ölknappheit rechnete. Von den Toten,
  die Krieg, Imperialismus und Kapitalismus fordern, brauchen wir da gar nicht
  mal zu reden. Dieses "Sapiens" hinter "Homo" ist so gesehen einfach nur ein
  Witz. Andersrum: Der Mensch ist mehr als seine "Vernunft", er ist weitaus
  komplexer, vielleicht aber auch sogar vernünftiger als eine binäre Logik es
  jemals sein könnte, denn sonst wäre er nicht zur dominierenden Spezies
  dieses Planeten aufgestiegen.
  
  Corona-Vernunft
  
  Jetzt fragt ihr euch sicher: "So what? Worauf will er hinaus?" Nun,
  eigentlich ist es ganz einfach: Wir reagieren alle sowohl auf die Bedrohung
  durch dieses Virus als auch auf die Bedrohung durch die Maßnahmen. Wir
  wollen alle wieder zurück zur Normalität. Eine Möglichkeit ist dabei die
  sogenannte "Corona-Müdigkeit", eine zutiefst menschliche Reaktion, mit einer
  Bedrohung so umzugehen, daß man sie ignoriert und ausblendet und verdrängt,
  weil man nicht ständig in Angst leben kann -- und das betrifft sowohl die
  Angst vor dem Virus als auch die Angst vor staatlicher resp.
  gesellschaftlicher Repression. Die Alternative zur Ignoranz ist
  Aggression -- auch die können wir tagtäglich auf den Straßen beobachten
  genauso wie im Internet.
  
  Ja, ich gebe zu, daß mir die Durchhalte-Opern derjenigen, die sich selbst
  als Vernünftige verstehen, mehr fertigmachen als ein paar Depperte, die
  glauben, eine Funktechnologie würde ein Virus verbreiten. Das ist einfach
  so, weil ich mit meiner Behinderung Depression gelernt habe umzugehen und
  den Winter immer dadurch einigermassen überstehe, weil ich da möglichst
  viele menschliche Kontakte pflege. Das konnte ich diesmal nicht und deswegen
  geht es mir Scheiße. Und das Andere, was mich so ungefähr aufrecht hält,
  ist, einmal im Sommer das Meer sehen zu können. So wie es aussieht, versauen
  mir die Maßnahmen wohl auch diese Linderung meines Leidens. Dementsprechend
  sehen meine Texte aus -- genauso wie eben die Statements derjenigen ganz
  anders aussehen, die mit dieser Kasteiungslogik eher leben können, weil ihre
  persönlichen Lebensumstände und Befindlichkeiten eben anders sind.
  
  Weil eben das Sein doch das Bewußtsein bestimmt. Und das Private politisch
  ist.
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