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  akin-Pressedienst.
  Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 11. März 2021; 00:54
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  Afrika/Geschichte:
  
  > Der Kampf um die Unabhängigkeit des Kongos
  
  Zum 60.Jahrestag der Ermordung von Patrice Lumumba und dessen Bedeutung für
  den gesamten Kontinent
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  In der Nacht zum 17. Jänner 1961 wurde Patrice Lumumba ermordet. Nur ein
  knappes Jahr zuvor war er - nach fast 80 Jahren brutaler
  Kolonialherrschaft - zum ersten Premierminister des Kongo (Demokratische
  Republik, zwischenzeitlich Zaire) gewählt worden. Bis heute gilt er als
  einer der wichtigsten Freiheitshelden der Dekolonisierungs-Ära der 1960er
  Jahre. Sein tragischer Tod markiert eine Zäsur in der jüngeren afrikanischen
  Geschichte. 
Von *Alexander Behr*, Europäisches BürgerInnenforum Österreich,
  zuerst veröffentlicht in Archipel 299 und 300.
*
  
  Lumumba wurde unter aktiver Mitwirkung der ehemaligen Kolonialmacht Belgien
  und verschiedener westlicher Geheimdienste gefoltert und hingerichtet. Um
  jegliche Erinnerung an ihn zu unterdrücken, vernichteten belgische
  Polizisten seine Leiche. Der Mord an Lumumba bleibt bis heute ungesühnt.
  Keiner der Drahtzieher, keiner der Geheimdienste, keiner der beteiligten
  Staaten, keiner der Mörder kam je vor Gericht.
  
  Nach dem kurzen Aufbruch in Unabhängigkeit, Frieden und Prosperität folgten
  Jahre des Krieges und viele Jahrzehnte der Diktatur, toleriert und
  unterstützt vom Westen. Für Befreiungsbewegungen rund um den Globus wurde
  Lumumba in besonderem Masse beispielgebend: Seine Ermordung gilt bis heute
  als Symbol für koloniale und neokoloniale Unterdrückung, sein Erbe als
  Versprechen auf zukünftige Emanzipationsbestrebungen.
  
  
  Die Zeit vor der Unabhängigkeit
  
  Das Jahr 1885 markierte einen brutalen Einschnitt in die Geschichte des
  Kongo: Damals fand die Berliner Afrika-Konferenz statt, bei der sich die
  damaligen Kolonialmächte grosse Teile des Kontinents praktisch untereinander
  aufteilten. König Leopold II von Belgien gelang es, sich den Kongo als
  Privatbesitz anzueignen und mit der Ausbeutung von Kautschuk astronomische
  Profite zu erzielen. Laut Adam Hochschild, dem Verfasser des Buches
  "Schatten über dem Kongo", fielen dem Terror von König Leopold zwischen acht
  und zehn Millionen Menschen zum Opfer. Im Jahr 1905 wurde der Kongo zur
  offiziellen belgischen Kolonie. Dem vorangegangen war eine Skandalisierung
  der Verbrechen von König Leopold II, die oft als die erste internationale
  Menschenrechtskampagne bezeichnet wird. Doch auch unter offizieller
  belgischer Kolonialherrschaft ging die Ausbeutung der Ressourcen des Landes
  unvermindert weiter.
  
  Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Unabhängigkeitsbewegungen überall auf dem
  Kontinent immer mehr Zulauf gewinnen, sticht im Kongo vor allem ein Mann
  hervor: Patrice Emery Lumumba, Mitgründer des "Mouvement National
  Congolais", der Nationalbewegung des Kongo. Geboren am 2. Juli 1925 in der
  Provinz Kasai, ist er zunächst Postbeamter und Gewerkschafter. Schnell macht
  er sich als talentierter und charismatischer Redner einen Namen. Er spricht
  sich für einen geeinten Kongo jenseits von ethnischen Barrieren aus und ist
  ein vehementer Gegner der Kolonialherrschaft. Im Dezember 1958 reist er in
  die ghanaische Hauptstadt Accra zur "All-African Peoples' Conference", einer
  grossen Panafrikanischen Konferenz, an der auch Frantz Fanon teilnimmt. Im
  Gegensatz zu anderen Parteiführern strebt Lumumba nicht nur die formelle
  Unabhängigkeit an, sondern will das Land auch in die wirtschaftliche
  Unabhängigkeit führen.
  
  Im Jänner 1959 kommt es in der Hauptstadt Leopoldville, dem heutigen
  Kinshasa, zu Massendemonstrationen gegen die Kolonialherrschaft, die blutig
  niedergeschlagen werden. Die Unruhen breiten sich in die ländlichen Gebiete
  aus und erfassen das ganze Land. Im April ruft Lumumba die politischen
  Parteien des Kongo zu einem Kongress in Luluabourg, dem heutigen Kananga,
  zusammen. Mittlerweile ist auch den Belgier·inne·n klar: Die Unabhängigkeit
  des Kongo lässt sich nicht länger hinauszögern. So beginnen am 20. Januar
  1960 in Brüssel die Unabhängigkeitsverhandlungen - zunächst ohne Lumumba;
  der sitzt wegen so genannter "antikolonialer Umtriebe" im Gefängnis. Doch
  die kongolesischen Delegierten solidarisieren sich mit ihm und fordern seine
  Befreiung. Die Kolonialregierung lenkt ein, er kommt nach Brüssel - mit noch
  verletzten Handgelenken. So kann er am berühmten "table ronde", den
  Verhandlungen am "Runden Tisch", teilnehmen. Die kongolesischen Delegierten
  agieren geschlossen, Belgien gibt dem Druck nach: Am 30. Juni 1960 soll der
  Kongo unabhängig werden. Nach Beendigung der Verhandlungen finden am 25. Mai
  1960 im Kongo Parlamentswahlen statt, von denen Lumumbas Partei MNC als
  Sieger hervorgeht. Kurz vor den Unabhängigkeitsfeiern sagt Lumumba zu einem
  Freund: "Endlich werde ich mich ausruhen." Er sollte sich auf tragische
  Weise irren...
  
  
  Der Tag der Unabhängigkeit und die Rede Lumumbas
  
  1. Juni 1960, Palais de la Nation, Léopoldville. Die Kongolesinnen und
  Kongolesen feiern die Unabhängigkeit, müssen aber die arrogante und
  herablassende Rede des belgischen Königs Baudouin, Onkel des heutigen Königs
  Philippe, hören, in der er die angeblichen Wohltaten von König Leopold II
  rühmt. Kein Wort zu den unvorstellbaren Gräueltaten an der kongolesischen
  Bevölkerung, kein Wort zu den Millionen Opfern von Ausbeutung und
  Unterdrückung. Ein Schlag ins Gesicht der Kongoles·inn·en. Während der König
  spricht, notiert Patrice Lumumba in Windeseile eine Rede. Ohne dass es im
  Protokoll vorgesehen wäre, ergreift er das Wort. Was dann folgt, ist eine
  spektakuläre Abrechnung mit Belgien und ein flammendes Bekenntnis zur
  Überwindung der Kolonialherrschaft. König Boudoin ist erzürnt. Obwohl
  Lumumba beim Empfang, der auf die offizielle Zeremonie folgt, eine zweite,
  viel versöhnlichere Rede hält, bahnt sich bereits zu diesem Zeitpunkt an,
  dass die ehemalige Kolonialmacht brutal zurückschlagen wird. Denn allen ist
  klar: Lumumba schickt sich ernsthaft an, der Ausbeutung des Kongo ein Ende
  zu bereiten. Ein Schreckensszenario für Belgien, für die mächtige
  Bergbauunion "Union Minière" und die Konzessionäre... Der kongolesische
  Autor und Aktivist Emmanuel Mbolela erklärt: "Die Kolonialmächte wussten,
  dass es für sie nicht mehr möglich sein würde, sich ohne Wenn und Aber den
  Ressourcen des Landes zu bedienen, wenn Lumumba an der Spitze des Staates
  stünde. Sie wussten, dass Lumumba alle bisherigen Wirtschaftsbeziehungen neu
  verhandeln würde. Das war inakzeptabel, denn das hätte die Entwicklung
  Europas viel zu sehr gebremst."
  
  Nur zwei Tage nach den Unabhängigkeitsfeiern erheben sich die Soldaten in
  Leopoldville gegen das belgische Offizierskorps. Neben Lohnerhöhungen
  fordern sie, dass die Spitze des Militärs, das ausschliesslich aus Belgiern
  besteht, ebenfalls entkolonialisiert wird. Es kommt zu Morden an weissen
  Siedler·inne·n und zu einem Exodus der Belgier·innen. Die Lage spitzt sich
  immer mehr zu. Gegen den Widerstand der kongolesischen Regierung landen
  belgische Truppen im Kongo. Am frühen Morgen des 10. Juli 1960 steigen vom
  Luftstützpunkt Kamina Maschinen der belgischen Luftwaffe auf, über
  Luluabourg werden Fallschirmspringer abgesetzt. Belgische Soldaten
  entwaffnen unter Zwang kongolesische Militärangehörige.
  
  Doch es kommt noch schlimmer: Moishe Tschombé, Präsident der Provinz
  Katanga, erklärt an diesem Tag die Abspaltung des riesigen und
  rohstoffreichen Landesteils. In seinen separatistischen Bestrebungen wird er
  augenblicklich von Belgien unterstützt. Die belgische Presse giesst Öl ins
  Feuer und diskreditiert Lumumba. Er sei ein Kommunist und trage Schuld an
  den Aufständen in der Bevölkerung und in der Armee. In kolonialer und
  rassistischer Manier schreibt die Presse: "der Urwaldpolitiker",
  "Poltergeist Lumumba", "halb Scharlatan, halb Missionar" - ein Schock nach
  dem Erfolg der Verhandlungen in Brüssel vom Frühjahr.
  
  
  Die letzten Monate
  
  Nur wenige Tage nach den Unabhängigkeitsfeiern vom 30. Juni 1960 landen
  gegen den Widerstand der kongolesischen Regierung belgische Truppen im
  Kongo. Kongolesische Militärangehörige werden entwaffnet, Belgien
  unterstützt die Abspaltung des rohstoffreichen Landesteils Katanga. Lumumba
  versucht zu retten, was zu retten ist: Als er von der Abspaltung Katangas
  erfährt, fliegt er mit Präsident Kasavubu dorthin - doch der belgische
  Kommandant Weber, der später in die Ermordung Lumumbas involviert sein wird,
  erteilt ihnen keine Landeerlaubnis für den Flughafen der Provinzhauptstadt
  Elisabethville. Somit erreicht der Konflikt eine weitere Eskalationsstufe:
  Den höchsten Politikern des Landes wird durch einen Belgier der Zugang zur
  zweitgrössten Stadt ihres Landes verwehrt! Gleichzeitig entwickelt sich
  grosses Einvernehmen zwischen den katangesischen Führern, den belgischen
  Militärs und der Leitung der Union Minière, welche die mineralischen
  Rohstoffe der Region kontrolliert. Belgische und amerikanische Geheimdienste
  beginnen mit dem Armeechef und späteren Langzeitdiktator Mobutu
  zusammenzuarbeiten. Die Teile-Und-Herrsche-Strategie wirkt: Der
  Handlungsspielraum von Lumumba wird immer enger.
  
  Am 12. Juli, einen Tag nach der Sezession Katangas, rufen Lumumba und
  Kasavubu die Vereinten Nationen um Hilfe an. UN-Generalsekretär Dag
  Hammarskjöld, der wie Lumumba in der Kongo-Krise ums Leben kommen wird (1),
  beruft noch am selben Abend in New York eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats
  ein. Doch die verabschiedete Resolution ist zahnlos: Belgien wird nirgendwo
  im Text verurteilt, die Sezession Katangas mit keinem Wort erwähnt. So kommt
  es, dass Lumumba jenes Land um Unterstützung bittet, das im Sicherheitsrat
  der UNO das grösste Verständnis für sein Anliegen zeigt: die Sowjetunion. In
  der aufgeheizten Stimmung des Kalten Krieges schrillen bei den westlichen
  Geheimdiensten die Alarmglocken.
  
  Nach einem Schlagabtausch mit Präsident Kasavubu wird Lumumba im September
  zu Hausarrest in Léopoldville verurteilt. UNO-Soldaten bewachen sein
  Anwesen, da zu diesem Zeitpunkt bereits sein Leben in Gefahr ist. Am 27.
  November, nach zweieinhalb Monaten Arrest, beschliesst Lumumba zu fliehen
  und heimlich Kinshasa zu verlassen, um zu seinem Verbündeten Antoine Gizenga
  im Norden des Landes zu stossen. Doch Armeechef Mobutu lässt ihn von
  Soldaten verfolgen und mit zwei seiner Mitstreiter verhaften. Er wird in
  eine Kaserne bei Thysville im Westen des Landes gebracht. Als er ankommt,
  ohne Brille und gefesselt, stopft ihm jemand ein zusammengeknülltes Stück
  Papier in den Mund: den Text seiner berühmten Rede. Lumumba wird auf
  Betreiben des belgischen Ministers d'Aspremont nach Katanga gebracht,
  mehrere Stunden verhört und gefoltert. Im Beisein von vier belgischen
  Polizisten, zwei Ministern Katangas und Moishe Tschombé, dem Präsidenten der
  abtrünnigen Provinz, werden Lumumba und seine Mitstreiter erschossen.
  
  Um alle Spuren zu beseitigen, gräbt ein belgischer Polizeibeamter die Leiche
  kurze Zeit später wieder aus, zerstückelt sie mit einer Säge und löst sie in
  Säure auf. Der kongolesische Autor Emmanuel Mbolela zu diesen Ereignissen:
  "Stellen Sie sich einmal vor, man hätte General de Gaulle auf Betreiben
  eines afrikanischen Landes auf diese Weise ermordet... Unvorstellbar!
  Stellen Sie sich vor, ein schwarzer Polizist würde sich in Fernsehinterviews
  damit brüsten, den leblosen Körper eines europäischen Staatsführers
  zerstückelt und in Säure aufgelöst zu haben - unvorstellbar..." So
  unbeschreiblich diese Taten sind, so klar ist auch: Der Mord an Lumumba
  wurde nicht nur vom US-amerikanischen Präsidenten Eisenhower, vom CIA, von
  belgischen Militärs und Beratern bis hin zum belgischen König, gebilligt,
  gefördert und organisiert. Die Tat wurde auch von Belgiern mit durchgeführt.
  
  
  Weltweite Proteste
  
  Lumumbas Tod löst wütende Proteste rund um den Globus aus. In Belgien kommt
  es zu hunderten Festnahmen. In Belgrad, Warschau und Kairo werden die
  belgischen Botschaften gestürmt. Währenddessen gleitet der Kongo in einen
  brutalen Bürgerkrieg ab. Mobutu festigt mit der Hilfe von Belgien und den
  USA schrittweise seine Macht. Moishe Tschombé rekrutiert ab dem Jahr 1964
  unverhohlen weisse Milizen. Diese streben von Südafrika und Rhodesien aus
  eine Ausweitung der Apartheid und der weissen Vorherrschaft an. Das wohl
  berüchtigtste Beispiel eines weissen rassistischen Söldners ist Siegfried
  Müller, ein ehemaliger Soldat der Wehrmacht, der im Kongo furchtbare
  Massaker begeht. In den DEFA-Filmen "Kommando 52" und "Der lachende Mann"
  aus den Jahren 1965 und 1966 werden Müllers Verbrechen kritisch
  portraitiert. Mit unvorstellbarer Brutalität bekämpfen die Söldner die
  Anhänger Lumumbas, die so genannten Mulelisten. Pierre Mulele, nach dem die
  Bewegung benannt ist, setzt entschlossen das Erbe von Lumumba fort, doch
  wenige Jahre später fällt er wie viele andere dem Terror Mobutus zum Opfer.
  Eine Zeit lang kämpft auch Ché Guevara an der Seite der Aufständischen. Im
  Jahr 1965 sichert sich Mobutu die alleinige Macht. Jeglicher Widerstand wird
  gebrochen.
  
  Ein Aspekt, der oft vergessen wird, ist die Rolle der Frauen, die im
  antikolonialen Widerstand kämpften. Jamila Amadou, Vertreterin der
  Afro-Deutschen Community aus Frankfurt, sagt: "Häufig wird über Patrice
  Lumumba, Thomas Sankara und andere Ikonen gesprochen - Menschen, die sich
  nicht aussuchten, dass sie zu Märtyrern werden. Doch man darf nicht
  vergessen, dass diese politischen Anführer meist von weiten Netzwerken
  umgeben waren, die von genauso engagierten Menschen getragen wurden. Diese
  Graswurzelbewegungen wurden und werden häufig von Frauen organisiert und
  vorangetrieben. Frauen waren vielleicht nicht in gleichem Mass auf
  politischen Bühnen und an Mikrophonen präsent, aber sie spielten im Aufbau
  des Kampfes und im Alltag eine entscheidende Rolle. Ich finde es ungemein
  wichtig, dass im Jahr 2021 diese Arbeit endlich gewertschätzt, sichtbar und
  hörbar wird."
  
  Eine Frau, die für die Unabhängigkeit des Kongo sehr wohl auf zahlreichen
  Bühnen und vor Mikrophonen stand, war Andrée Blouin. Von westlichen Medien
  wurde sie häufig als die "Frau hinter Lumumba" charakterisiert - eine
  Bezeichnung, die ihr nicht gerecht wird. Andrée Blouin betonte stets, dass
  Dekolonisierung eng mit der Freiheit und Unabhängigkeit von Frauen
  zusammenhängt. Nachdem sie nach der Ermordung von Lumumba zum Tode
  verurteilt worden war, floh sie nach Paris, wo sie im Jahr 1986 starb.
  
  
  Das Erbe Lumumbas
  
  Nicht selten wird die Politik Patrice Lumumbas als "naiv" bezeichnet. Es sei
  unrealistisch und utopisch gewesen, die wirtschaftliche Unabhängigkeit
  durchsetzen zu wollen. Lumumba habe sich unbotmässig verhalten und
  US-Präsident Eisenhower vor den Kopf gestossen. Diese These vertritt auch
  David Van Reybrouck in seinem bahnbrechenden Buch "Kongo. Eine Geschichte".
  Doch wie kann ein wacher Gerechtigkeitssinn als "utopisch" bezeichnet
  werden? Ist es nicht die Aufgabe eines Premierministers, nach Massstäben von
  Demokratie und Gerechtigkeit zu handeln? Oft wird auch ins Feld geführt,
  Lumumba habe ein sowjetisches Wirtschaftsprogramm verfolgt. Das entspricht
  nicht den Tatsachen, wie auch der renommierte US-amerikanische
  Politikwissenschaftler Stephen Weissman festhielt - Lumumbas
  Wirtschaftsprogramm war nach heutigen Massstäben eher keynesianisch und
  sozialdemokratisch inspiriert. Und wenn schon: Keine ausländische Macht
  hatte nach der Unabhängigkeit das Recht, eigenmächtig militärisch
  einzugreifen. Lumumba wollte die Schlüsselindustrien verstaatlichen; doch
  war das nicht auch in vielen westeuropäischen Ländern gang und gäbe? Sein
  zentrales Anliegen war es, der unbegrenzten Ausbeutung der Ressourcen des
  Landes ein Ende zu setzen.
  
  Der Tod Lumumbas wirkt bis heute in Form von neokolonialer Unterdrückung und
  Ausbeutung fort. Emmanuel Mbolela erklärt: "Damit Europa sich entwickeln
  kann, muss die Eigenständigkeit Afrikas gebrochen werden. Deshalb fliehen
  die Leute. Alle Reichtümer wurden ins Ausland geschafft - bis heute! Was zur
  Zeit von Leopold II die Baumwolle war, war zur Zeit des zweites Weltkriegs
  das Uran. Bis zum heutigen Tag werden Diamanten, Gold und Kupfer
  ausgebeutet - oft steuerfrei. Der Westen braucht das wertvolle Kobalt für
  die Herstellung von Elektroautos genauso wie das Coltan für Handys und
  Computer. Die Ausbeutung geht also weiter. Und dann wundert man sich, dass
  die Menschen ihre Länder verlassen? Wenn man die strukturellen Hintergründe
  für Flucht und Migration verstehen will, muss man zurückgehen in die Zeit
  von Lumumba."
  
  Lumumba lebt auch in Kunst und Literatur fort. Miriam Makebas Song "Lumumba"
  wurde weltbekannt, der Komponist Paul Dessau schuf im Jahr 1963 das "Requiem
  für Lumumba". William Kentridge hat ihn in einem eindrucksvollen
  Bilderzyklus ein Denkmal gesetzt. Raoul Peck und Cheick Oumar Sissoko haben
  ihn mit Filmen gewürdigt. Die deutsche Erstaufführung des Theaterstücks "Im
  Kongo" von Aimé Césaire am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg am 24.
  Februar 1968 wurde Gegenstand lebhafter Debatten. Jean Paul Sartre sagte
  einst: "Seit Lumumba tot ist, hört er auf, eine Person zu sein. Er wird zu
  ganz Afrika."
  
  
  Black Lives Matter
  
  Wird es Gerechtigkeit für Lumumba geben? Auf Betreiben seines ältesten
  Sohnes, François Lumumba, setzte das belgische Parlament 2001 eine
  Untersuchungskommission ein, die zu dem Schluss kam, dass selbst der
  damalige belgische König Baudouin von dem Mordkomplott wusste und es
  billigte. Die Kommission legte schliesslich fest, dass Belgien eine
  "moralische Verantwortung" trägt. Doch aufgearbeitet sei der Fall damit noch
  lange nicht. Zwei der zwölf Personen, die den Mord durchgeführt haben, sind
  noch am Leben und müssten vor ein Gericht gestellt werden. Aktuell läuft
  eine Diskussion, ob ein Zahn, den der belgische Polizist Gerard Soete vom
  leblosen Körper Lumumbas entfernt und nach Belgien verschleppt hatte, an die
  Familie zurückgegeben werden soll. Juliana Lumumba, die Tochter von Patrice
  Lumumba und Journalistin, war zum Zeitpunkt der Ermordung ihres Vaters
  fünfeinhalb Jahre alt. Sie klagt an: "Wir, die Kinder von Lumumba, fordern
  die gerechte Rückgabe der Reliquien von Patrice Emery Lumumba in das Land
  seiner Vorfahren, damit wir als Kinder unseren Tribut der Trauer bezahlen
  können." Doch geschehen ist bisher nichts.
  
  Im Juni vergangenen Jahres, zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit, wurden im
  Zuge der Black- Lives-Matter-Demonstrationen in Brüssel Statuen von König
  Leopold II beschädigt, Strassenschilder mit seinem Namen wurden übermalt.
  Vor der Brüsseler Kathedrale wurde ausserdem ein Denkmal für König Baudouin
  mit roter Farbe übergossen. Petitionen mit zehntausenden Unterschriften
  fordern, dass die Statuen König Leopolds weichen müssen. Die Vergangenheit
  reicht bis in die Gegenwart und greift nach der Zukunft. Denn an der
  Ausbeutung des Kongo hat sich kaum etwas geändert. Das Erbe Lumumbas lebt
  indes fort - und zwar bei weitem nicht nur in afrikanischen Debatten,
  sondern letztlich als globale, universalistische Gerechtigkeitsperspektive,
  die nichts an Aktualität eingebüsst hat.
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  Anm. akin:
  (1) Der Tod des UN-Generalsekretärs am 17. September 1961 ist offiziell
  überhaupt nie geklärt worden. Erst 2019 erschienen ein UN-Bericht und eine
  dänische Doku, die einen Abschuß seines Flugzeugs über Sambia nahelegen,
  wohin Hammarskjoeld in einer Vermittlungsmission im Kongo-Konflikt unterwegs
  war. Die SZ schreibt in einer Zusammenfassung: "Der belgische Söldner und
  Kampfpilot Jan van Risseghem, bekannt als 'Lone Ranger', attackiert als Teil
  der winzigen Luftwaffe Katangas in jenen Wochen UN-Truppen. Hammarskjöld bat
  daher um Luftunterstützung, die ihm jedoch Großbritannien und die USA
  verweigern. Stattdessen wird versichert, dass der Belgier an diesem Tag
  nicht fliegen werde." Allen Anschein nach hat der "Lone Ranger" die
  UN-Maschine abgeschossen. Und höchstwahrscheinlich mit Wissen und Gutheißung
  von MI6 und CIA. Aber auch 60 Jahre danach schweigt man sich bei den
  Geheimdiensten darüber aus. Denn der Mord an einem schwarzen Politiker ist
  eine Sache und fällt in der Kolonialpolitik leider wohl unter läßliche Sünde
  im Kalten Krieg, aber der Abschuß einer Maschine einer UN-Delegation mit dem
  aus Schweden stammenden Generalsekretär an Bord mit zumindest Unterstützung
  von US- und UK-Geheimdiensten wäre sogar nach so langer Zeit noch eine
  diplomatische Katastrophe.
  https://www.sueddeutsche.de/politik/dag-hammarskjoeld-1.4698113
  
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