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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 17. Februar 2021; 19:09
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Corona/Debatte:

> Point Zero

In der Krise wird der Protest kampflos den Rechten überlassen,
meint *Peter Moser*

"Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht." "Friede -
Freiheit - Demokratie!" "Wahrheit - Freiheit - Keine Diktatur!"
"Versammlungsrecht!"

Ich befinde mich nicht auf einer Zeitreise. Nicht in einer Sonderausstellung
im Wien Museum über "Transparente und Plakate des Widerstands". Auch nicht
in der Requisitenkammer bei übrig gebliebenen Flugblättern mit dem Aufruf
zum "Ungehorsam gegen Befehle" und "Keine Waffen für lateinamerikanische
Diktatoren!". Nein, es ist Jänner 2021 auf der Wiener Ringstraße. Menschen
aller Altersgruppen, in Mänteln und Jacken, mit Rucksäcken und Täschchen, in
Stiefeln und Hosen, die auf fast alle Schichten der Bevölkerung schließen
lassen. Irritierende, beachtliche Vielfalt. Und noch etwas wich von der
durch diese Losungen erinnerten Vignette ab: Die Transparente und
hochgehaltenen Tafeln sind umzingelt von rot-weiß-roten Fahnen, meist mit
dem Staatswappenadler in der Mitte. Und das ganz große Transparent "Kurz
muss weg!" - eigentlich auch keine Novität, obgleich nicht ganz so alt wie
etwa "Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt". Doch gleich daneben: "Der große
Austausch" und "Stoppt den Globalisierungsdreck!" und "Jesus lebt, der Virus
nicht". Und es sind mehrere Tausend Menschen, dicht gedrängt, kaum jemand
mit einem Mund-Nasen-Schutz. Aus Autobussen steigen weitere aus, mit
nationalistischer Gesichtsbemalung und gelbem Stern mit aufgesticktem
Schriftzug "ungeimpft" auf der Jacke. Polizistinnen und Polizisten schauen
der von Minute zu Minute größer werdenden Ansammlung zu, Verstärkungen
rücken an, schauen auch zu, keine einzige Aufforderung, Abstände einzuhalten
oder Masken aufzusetzen. Dabei wäre das DIE Gelegenheit, mit Strafmandaten
das Budget einnahmenseitig innerhalb einer einzigen Stunde in Höhen zu
treiben, die im Frühjahr 2020 in mehreren Wochen nicht erreicht wurden. Am
Abend höre ich in den Nachrichten, dass da rund zehntausend Leute am Ring
unterwegs waren.

Mittlerweile ist es unübersehbar geworden, dass die lautesten und wütendsten
Kritiken an den Versuchen der Regierung(en), der Pandemie irgendwie Herr zu
werden, von der Rechten nicht nur instrumentalisiert sondern auch
erfolgreich organisiert werden. Es gelingt ihnen offensichtlich, Menschen
quer durch die Gesellschaft eine Plattform zu bieten: für ihre Wut, ihren
Frust, gegen ihre Unterdrücktheit, für ihre Bedürfnisse nach
Selbstbestimmung, gegen Einschränkungen ihres Alltagslebens durch nicht
nachvollziehbare, widersprüchlichst argumentierte Verordnungen, für ihren
Widerstand gegen die sukzessive Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch
Maßnahmen, die ihr Ziel -- den Kampf gegen die Pandemie oder die Abfederung
der Folgen -- nur versprechen, aber nicht wirkungsvoll erreichen. Die
Rechten bieten ihnen -- konkurrenzlos! -- dafür nicht nur die Straße als
Plattform. Bei einem Treffen aller Klubobleute der Parlamentsparteien in der
ORF-Sendung "Im Zentrum" konnte der FPÖ-Kickl von der Untauglichkeit der
PCR-Tests schwadronieren. Diese sei wissenschaftlich nachgewiesen und von
über hundert WissenschafterInnen in einer Petition unterzeichnet. Einer
dieser Wissenschafter sei mittlerweile sogar mit Berufsverbot belegt worden.
Kickl blieb unwidersprochen, obwohl - mit einigem Rechercheaufwand
freilich - seine Argumentationsbasis auch im Wissenschaftsbereich entkräftet
hätte werden können. Doch von wem?

Der Aufruf "Zero Covid" sollte diese Absenz der Linken in der politischen
Arena nun beenden. Am 12. Jänner 2021 geht der Aufruf online (1). An die
100.000 Unterschriften kamen seither zusammen "für einen solidarischen
europäischen Shutdown" dessen "Ziel heißt null Infektionen". Unter den
Unterzeichnenden finde ich eigene Freunde und Freundinnen, bekannte Personen
von attac sowie - geschätzt - mindestens die Hälfte der politischen "Elite"
von LINKS-Wien: namhafte Leute im Spitzengremium der Partei und eine ganze
Menge frisch gewählter Bezirksräte und -rätinnen. Fast alle fügten zu ihrem
Namen auch ihre LINKS-Zugehörigkeit an. Vor dem Hintergrund, dass in der
Bezirksgruppe der Partei auch die kleinste Wortwendung, die medial abgesetzt
werden soll, abgewogen und gar einem Votum unterworfen wird, ist diese
definitiv auf Öffentlichkeitswirksamkeit erpichte Identität bei der
Aufrufunterzeichnung doch recht erstaunlich, weil der Aufruf nie hinterfragt
und so eine "iterative", schleichende Unterstützungswerbung auch - meines
Wissens nach, nie diskutiert wurde.

Diskutiert wird nicht!

Auf etliche Details des Aufrufs wurde in akin 2021-2 hingewiesen und an
Kritik nicht gespart. Eine Kritik an der Kritik ist in der letzten akin
2021-3 abgedruckt, Replik inklusive. Am 6. Februar 2021 hat LINKS-Wien eine
online-Konferenz organisiert, bei der eine der Protagonistinnen des Aufrufs
das Hauptreferat hielt. Der prononcierteste Kritiker des Aufrufs, Alex
Demirovic, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac und Fellow der
Rosa-Luxemburg-Stiftung (2), war ebenfalls eingeladen, trat jedoch
bedauerlicherweise nicht auf. Damit waren die Pro-Stimmen bedingt durch zwei
lange Einleitungsstatements gegenüber null auf der aufrufkritischen Seite
eindeutig übergewichtig. Und so klangen auch die meisten Diskussionsbeiträge
wie der Aufruf selbst: "Solidarisch" war das Wort mit der höchsten
Einschaltquote, gefühltermaßen gleich auf mit "Bewegung von unten" und
"europäisch gemeinsam". Und dann sollte noch - auch auf der Pro-Seite, diese
aber kritisch bestärkend - mehr "antikapitalistisch" gegen die Pandemie
gekämpft werden. Bevor noch erste fragende Hinweise auf das "Wie?" der
Zielerreichung hörbar wurden, kam schon kategorisch der "Totschlag": "Das
Realismus-Argument zählt nicht, weil man dann ja überhaupt keine Visionen
haben kann." Trotzdem wagten dann einige zu fragen, wie lange denn so ein
totaler Shutdown dauern müsse und man schon darüber reden sollte, wie lange
man das Menschen zumuten könne. Antworten gab es darauf nicht - auch von den
Zero-Covid-Protagonistinnen nicht, obwohl sie unbeschränkte Redezeit hatten.

Kurz vor diesem Konferenzabend war bekannt geworden, dass die Isle of Man
das erste infektionsfreie Land in Europa sei. Eine Frau erwähnte dazu knapp,
dass man die Leute, die sich dem vorangegangenen totalen Shutdown auf der
Insel widersetzt hätten, einfach eingesperrt habe. Der Hinweis blieb ebenso
unkommentiert wie eine andere Diskutantin, die "nicht versteht, warum jetzt
auch die Linke so regierungsfreundlich für noch mehr Lockdown sein kann". Zu
den Nicht-Unterzeichnenden zählte sicher auch der Diskutant, der sich zwar
mehr Aktivität der Linken in der Pandemiebekämpfung wünschte, aber die
bisherigen politischen Instrumente für untauglich hält und den bisherigen
Lockdowns zu viele "unerwünschte Nebenwirkungen" bescheinigte. Gegen eine
"wild gewordene Polizei und einen repressiven Staat" sei viel
Überzeugungsarbeit nötig. Ein Echo aus dem Zoom-Raum auf diese Warnung war
nicht zu vernehmen.

Worte wie "Demokratie" und "Freiheit" sind anscheinend kampflos den von den
Rechten organisierten Massen auf den Protestmärschen und -spaziergängen
überlassen worden. Die ZeroCovid-Linke berauscht sich in einer
reflexionsbefreiten Solidaritäts-Magie, die ihr den Blick dafür vernebelt,
dass ihre Kernforderung nichts anderes ist als der Zweck, der alle Mittel
heiligt. Dabei müsste schon die Wortwahl des Aufruftitels hellhörig machen:
"zero" - das neue Synonym für maximale Steigerungsstufe, für absolut, für
bedingungslos, unerbittlich. ###

(1) https://zero-covid.org

(2) https://www.akweb.de/autor-in/alex-demirovic/
https://www.akweb.de/bewegung/zerocovid-warum-die-forderung-nach-einem-harten-shutdown-falsch-ist/



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