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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 3. Februar 2021; 21:52
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Leitartikel
> Protest bringts
Was wir von den Corona-Demos lernen könnten
Was für eine Woche! Am Donnerstag wird (gemeinsam mit anderen) eine aus
Georgien stammende Mutter mit zwei hier geborenen Töchtern abgeschoben. Für
einen Moment scheint es, als wäre das der Knackpunkt der Koalition. Aber das
wird es wohl nicht sein.
In Innsbruck attackiert die Polizei am Samstag eine Bleiberechtsdemo mit
Pfefferspray und nimmt 19 Personen fest -- zwei von ihnen sollen (Stand
2.2., nachmittags) immer noch inhaftiert sein.
Die Wiener Polizei verbietet so ziemlich alle für das Wochenende angezeigten
Demos -- läßt dann aber am Sonntag die Maßnahmengegner weitgehend
unbehelligt durch die Innenstadt ziehen, während sich linke Gruppierungen
großteils brav an das Verbot ihrer Demos halten.
Am Montag verkündet die Bundesregierung eine "vorsichtige Öffnung" ab
8.Februar -- und gibt sogar zu, daß das hauptsächlich erfolgt, weil alle
schon Lagerkoller haben.
Das alles hat mehr miteinander zu tun, als auf den ersten Blick ersichtlich
ist. Auch wenn das keiner so sagen will, so ist allen klar: Die staatliche
Gewalt steht an der Kippe! Ein nicht unerheblicher Teil der bisher so braven
Bürger ist nicht mehr bereit, sich an die Verordnungen zu halten. Die Bilder
aus Belgien und Israel werden von den Regierenden ernstergenommen, als sie
zugeben wollen und das Verhalten der Polizei bei der untersagten, aber
tolerierten Demo in Wien war in einem ordnungspolitischem Sinne sehr
vernünftig. Und diese Demo war wohl auch nicht unerheblich für die
Entscheidungsfindung am Montag. Es hatte wohl seine Gründe, daß die
Pressekonferenz immer wieder verschoben worden war, denn zu diskutieren galt
es eine neue Lage. Der Game Changer war jetzt plötzlich nicht mehr das
Auftauchen der neuen Mutationen, sondern der stärker werdende Unmut von
Bevölkerungsschichten, die man weder als Nazis und Aluhüte oder linke
Störenfriede abtun konnte. Auch wenn Herr Pürstls Erklärungen in der ZiB2 am
Montag jenseitig waren, so enthielten sie doch einen wahren Kern: Die
Polizei mußte alle Demos untersagen, weil die 2-Meter-Regel tatsächlich bei
einer Demo nicht einhaltbar ist -- sie ist zwar auch sonst nicht lebbar und
wird auch nicht gelebt, aber das hat der Polizei egal zu sein. Von der
Politik wurde zwar kein Demonstrationsverbot verhängt, weil man das halt
nicht gerne so sagen will, mit dieser Regel de facto aber sehr wohl
angeordnet.
Und was auch stimmt ist, daß, besonders nach den Abschiebungen am
Donnerstag, eine Attacke auf eine enorm große Demo, wo auch Mütter mit
Kinderwägen unterwegs sind, politisch nicht opportun gewesen wäre. Hingegen
kann man natürlich eine Innsbrucker 600-Leute-Demo, die sich, so weit es
eben irgend geht, an die Vorschriften hält, aber wo hauptsächlich linke
Jugendliche unterwegs sind, locker drangsalieren und verdreschen und
einnebeln, weil es für die hegemonialen Spießbürger ja voll in Ordnung ist.
Abgesehen davon hat das natürlich auch den Kollateralnutzen, die Demütigung
der Bundesgrünen noch ein bisserl brutaler zu gestalten.
Wir wissen jetzt also, daß Demonstrationen sehr wohl etwas nützen -- und
zwar dann, wenn die Politik das Gefühl haben muß, daß große Teile der
Bevölkerung keine Lust mehr haben sich an Gesetze zu halten oder gar
Widerstand zu leisten bereit sind. Das muß an sich gar keine große Masse
sein und sie muß auch gar nicht mit Gewalt drohen -- wichtig ist ihre
Repräsentanz aller Schichten. Im Februar 2011 erklärte eine
2000-Seelen-Gemeinde in Vorarlberg beinahe geschlossen ihren Ungehorsam. Wer
erinnert sich nicht mehr an das Wunder von Röthis, als ein Fremdenpolizist
unverrichteter Dinge abziehen mußte, weil das halbe Dorf um 4 Uhr früh
anmarschiert ist, um die Abschiebung einer kosovarischen Familie zu
verhindern? Wie sagte der Wiener Polizeipräsident so schön über ein
mögliches Szenario bei der Abschiebung in der Zinnergasse? "Wenn dort ein
paar tausend Demonstranten gewesen wären und ein Einschreiten der Polizei
quasi unverhältnismäßig geworden wäre, daß gar nicht möglich gewesen wäre,
das so zu räumen, dann wäre das natürlich anders ausgegangen."
Man mag es generell für gut oder für schlecht halten, daß die Regierung den
Lockdown aufweicht, aber es ist im Sinne der "Ruhe und Ordnung" vernünftig.
Das Seelenheil der Menschen im Land ist dieser Regierung -- so wie jeder
Regierung weltweit -- natürlich scheißegal, auch wenn die österreichische
jetzt behauptet, auf die psychischen Auswirkungen mehr Rücksicht nehmen zu
wollen. Nicht egal kann ihr sein, wenn sie mit manifestem Widerstand rechnen
muß. So stabil, wie immer getan wird, ist auch der österreichische Staat
nicht. Wie schnell die Stimmung in einem scheinbar gefestigten westlichen
Ordnungssystem kippen kann, hat man -- in einem vollkommen anderen
Zusammenhang -- bei der Erstürmung des US-Kapitols gesehen. Bei uns in
Österreich machte jetzt ein hoher Bundesheer-Offzier negative Schlagzeilen,
weil er (anscheinend wirklich unwissentlich) ein Neonazi-Zitat verwendet
hat. Dabei etwas untergegangen ist, daß der Beweggrund für sein Video sein
"persönlicher Gewissenskonflikt" sei, weil er sich schwer tue, angesichts
der Corona-Politik der Regierung deren Befehle zu befolgen. Hätte er keinen
Nazispruch verwendet, hätte das niemanden interessiert -- aber wieviele
Bundesheerler denken vielleicht genauso? Wenn Berufsoffiziere laut über
Ungehorsam nachdenken, wirds brenzlig!
Daß die Grünen angesichts dieser Situation die Regierung nicht kippen
wollen, ist verständlich. Längst geht es nicht mehr um die Gefahr einer
Neuauflage von Türkis-Blau, den Klimawandel oder auch nur die Lust, endlich
mal auch auf den Regierungssesseln sitzen zu dürfen. Jetzt gilt es
staatstragend zu sein, denn in einer Krise könne man doch nicht Neuwahlen
machen. Blöd halt, daß der Gesalbte das weidlich ausnutzt -- denn genau
wegen dieser Krise hätten die Grünen jetzt einen Joker in der Hand, den sie
aber nicht sehen wollen. Ihr konsequenter Protest könnte den Kanzler jetzt
zwingen, zurückzustecken -- genauso wie die gesamte Regierung es angesichts
des Unmuts im Land tun mußte. Stattdessen demoralisiert die ÖVP ihren
Koalitionspartner und drängt ihn -- wie zuvor schon SPÖ und FPÖ -- bei jeder
sich bietenden Gelegenheit an die Wand.
Eine Masse stinknormaler Bürger, eine Mischkulanz vieler verschiedener
Schichten und Weltanschauungen (ja, eben auch ein paar Nazis), hat gerade
gezeigt, wie man die Politik beeinflussen kann. Und wenn auch weder diese
Mischkulanz noch das Ergebnis erfreulich wirken mögen, könnten vielleicht
auch Grüne oder die österreichische Rest-Linke innerhalb und außerhalb der
Parteien rein methodisch daraus etwas lernen. Denn die, die da im Netz gegen
die Maßnahmen protestieren oder die am Sonntag in der Wiener Innenstadt
unterwegs waren, sind es im Gegensatz zu unsereinem nicht schon gewohnt, in
politischen Auseinandersetzungen immer zu verlieren.
Man erinnere sich an die große Pensionsdemo 2003! Da verkündete der ÖGB
danach stolz, man habe eine "erfolgreiche Demo" durchgeführt. Der Erfolg
war, daß der ÖGB wiedermal seine Mobilisierungsstärke zeigen konnte, aber
nicht, daß diese Mobilisierung etwas gebracht hätte. An den Beschlüssen der
Schüsselregierung änderte es nichts. Denn wenn hinter einer Demo nicht eine
ernsthafte Herausforderung der Regierenden steht, verkommt sie zur
Selbstbeweihräucherung.
Die Proteste gegen die Corona-Gesetze jetzt aber signalisierten -- und zwar
glaubwürdig: "Wir machen nicht mehr mit!"
Das Innenministerium hat jetzt viele Ausreden, warum es da die Polizei nicht
dreinhauen ließ. Die Wahrheit ist aber: Für die Protestierenden war die Demo
auch ein Ventil, um Druck abzulassen bei einem gemütlichen Spaziergang in
der Innenstadt. Den Deckel draufhalten und den Kessel zum Platzen bringen
konnte nicht im Interesse der Regierung sein. Und man sah sich mit den
Beschlüssen von Montag genötigt, noch mehr den Druck wegzunehmen, weil ihnen
sonst die bisherigen Systemerhalter den Gehorsam verweigern.
Ja, alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will. Oder mit
Gandhi: Non-Cooperation! Das funktioniert. Jetzt müßten nur fortschrittliche
Kräfte diese Prinzipien auch wieder zum Laufen bringen.
*Bernhard Redl*
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