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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 27. Januar 2021; 23:48
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Leitartikel:

> Und erlöse uns von Corona!

Nach der Hoffnung auf die Impfung kommt jetzt als großes Heilsversprechen
die Idee des totalen unbegrenzenten Lockdowns aufs Tapet.
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Am 27.Februar 1987 kam ich etwa so gegen 1 Uhr früh zu Hause an. Ich
schaltete das Radio ein und hörte die Nachrichten, in denen berichtet wurde,
daß gewalttätige Demonstranten in der Wiener Innenstadt die Polizei
angegriffen hätten. Ich rieb die Beule an meinem Hinterkopf und dachte mir,
das muß wohl eine andere Demo gewesen sein. Weil bei der Demo gegen den
Operball und Franz-Josef Strauß hat es sich genau umgekehrt abgespielt.
Seither traue ich keinen offiziellen Berichten über gewalttätige
Demonstranten mehr. Übrigens auch keinen Berichten über gewalttätige
Polizisten bei Demonstrationen, wenn diese in Ländern stattfinden, mit denen
die hiesige Regierung nicht befreundet ist.

Auch heute schalte ich gerne mal das Radio ein und höre, daß Hooligans und
Verschwörungstheoretiker aus heiterem Himmel niederländische Städte in
Schutt und Asche legen, während in Rußland friedliche Demonstranten für mehr
Demokratie von der Polizei massenhaft festgenommen werden. Ja, ich hab auch
die Bilder von den Verwüstungen gesehen, und ja, Putin ist ein Despot.
Dennoch frage ich mich, wie die Berichterstattung ausgesehen hätte, wären
die Lokalitäten der Geschehnisse vertauscht gewesen.

Gewalt erzeugt Gegengewalt. Das ist das 3.Newtonsche Axiom der Politik.
Aber: Wer hat damit angefangen? Was sind die Hintergründe? Wer hat die
Definitionsmacht?


Frontbildung

Das Gerede von der Spaltung der Gesellschaft in unserer "westlichen Welt"
hören wir jetzt schon länger. Zuletzt war das in in Österreich besonders
stark und eher unpassend nach dem Bundespräsidentschaftswahlkampf, nur weil
2016 ausnahmsweise nicht ein schwarzer und ein roter Kandidat zur Auswahl
standen, sondern ein grüner und ein blauer, die realpolitisch genausoweit
weg voneinander sind wie einstens Rote und Schwarze, nämlich nur marginal.
Ähnliche Fehleinschätzungen gab es in den letzten Jahren auch in anderen
Ländern, vor allem in der EU, aber auch in den USA.

Mit Corona aber ist alles anders. Das Virus ist der "game changer". Die
Effekte sind mannigfaltig: Die Einen fürchten sich vor dem Virus, die
Anderen ertragen die Maßnahmen nicht mehr, die Dritten sind faktisch
vielleicht gar nicht so betroffen, können aber keine Nachrichten mehr hören
und fühlen sich nur mehr in einem Belagerungszustand, eingeklemmt vom Virus
und dem erratischen Handeln der Regierungen. Nachdem man aber nur mehr
schwer im wirklichen Leben diskutieren kann, werden die Debatten digital --
und damit auch weniger empathisch. "Hass im Netz"? A matte Sache! "Totaler
Lockdown ist notwendig!" versus "Corona ist nur eine schlimme Grippe!"
lautet die Paarung und die ist wirklich Brutalität. Motto: "Und willst Du
nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein!" Wer da versucht,
eine Zwischenposition einzunehmen, wird sofort und eindeutig der anderen
Seite zugerechnet.

Wir alle drehen derzeit am Rad. Und irgendwie hätten wir jetzt alle gern ein
Ende dieses gesellschaftlichen Zustands. "Da muß man doch nur konsequent
sein!" lautet die Parole. Der gordische Knoten muß doch zu zerschlagen
sein -- nicht bedenkend, daß die Methode der Problemlösung mit einem Schwert
erfolgte und einem imperialistischen Eroberer nachgesagt worden war. "Heute
haben wir leider für Feinheiten keine Zeit, sagte einer, den ich schon vor
Jahren als Grobian kannte" heißt es bei Erich Fried. "Not kennt kein Gebot"
betitelte Fried sein Gedicht und das paßt gerade jetzt wunderbar.


"Zero Covid"

In dieser Not kommen nun diverseste Aufrufe -- immer mit der Konnotation
"von Wissenschaftlern" zur Glaubwürdigkeitsverbesserung -- die einfache
Lösungen fordern. Aktuell sind das "No Covid" und "Zero Covid". Letzterer
verdient besondere Beachtung, stammt er doch aus Kreisen der Linken in
Deutschland und Österreich. Und er ist eine Katastrophe! Da wird zwar sehr
lieb und nett auch gefordert, daß die Kosten des Lockdowns und der
gesellschaftlichen Verwerfungen gefälligst von den Reichen zu tragen sind
und die Arbeitspflicht generell aufgehoben werden soll, um eine Verringerung
der Kontakte zu ermöglichen, aber Punkt Eins des Papiers ist eben der totale
Lockdown auf unbestimmte Zeit bis die Zahl der Neuinfektionen tatsächlich
auf Null sei. Die Autoren wissen allerdings auch selbst, daß das illusorisch
ist, aber zumindest sollten es nur wenige Ansteckungen sein: "Die niedrigen
Fallzahlen müssen mit einer Kontrollstrategie stabil gehalten und lokale
Ausbrüche sofort energisch eingedämmt werden." Na, danke, ein Aufruf von
Linken, der "Kontrollstrategie" und "energische Eindämmung" fordert -- die
EU-Innenminister freuen sich sicher darüber, daß das jetzt sogar diejenigen
fordern, die sonst immer nur die Polizei für Gewalttätigkeit und
Überwachungswahn kritisieren.

Wer derlei autoritäre Phantasien kritisiert, kann sich auf einen Shitstorm
gefaßt machen. Die Falter-Autorin Barbara Toth schrieb auf Twitter: "Auf
komplexe Krisen gibt es keine einfache Antwort. Augenmaß und Vielstimmigkeit
sind wichtig, wenn wir nur auf Epidemologen hören würden, gäbe es am Ende
wohl eine 0, aber wo stünde dann unsere Gesellschaft?" -- "Dann stünde
unsere Gesellschaft viel besser da. Wenn Sie Corona so sehr mögen, dann
stecken Sie sich doch einfach an." war eine der Antworten. Ein anderer User
meinte, man könne die Beteiligung der Bevölkerung an den Maßnahmen nicht
"auf demokratischem Wege wieder auf ein dafür notwendiges Niveau" heben.

Thomas Schmidinger, Politologe (und seit drei Jahrzehnten auch immer wieder
mal akin-Autor), postete auf Facebook: "Linke, die den Menschen nicht mehr
anzubieten haben als ein ebenso autoritäres wie illusorisches 'zero covid'
durch Verschärfung und Verlängerung des Lockdowns auf unbestimmte Zeit [...]
brauchen sich nicht zu wundern, wenn die Kräfteverhältnisse so aussehen, wie
gestern: Über 10.000 bei der von einer wilden Mischung (inkl. Nazis)
mitgetragen MaßnahmengegnerInnendemo versus ein paar hundert linke
GegendemonstrantInnen. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn all jene,
die auf die Demo der LockdowngegnerInnen gegangen sind pauschal als Nazis
beschimpft werden. Wenn die Linke die Leute nicht den Rechtsextremen in die
Arme treiben will, wird sie sich etwas Anderes einfallen lassen müssen."

Ein Vertreter des totale Lockdowns von der Tiroler KPÖ verbreitete daraufhin
empört dieses Statement und erklärte Schmidinger zu einem passiven
Unterstützer der "Querfront". Protest gegen diese Kategorisierung und der
Verweis auf das doch wohl eher Autoritäre an diesem Aufruf wird beschieden
mit "Vernunft ist halt autoritär". Danke, ist das ein Stalin- oder
Robespierre-Zitat? Oder wars gar Mao? Denn Ex-KPÖ-Chef Walter Baier nimmt
sich die ganz harte Tour der Kommando-Kapitalisten zum Vorbild: "Wenn es in
China gut ist, ist es auch hier gut."

Die marginalisierte Linke -- und da vor allem der orthodoxe Flügel -- will
wieder Deutungshoheit erlangen und fordert daher etwas, womit der autoritäre
Charakter weiter Kreise der deutschsprachigen Bevölkerung etwas anfangen
kann. Da muß man halt etwas regredieren; selbst Baier, der mit der
Entstalinisierung seiner Partei ja wirklich eine herkulische Arbeit
geleistet hat, ist davor nicht gefeit.

Und so geht das die ganze Zeit auch in anderen Bereichen : Wenn Youtube eine
Parlamentsrede von Herbert Kickl -- ursprünglich aufgezeichnet vom ORF --
einfach löscht mit dem Verweis, sie stünde "im Widerspruch zu medizinischen
Informationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder lokaler
Gesundheitsbehörden" so kann man der FPÖ einfach nicht widersprechen, wenn
sie das "Zensur" nennt. Schließlich hat Youtube als Videoplattform weltweit
eine marktbeherrschende Stellung -- was auf Youtube gelöscht wird, wird
marginalisiert. Wenn das Schule macht, daß es in Ordnung ist, Dinge zu
löschen, weil sie irgendwelchen Autoritäten widersprechen, wird das nicht
sehr lustig in Zukunft. Dennoch applaudieren da viele Linke, weil es gegen
die FPÖ geht.

Blöderweise nutzt das halt gerade der FPÖ, denn ihr Aufschrei ist
berechtigt. Wenn die Linke unfähig ist, den Protest gegen die Maßnahmen
ernstzunehmen (ohne diese Positionen sich dabei gleich anzueignen), dann ist
es eben kein Wunder, wenn die extreme Rechte das umarmt. Der FPÖ wird das
nicht schaden, im Gegenteil: Die Anti-Maßnahmen-Sager, so jenseitig manche
davon auch sein mögen, wird die gerade noch schwer angeschlagen gewesenen
Blaunen retten. Und die spärlichen Reste der Linken werden wieder dastehen
als diejenigen, denen Demokratie scheißegal ist, sowohl was die
Meinungsfreiheit als auch die Interessen weniger elitärer Schichten der
Bevölkerung angeht.


Es wird noch schlimmer

Was das alles mit den Protesten in den Niederlanden zu tun hat? Nun, Randale
heißt immer, daß etwas nicht stimmt in einem Staat. Selbst wenn sie von
Faschisten angezettelt wird, ist sie vor allem als Symptom zu werten, denn
Massenproteste, die stark genug sind, die staatliche Macht herauszufordern
kommen nicht einfach daher, daß ein paar Narren die falschen Bücher gelesen
oder die falschen Videos geguckt haben. Der Protest ist auch nicht nach
seinem vordergründig transportierten Inhalt zu betrachten, sondern die Frage
ist zu stellen, was denn da falsch gelaufen ist in der Gesellschaft. Angst
und Wut kommen von irgendwoher. Und ich fürchte mich schon davor, wenn die
Polizei ernstmacht mit der Forderung des hiesigen Innenministers, Demos
hierzulande einzuschränken.

Die ganze Welt ist gerade am Durchdrehen und es wird wohl noch schlimmer
werden. Neue Mutationen werden auftauchen, die Immunität dagegen -- egal, ob
die natürliche oder impfinduzierte -- wird sich als temporär herausstellen,
es wird weitere Lockdowns geben, die Empörung wird parallel mit dem
Zusammenbruch vieler bürgerlicher Existenzen und der Verschärfung
zusätzlicher Polizeimaßnahmen eskalieren. Die extreme Rechte wird aufblühen
und die Grenzen werden dichtgemacht. Wenn das Virus dann vielleicht
irgendwann einmal seine Gefährlichkeit verloren haben wird, wird die Welt
noch lange an den Folgen dieser Verwerfungen zu kiefeln haben.

Es sei denn, wir akzeptieren als Weltgemeinschaft, daß es nicht nur gilt,
frühzeitiges Versterben zu minimieren, sondern daß es auch ein Leben vor dem
Tod geben muß. Und daß vieles, was zu "funktionieren" scheint, zu Recht
verpönt ist. Gerade Linke müßten da eigentlich Vorreiter sein.

*Bernhard Redl*



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