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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 14. Jänner 2021; 02:58
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Glosse:

> Der Philosoph als Orakel

In der Sendung "Kulturzeit" am 18.12.2020 bemühten sich der Moderator Gert
Scobel und der Philosoph Wolfram Eilenberger um einen philosophischen
Rückblick auf das Jahr 2020.

Moderator: Was ist die nächste große Aufgabe für Philosophen?

Philosoph: Wir müssen den Menschen erklären, dass es die Weltgeschichte
nicht persönlich mit ihnen meint, und dass es schwere Zeiten gibt, an denen
niemand schuld ist. Diese Frage 'Wer ist jetzt daran schuld?' ist eine
politisch sehr gefährliche Frage. Und wir sind in einer Situation, in der
diese Frage der Therapie bedarf.

Eine weise Antwort. Sie fokussiert die Philosophie sehr richtig auf ein
Therapieren unseres Fragens. Philosophieren ist tatsächlich weniger ein
Antwortgeben als ein Fragenkorrigieren. Und tatsächlich trägt auch niemand
im herkömmlichen Sinne 'Schuld' am Elend der Menschen. Diese umfassende
Absolution hat aber etwas von einem Orakelspruch. Hier bleibt so viel offen,
dass viele falsche Interpretationen möglich sind.

Natürlich sind Wirtschaftszusammenbrüche, Flüchtlingselend, Pandemien usw.
nicht unmittelbare Folgen gezielten Handelns bestimmter Bösewichte bzw.
böswilliger Eliten. Und selbstverständlich ist auch der Klimawandel kein von
irgendjemandem mit böser Absicht in die Welt gesetztes Lügengespinst. Es
gibt also keine Schuldigen im Sinne diverser Verschwörungstheorien. Wer
ihnen anhängt, überschätzt die Einflussmöglichkeiten einzelner Individuen,
hat also nicht begriffen, dass die vermeintlichen Strippenzieher nur Agenten
der ihnen Macht verleihenden sozio-ökonomischen Strukturen sind.

All diese Katastrophen sind ebenso wenig Resultate eines hinter unserem
Rücken waltenden, von höheren Mächten zu verantwortenden Geschicks. Die
Schuld trifft daher auch nicht die Weltgeschichte oder gar die Götter. Um es
am Beispiel der uns aktuell quälenden Pandemie auf den Punkt zu bringen:
Götter haben vielleicht die Viren erschaffen, sind aber sicher nicht
verantwortlich für jenes weltweit vernetzte Produktions- und
Austauschsystem, das ihnen beste Ausbreitungsmöglichkeiten bietet. Wir
selbst entwickelten diese von einer gnadenlosen Profitlogik gesteuerte
Organisation der gesellschaftlichen Arbeit, die den Ausbruch von Pandemien
begünstigt, ihren Verlauf dramatisch beschleunigt und die von ihnen
verursachten gesundheitlichen und sozio-ökonomischen Probleme drastisch
verschärft. Analog verhält es sich bei allen anderen weltweit drohenden
Krisen. Stets trifft die Schuld am größten Teil des von ihnen erzeugten
Elends letztlich uns alle. Denn niemand anderer als wir selbst hat unsere
Elend produzierende und Elend potenzierende Art des Wirtschaftens etabliert
und niemand anderer als wir selbst duldet ihren Fortbestand.

Die Schuld an diesem Fortbestand trifft uns aber auf ganz unterschiedliche
Weise. Denn zum einen hat jeder von uns verschieden geartete und verschieden
große Möglichkeiten, Beiträge zur Veränderung jener Organisation der
gesellschaftlichen Arbeit zu leisten. Und zum anderen profitieren wir von
ihr in ganz verschiedenem Ausmaß und auf ganz verschiedene Art. Der eine
kann sich über sein fettes Bankkonto freuen, der andere darf bloß froh sein,
dass es ihm immer noch besser geht als seinem langzeitarbeitslosen Nachbarn,
und der wieder muss sich damit begnügen, dass er's richtig gut hat im
Vergleich zu dem von Ratten benagten Flüchtlingskind im Zeltlager auf
Lesbos.

Angesichts dieser hochkomplexen Verantwortungs- und Begünstigungslage darf
sich Philosophie bei der Therapie unseres Fragens nach der Schuld am Elend
unserer Welt nicht mit weisen Orakelsprüchen begnügen. Sie sollte vielmehr
dabei helfen, die diesbezüglichen Fragen so differenziert zu stellen, dass
entsprechend differenzierte Antworten möglich werden. Denn nur sie führen
weder zu einer Versöhnung mit dem Elend noch zu seiner Abwälzung auf
Sündenböcke, sondern eröffnen Perspektiven für die Auflehnung gegen seine
strukturellen Ursachen.

*Karl Czasny*



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