**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 7. Januar 2021; 08:27
**********************************************************
Corona:
> Früher war alles besser -- das war schon immer so
Das Private ist politisch. Und hat etwas mit Impfungen zu tun.
Kindheitserinnerungen von *Martin Just*.
*
Staunend beobachte ich, wie Leute gegenwärtig Texte veröffentlichen, in
deren Inhalten sie sich einzig und allein outen, ihre eigene Kindheit und
Jugend zu romantisieren beziehungsweise innerhalb der reichlichen
Komplexität der Veränderungen der Erde ebendiese nicht verstehen. Das kann
keine Schande sein; ich meine, dass es wichtig ist, ständig in Prozessen der
Diskussion, der Wissenserweiterungen und des Austauschs zu stehen. Nur so
kann die Welt, die Gesellschaften, so wie sie derzeit funktionieren,
verstanden werden.
Staunend beobachte ich, und denke mir dabei, dass solche Texte - ich meine
damit jene "früher war alles besser"-Bravaden, eigentlich nur eine
Reminiszenz an die auf der Wiese laufende Familie in der Bawag-Werbung der
1980er Jahre sein kann. Oder meinetwegen an die Obstgartenwerbung ebendieser
Datierung.
Früher, liebe Freunde, war also alles besser? Ich erlaube mir an früher zu
denken, und, um diesen angesprochenen Texten entsprechen zu können, ich
werde keine Nachschlagwerke oder Google bemühen, sondern nur meine
Erinnerungen und Reminiszenzen in Worte fassen. Ich wurde 1979 geboren und
verbrachte meine Kindheit im südlichen Niederösterreich.
Heute ist der 3. Jänner 2021 - wir (also ich und der Rest der Welt) befinden
uns gerade mitten in einer durch ein neuartiges Coronavirus ausgelösten
Pandemie.
Meine Tochter ist gerade 5 Jahre alt, und sie kann jeden Tag in der
Sandkiste spielen, eigentlich so wie wir. Bei uns hat sich niemand etwas
geschissen, mit drei, vier Jahren war unsere Sandkiste direkt neben einer,
freilich nicht sehr stark befahrenen Straße, angelegt. Glücklicherweise ist
keines der Kinder vor Ort überfahren worden. Nicht in der Sandkiste spielen,
dieses Problem hatte wir erst später, nämlich im April 1986. Da ist ihnen in
der Sowjetunion Tschernobyl um die Ohren geflogen. Keine Milch zu trinken,
keine Pilze essen, nicht in der Sandkiste spielen, das war für uns recht
lange Normalität. Natürlich kann es sein, dass sich Eltern von anderen
Kindern an das nicht so gut erinnern können, weil die ausgegebenen Warnungen
und Empfehlungen aufgrund der Radioaktivität in der Atmosphäre nicht von
allen Erwachsenen ernst genommen wurden. Erinnert zumindest ein bisserl an
die Maskengeschichte gerade. Viele haben Tschernobyl unbeschadet überlebt
und trotzdem Wildschweinragout mit sautierten Eierschwammerln gegessen. Aber
halt nicht alle. Ein klein wenig Leukämie hier, ein bisschen Kehlkopfkrebs
da - woher soll man auch genau wissen, wo das herkommt?
Ich für meinen Teil jedenfalls habe mit sechs Jahren auch ziemlich lange
gebraucht, um zu verstehen, dass nicht die Challenger-Explosion im Jänner
für all unser kindliches Unheil verantwortlich war, sondern dass der Wind in
diesem Fall aus einer anderen Richtung wehte.
Meine Tochter wird den Rest ihres Lebens mit der Klimakatastrophe leben
müssen. Wir hatten es da besser. Wir kannten zwar den Begriff
Treibhauseffekt und mir für meinen Teil war das als Kind auch irrsinnig
wichtig, dass da etwas dagegen getan wird. Ich bin bereits im
Volksschulalter meiner Mutter kräftig auf den Geist gegangen mit diesem und
anderen Umweltthemen.
Aber für uns war es bei weitem nicht so brutal wie es für meine Kinder sein
wird. Warum? Weil sich meine Generation mitsamt meiner Elterngeneration in
ihrer Mehrheitsverfassung einen Dreck um unsere Erde und unsere
Lebensgrundlagen geschert haben, im speziellen nach dem Zusammenbruch des
Realen Sozialismus in der Sowjetunion und den anderen Staaten des Warschauer
Vertrags zu Beginn der 1990er. Während wir damals in Österreich und in
anderen Teilen Europas noch in einer sozialstaatlichen Sicherheit aufwachsen
konnten, die in der Menschheitsgeschichte praktisch einzigartig gewesen ist,
übergeben wir die Staffel an unsere Nachfolgegeneration mit einem zerlegten
Sozialstaat, selbstverliebten Vollidioten in den Regierungen, Kriegen
rundherum und einer devastierten Umwelt (global wie lokal). Wir, also meine
Generation - das ist jene Generation, die das Bindeglied zu den Boomern und
den Millennials darstellt. Wir wussten schon, wie es um unsere
Lebensgrundlagen steht. Wir haben aber in der Mehrheit trotzdem das Lied der
Alten gesungen.
Dieses Lied war bei mir in der Gegend durchaus auch manchmal das
Horst-Wessel-Lied. Harmlosigkeiten wie Waldheims "Jetzt-erst-recht"-Kampagne
waren da nicht einmal der Rede wert. Da war es treue Ehre, die Stimme jenem
Kandidaten zu geben, der nie ein Nazi war, sondern nur sein Pferd.
Zugegebenermaßen hat es aufgrund des massiven rechtsradikalen Einflusses
auch bei mir recht lange gedauert, bis ich einen Zeitpunkt erreicht hatte,
an dem ich heute retrospektiv sagen kann, das es zum notwendigen Bruch mit
diesen Kindheitserlebnissen und Jugenderfahrungen gekommen ist. Dieser
völlige Bruch fand circa im Alter von 19, 20 Jahren statt.
Unheimlich hilfreich war dabei, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon mein
Glück in Wien fern des südlichen Niederösterreichs gesucht habe. Wie ich
heute aber feststellen muss, hat dieser Geist längst das Feistritztal
verlassen und die Haiders, Hofers, Kickls und insbesonders Strache erweisen
dem ideologischen Erbe Norbert Burgers gefällig Ehre und Treue in
Österreich. Man könnte beinahe meinen, diese Ideologie der Niedertracht
setzt gerade zum globalen Triumphzug an und wird auch noch marschieren, wenn
alles in Scherben fällt - da kann auch ein Mund-Nasen-Schutz ein gutes
Vehikel sein.
Die kleinbäuerliche Struktur habe ich auch in Erinnerung. Und auch das Fassl
meines Großvaters, mit dem er ab und an die Felder besprüht hat. Ich solle
das nicht in den Mund stecken oder kosten, das wurde uns gesagt, weil es
giftig sei. Wie lange hatte ich Angst, als ich mir einmal die Finger
unabsichtlich ableckte mit diesem Zeug dran. Ich weiß nicht, was das für ein
Pestizid war, aber am Geruch könnte ich es heute jedenfalls noch erkennen.
Apropos Geruch! Auch einwandfrei und sofort könnte ich auch heute noch den
Geruch des Sozialismus bestimmen. Weil: Unsere Welt damals war überhaupt
nicht grenzenlos. Genau genommen war eine der schärfsten Grenzen der
Menschheitsgeschichte genau eine Autostunde von bei mir zuhause entfernt:
Der Eiserne Vorhang (und jenseits des Eisernen Vorhanges wurde von
Bratislava bis Wladiwostok mit dem selben übel riechenden Putzmittel
geputzt, deshalb die Geruchserkennung).
Für uns war der Vorhang nicht tragisch (im Gegensatz zu den Menschen auf der
anderen Seite) - es dauerte lange, bis Visa fertig ausgestellt waren. Ich
erinnere mich noch sehr gut an die Wartezeiten am Grenzübergang
Rattersdorf-Köszeg zwischen Österreich und Ungarn vor 1989. Und an die Angst
meiner Großmutter vor den grimmig dreinschauenden Kommunisten. Ich mochte
sie eigentlich: Um die Visaausfertigung zu beschleunigen, hatte meine
Großmutter immer Westzigaretten und Wrigley's Kaugummi offen auf der Armatur
liegen. Die bösen Kommunisten haben das Zeug dann bekommen, die Visa waren
ein bisschen schneller fertig und ohne dass es meine Großmutter bemerkt
hätte, haben wir auch einen Streifen Wrigley's von den Grenzern bekommen.
Das war in meiner Erinnerung immer ein lustiges Spielchen.
Meine Tochter ist heute in der Slowakei lebend übrigens auch von Migration
betroffen. Die zum Beispiel in Österreich arbeitenden Menschen aus dem
Gesundheitsbereich fehlen hier brutal. Individuell kann man den Menschen
nichts vorwerfen - die Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Slowakei sind im
Vergleich zu jenen Österreich einfach zu schlecht bzw. zu übel bezahlt. Was
heute Arbeitsmigration ist, gab es in anderer Form auch in meiner Kindheit.
Drüben in Österreich haben wir aber ohnehin davon profitiert. Wirklich? Ich
erinnere das anders. Wir hatten in unserer Schule Kinder "von drüben". Ich
kann mich erinnern, dass wir der Meinung waren, diese Kinder hätten
gestunken. Ein derartiger Geruch liegt mir aber heute nicht mehr in der
Nase. Im Alter von 9 Jahren habe ich mich dann schon oft mit jenen Kindern
angefreundet. Mit den einheimischen Kindern hatte ich seit jeher eher
Integrationsprobleme. Die Wahrheit ist eher, dass die meisten dieser Kinder
und deren Familien heilfroh waren, den Segnungen des Sozialismus entkommen
zu sein und Österreich nur eine Durchreisestation auf dem Weg in die USA,
nach Kanada oder Australien war. Und genau deswegen auch
Geruchsunstimmigkeiten in der Bevölkerung eher nicht nachhaltig nachgegangen
wurden. Das Klassenfoto von meinem letzten Jahr in der Volksschule, da sind
bei sechs "einheimischen" Kindern zwei Kinder drauf, wo ich glaube, eine
hieß Barbara und von der anderen weiß ich gar nicht mehr den Namen. Zu kurz
waren diese Kinder in unserer Schule. Das erste Mädchen in das ich wohl
kindlich naiv verliebt gewesen sein dürft, hat wohl Shila geheißen? Ich kann
mich nur sehr dunkel an sie erinnern, weil sie zu kurz an unserer Schule
weilte um vom Fotografen abgelichtet zu werden.
Und trotzdem hatten wir wohl eine im globalen und historischen Vergleich
grandiose Kindheit. Ich war Ministrant, und das aus guten Gründen. Nach
jedem mal ministrieren in einer katholischen Messe durften wir uns fünf
Zuckerl nehmen. Wir haben uns erstens immer mehr eingesteckt und zweitens
auch die Mentholzigaretten des Pfarrers, die sind offen in der Sakristei
herum gelegen, nicht verschmäht. Raus aus der Kirche und hinter dem
Gemeindeamt wurde gleich ordentlich gepafft und Lungenzüge geübt. Gesünderes
Essen kann schon sein, dass wir bekommen haben damals, aber dafür haben wir
schon in frühester Kindheit unsere Lungen perforiert.
Jedenfalls habe ich auch auf Begräbnissen ministriert. Und eine
einschneidende Erinnerung war das Begräbnis eines Säuglings. Ich weiß noch
den Namen der Familie und ich erinnere diese gebrochenen Gesichter. Bei
Begräbnissen von alten Menschen, da haben wir uns beinahe vor Fadesse die
Haare angezündet - das waren die Skandale damals in der Ortschaft. Aber die
Stimmung auf dem Säuglingsbegräbnis, die war von einem Kaliber, das mir auch
als Achtjährigem Ehrfurcht einflößte.
Die relative Unbeschwertheit meiner Kindheit und Jugend, einen größeren Teil
verdankt sie der Tatsache, dass wir Zugang zu sehr vielen Impfungen hatten.
Für Kinder ist es übrigens normal, auch neue Dinge als ewig gegeben
hinzunehmen, wenn diese ordentlich in den Alltag eingepackt sind. Da war bei
uns in der Schule die Sache mit dem bittersüß schmeckenden Würfelzucker. 20
Jahre nach der Einführung der Polio-Schluckimpfung waren wir wohl die erste
Generation, die diese Krankheit nur mehr aus furchtbaren Erzählungen unserer
Eltern kannte - Menschen mit Behinderungen wurden damals bekanntlich ja noch
besser versteckt als heute und in unserer Generation gab es praktisch keine
Todes- oder Krankheitsfälle mehr. Dazu kam noch das ganze Paket an Impfungen
gegen Masern, Mumps etc. Wir hatten also auch schon Zugang zu Impfungen
gegen diese Krankheiten, gegen deren Impfungen sich trotz wissenschaftlicher
Evidenz über ihren Nutzen heute noch Menschen wehren. Meist mit
Argumentationen wie frei, und toll und unbeschwert ihre Kindheit nicht war.
Und selbst wenn diese heutigen Erwachsenen gegen nichts geimpft wurden, dass
verdanken sie auch ihre Unbeschwertheit der Tatsache, dass eine maßgebliche
Anzahl der anderen geimpft wurde. Sonst würde auch meine Generation noch
eine größere Anzahl an Kinderbegräbnissen erinnern.
Es ist heute der 3. Jänner 2021. Wir sind mitten in einer Pandemie,
ausgelöst durch ein Virus, gegen welches es bis vor 2 Wochen keine
zugelassenen Impfstoffe gab. Russisches Roulette ohne die Wahl zu haben, ob
man es auch wirklich spielen will. Für ältere Menschen mit mehr Patronen in
der Trommel, für jüngere mit weniger. Russisches Roulette bleibt es. Mit
Stand heute sind bereits mehrere Millionen Menschen geimpft. Der Nutzen der
Impfung steht in keinem Vergleich zum Schaden, den das Virus anrichten kann.
Dass die Wissenschaft und ihre Ergebnisse im vollen Umfang wieder
vergesellschaftet und damit dem Profit entzogen werden müssen, das steht für
mich außer Frage. Genauso wie die Tatsache, uns die europäischen Regierungen
für eine ohnedies kaputte, tod- und leidbringende Wirtschaftsform am
Nasenring durch eine Propagandaarena führt, um von dieser Scheißwirtschaft
zu retten, was eben profitversprechend scheint. Dafür gehen sie über
Leichen, das ist heute bereits traurige Wahrheit.
Diese elendslangen Reminiszenzen aus der Kindheit etc., nein, die werden
mich nicht davon abhalten, mich impfen zu lassen. Ich kann sogar selber
welche schreiben. Ich kann auch denken, und ich lade alle Mitmenschen ein,
nicht nur verklärt in die eigene Kindheit und Jugend zurückzublicken. Die
Impfung selbst ist ein Segen. Und genau so wenig wird mich die Impfung aber
auch nicht davon abhalten, alles daran zu setzten auch jene ihrer
Verantwortung zuzuführen, die das gerade stattfindende "Fehlmanagment" nur
mehr mit unzähligen Propagandamaßnahmen zu kaschieren versuchen. Und ich
meine, dass diese Verantwortung mehr Nachdruck als nur an der Wahlurne
ausgedrückt erfordert.
(3.1.2020)
***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der nichtkommerziellen
Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd muessen aber nicht
wortidentisch mit den in der Papierausgabe veroeffentlichten sein. Nachdruck
von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete
Beitraege stehen in der Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von
Texten mit anderem Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine
anderweitige Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als
Abonnement verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann
den akin-pd per formlosen Mail an akin.redaktion@gmx.at abbestellen.
*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
postadresse a-1170 wien, lobenhauerngasse 35/2
redaktionsadresse: dreyhausenstraße 3, kellerlokal, 1140
vox: 0665 65 20 70 92
http://akin.mediaweb.at
blog: https://akinmagazin.wordpress.com/
facebook: https://www.facebook.com/akin.magazin
mail: akin.redaktion@gmx.at
bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
bank austria, zweck: akin
IBAN AT041200022310297600
BIC: BKAUATWW