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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 26. November 2020; 00:13
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Fremd/Polizei:
*Asylkoordination Österreich* et al.:
ÖFFENER BRIEF AN DIE BUNDESREGIERUNG
Sehr geehrte Frau Bundesministerin Dr.in Zadic, LL.M.!
Sehr geehrter Herr Bundesminister Nehammer, M.Sc.!
Sehr geehrter Herr Nationalratsabgeordneter Mag. Bürstmayr!
Sehr geehrter Herr Nationalratsabgeordneter Mahrer, B.A.!
Die Dokumentations- und Beratungsstelle Islamfeindlichkeit &
antimuslimischer Rassismus sowie alle Unterzeichnenden verurteilen den
Terroranschlag vom 2. November 2020 in Wien. Unser tiefstes Mitgefühl geht
an die Betroffenen und Hinterbliebenen des Anschlags. Gerade angesichts
einer solchen Tat ist gesellschaftlicher Zusammenhalt sowie das verstärkte
Bekenntnis zur Einhaltung der Grund- und Menschenrechte für alle wichtig.
Jedoch befürchten wir, in Anbetracht des am 11. November 2020 durch die
Regierung präsentierten "Anti-Terror-Paket" sowie der am 9. November 2020
durchgeführten "Operation Luxor", massive Einschränkungen der Grund- und
Freiheitsrechte aller Menschen in Österreich. Zudem befürchten wir eine
strukturelle Verankerung von antimuslimischem Rassismus.
Stärkung des pluralistischen Rechtsstaates statt Einschränkungen von
Menschenrechte
Bereits jetzt ist die Gesellschaft einem enormen Überwachungsdruck
ausgesetzt. Zudem hätte der Anschlag schon mit den derzeitigen juristischen
Möglichkeiten zur Überwachung von Gefährder*innen verhindert werden können.
Wir appellieren deshalb an Sie, keine Ausweitung bestehender
Überwachungsbefugnisse und Schaffung neuer Straftatbestände vorzunehmen,
sondern den Fokus auf eine umfassende und lückenlose Aufklärung des
Terroranschlags sowie des Behördenversagens zu legen. Nur eine umfassende
Aufarbeitung des im Raum stehenden Behördenversagens kann das Vertrauen in
die Institutionen wiederherstellen und ermöglichen, Lehren für die
Prävention solcher Anschläge zu ziehen.
Die jetzt geplanten Maßnahmen führen hingegen zu einer gesellschaftlichen,
politischen und rechtlichen Kriminalisierung von Muslim*innen. Viele s.g.
Vorbereitungshandlungen sind bereits jetzt strafbar. Wir befürchten deshalb,
dass die Einführung "Straftatbestände zur effektiven Bekämpfung des religiös
motivierten politischen Extremismus (politischer Islam)" zur Bestrafung von
Ideen und politischen Einstellungen, anstatt von tatsächlichen Handlungen
führen wird. Gleichzeitig bedeuten einige der vorgestellten
Gesetzesänderungen die Einschränkungen der Grund- und Freiheitsrechte aller
Menschen in Österreich.
Die vorgeschlagenen vorbeugenden Maßnahmen gegen "Täter eines Terrordelikts"
schaffen laut Rechtsexpert*innen Raum für willkürliche Eingriffe in die
Freiheit von Menschen. Wir finden es braucht evidenzbasierte und
ausfinanzierte Strategien zur Reintegration von haftentlassenen Personen. In
dem von der Nichtregierungsorganisation Südwind kürzlich herausgebrachten
"Aktionsplan zur Prävention von gewaltbereitem Extremismus in Österreich"
wird die soziale und arbeitsmarktorientierte Reintegration zur Prävention
der Rückfälligkeit besonders betont .
Unsere Forderungen sind daher:
1. Keine Einführung des Straftatbestands Politischer Islam: Es gibt keine
einheitlich wissenschaftlich anerkannte Definition des Begriffs "politischer
Islam". Da es ein Sammelbegriff für unterschiedliche Gruppen mit sich
unterscheidenden ideologischen Standpunkten ist. Folglich kann der geplante
Straftatbestand zu einer undifferenzierten, sogar unsachgemäßen Verwendung
des Begriffs führen. Dies birgt die Gefahr, dass alle Muslim*innen unter
Generalverdacht gestellt, von der Exekutive beobachtet, verfolgt und sogar
in ihrer Existenz bedroht werden können. Dies kommt einem
Gesinnungsstrafrecht gleich, gegen das wir eintreten.
2. Schutz vor Diskriminierung und Wahrung der Religionsfreiheit: Staatliche
Behörden sollen die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen,
dass die Freiheit der Religionsausübung aller Religionsgemeinschaften
vollständig und gleichberechtigt gewährleistet wird, ohne unter staatlicher
Beobachtung gestellt zu werden. Dies umfasst auch die Freiheit der
Organisierung des religiösen Lebens und freie Meinungsäußerung von
muslimischen Gemeinschaften.
Es braucht eine Sicherstellung und Bekennung von Seiten der
Bundesregierung und zuständigen Behörden, dass Strategien zur
Deradikalisierung und Bekämpfung des gewaltbereiten Extremismus den Schutz
vor Diskriminierung als auch das Recht auf Religionsfreiheit und freie
Meinungsäußerung von Muslim*innen gewährleisten.
3. Schutz vor Kriminalisierung: Zur Wahrung der Religionsfreiheit sollen
Strategien zur Prävention des gewaltbereitem Extremismus und zur
Deradikalisierung und Bekämpfung von Terrorismus folgendes berücksichtigen:
- Religiöse Bekleidung, Erscheinung und/oder Praktiken dürfen nicht als
Indikatoren für Radikalisierung verwendet werden.
- Die bloße Zugehörigkeit zum Islam, zu muslimischen Organisationen oder
Vereinigungen darf nicht als Auswahlkriterium für die Überwachung durch
staatliche Behörden und Sicherheitsdienste dienen.
- Muslimische Gebetsorte sollen nicht pauschal unter Generalverdacht
gestellt werden.
4.Geheimdienstkontrolle innerhalb des demokratischen Rechtsstaats: Es
braucht eine effektivere Kontrolle aller österreichischen Sicherheits- und
Nachrichtendienste gemäß internationalen Best-Practices. Teil davon ist ein
Ausbau parlamentarischer Kontrolle mit Auskunftspflicht der Dienste und
Straftatbeständen für Falschaussage vor diesem Kontrollgremium. Ein starker
Whistleblower Schutz ist notwendig, denn er garantiert, dass Missstände ans
Tageslicht kommen. Der Missbrauch von Ermittlungs- und Überwachungsmethoden
der Dienste muss als Straftatbestand normiert werden. Mit der Trennung von
polizeilichen und geheimdienstlichen Kompetenzen, muss zur Verhinderung von
intransparenten Machtzentren in beiden Bereichen ein konsequentes System der
richterlichen Kontrolle und Berichtspflicht eingeführt werden.
5. Regelmäßige externe Evaluierung von Strategien der Prävention von
gewaltbereitem Extremismus und Deradikalisierung sowie Strategien zur
Bekämpfung von Terrorismus in Hinblick auf Verfassungskonformität,
Zweckmäßigkeit, Wirksamkeit und Anti-Diskriminierung.
- Die Evaluierung sollte von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen in
Zusammenarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft, wie
antirassistischen Organisationen, Wissenschaftler*innen sowie
Religionsgemeinschaften durchgeführt werden.
- Die Ergebnisse einer solchen Evaluierung sollten dem Parlament vorgestellt
werden und für die Öffentlichkeit zugänglich sein.
6. Schaffung einer institutionell, funktionell und personell unabhängigen
Beschwerdestelle: Diese soll für Personen, deren Grund- und Freiheitsrechte
durch Strategien zur Prävention von gewaltbereitem Extremismus,
Deradikalisierung und Bekämpfung von Terrorismus verletzt wurden,
niederschwellige und wirksame Verfahrenshilfe anbieten.
7. Ausbau von Angebote und Anlaufstellen, bei denen Expert*innen
haftentlassene Personen, die wegen Terrorismus verurteilt und ihre
Freiheitsstrafe abgebüßt haben, bei der Reintegration unterstu?tzen.
8. Ausbau der Basisfinanzierung für zivilgesellschaftliche und
community-basierte Strategien gegen jede Form des Extremismus und
Ausgrenzung: Diese sollen in enger Zusammenarbeit mit Expert*innen aus den
Bereichen Soziale Arbeit, Bildung, Psychologie und Wissenschaft konzipiert
und durchgeführt werden.
9. Ausbau des Angebots der Jugend- und Sozialarbeit sowie der politischen
Bildung und Partizipation: Von Rassismus betroffenen Menschen in Österreich
muss eine gleichberechtigte und barrierefreie Beteiligung an demokratischen
politischen Prozessen ermöglichen werden, diese gibt vor allem Jugendlichen
Halt.
10. Verbot von staatlicher Spionagesoftware und staatlichem Hacking in
Österreich: Die Integrität informationstechnischer Systeme muss in einem
demokratischen Rechtsstaatlich gewahrt bleiben. Menschen- und Grundrechte
müssen auch im Kontext von moderner Technik gelten. Jeder Versuch,
IT-Systeme durch gezielte Angriffe oder implantierte Schwachstellen
abzuschwächen (Verschlüsselungsverbot), gefährdet die allgemeine
Sicherheit und das Vertrauen in Technik von der unsere Gesellschaft
und Wirtschaft heutzutage abhängt.
11. Die Aberkennung der österreichischen Staatsbürger*innenschaft kann nicht
Teil einer Bekämpfungsstrategie gegen Terrorismus sein. Zum einen gefährdet
der Entzug der Staatsbürger*innenschaft die internationale Zusammenarbeit im
Kampf gegen den Terrorismus. Gleichzeitig entzieht sich der Staat durch die
Ausbürgerung seiner Verantwortung, was zur Schwächung des Rechtsstaates
führt.
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