Kein Mitleid mit den Konzernen!
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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 18. November 2020; 14:10
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Kapitalismus/Recht:

> "Kein Mitleid mit den Konzernen!"

Die eidgenössische Volksinitiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen -
zum Schutz von Mensch und Umwelt» (verkürzt auch
Konzernverantwortungsinitiative, KOVI oder KVI genannt) fordert, dass
Konzerne mit Sitz in der Schweiz die Menschenrechte und internationale
Umweltstandards auch ausserhalb der Schweiz zu respektieren haben. Dazu
sollen Konzerne für Menschenrechtsverletzungen und die Missachtung
verbindlicher Umweltstandards haftbar gemacht werden; unabhängig davon, wo
die entsprechenden Handlungen vonstatten gingen.

Die Initiative kommt am 29. November 2020 zum Volksentscheid. Erste
Meinungsumfragen deuten auf eine parteiübergreifend hohe Zustimmung bei den
Schweizer Stimmbürgern hin. Am selben Tag findet auch der thematisch dazu
passende Volksentscheid über ein "Verbot der Finanzierung von
Kriegsmaterialproduzenten" statt. Damit soll es in der Schweiz verboten
werden, daß öffentliche Geldanlagen u.a. der Nationalbank und der
Pensionskassen in Rüstungskonzerne investiert werden.

Was es aber mit der Konzernverantwortungsinitiative auf sich hat und wie
internationales Zivilrecht überhaupt funktioniert erklärte die deutsche
Juristin *Miriam Saage-Maass* in einem Interview mit der WoZ:
*


WOZ: Frau Saage-Maass, Sie unterstützen Opfer von
Menschenrechtsverletzungen. Wenn Sie sich für eine Klage gegen einen Konzern
ein Land aussuchen könnten: Welches würden Sie wählen?

Miriam Saage-Maass: Zunächst würde es sich anbieten, nach Frankreich zu
gehen. Dort gibt es seit Anfang Jahr ein Gesetz, das «loi sur le devoir de
vigilance». Damit kann man gegen in Frankreich ansässige Konzerne klagen,
wenn sie ihren menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nicht gerecht werden.
Das Gesetz gilt für die gesamte Lieferkette eines Unternehmens. Der
französischen Rechtstradition entsprechend ist es knapp formuliert, die
konkrete Bedeutung wird die Auslegung durch die Gerichte zeigen. Ansonsten
würde ich es in Grossbritannien versuchen, weil dort die am besten
etablierte Rechtsprechung besteht: Konzerne haften auch für
Menschenrechtsverletzungen durch Tochterfirmen im Ausland.

WOZ: Und wenn in der Schweiz die Konzernverantwortungsinitiative (Kovi)
angenommen wird: Würden Sie dann künftig hier klagen?

Saage-Maass: Die Menschenrechtsorganisation ECCHR, für die ich arbeite, hat
sich schon mehrfach getraut, in der Schweiz zu klagen: erst kürzlich gegen
Syngenta wegen Pestizidvergiftung. Die Konzernverantwortungsinitiative
brächte aber natürlich neue Möglichkeiten. Die Schweiz geht damit im
internationalen Vergleich aber nicht am weitesten. Die Initiative beschränkt
sich auf die Haftung für Tochterfirmen und vom Mutterhaus kontrollierte
Unternehmen. Das ist zwar ein Schritt in die Lieferkette hinein, Frankreich
geht aber deutlich weiter. Auch ein Gesetz, das in Deutschland diskutiert
wird, betrifft die gesamte Lieferkette.

WOZ: Wie sieht es auf der EU-Ebene aus?

Saage-Maass: Dort beginnt gerade die Vernehmlassung zu einem entsprechenden
Gesetzesvorschlag der EU-Kommission. NGOs und Gewerkschaften haben ziemlich
weitreichende Forderungen: dass die Haftung verschuldensunabhängig gelten
muss. Damit würde der Konzern selbst dann für Schäden von Tochterfirmen oder
Zulieferern haften, wenn nur diese die Sorgfaltspflichten verletzt haben.
Eine Firma wie Nestlé würde also immer die Verantwortung tragen, auch wenn
sie selbst nichts falsch gemacht hat. Es würde genügen, dass die
Tochterfirma einen Schaden verursacht hat.

WOZ: Hiesige Wirtschaftsverbände warnen bei einer Annahme der Kovi vor einer
Klagewelle: Was sind die bisherigen Erfahrungen in Frankreich?

Saage-Maass: Diese Argumentation ist eine absolute Nebelpetarde. In
Frankreich gibt es bisher vier Verfahren, die sieben Unternehmen betreffen.
Man muss hier doch auch die Machtverhältnisse sehen: Es wird ja auch nach
einer Annahme der Initiative nicht so sein, dass eine kongolesische Bäuerin,
deren Ernte wegen einer Umweltverschmutzung verloren gegangen ist, das
Branchenbuch von Zürich öffnen und sich einen Anwalt suchen kann. Die
Betroffenen werden nach wie vor in einer unglaublich schwachen Position
sein, logistisch wie finanziell. Bis sie in der Schweiz mit all den hohen
Beweisstandards klagen können, braucht es sehr viel. Auch die Kosten
sprechen übrigens nicht unbedingt dafür, in der Schweiz eine Klage
einzureichen.

WOZ: Am Schluss schützt also der Wechselkurs die Schweizer Konzerne?

Saage-Maass: Das Gesetz soll ja vor allem präventiv wirken und dazu führen,
dass Konzerne ihre Geschäftsstandards verbessern - damit es gar nicht erst
zu Klagen kommt. Ich halte es für ein Armutszeugnis, wenn die Wirtschaft
behauptet, ihr Geschäftsmodell würde mit der Initiative infrage gestellt und
es drohten gigantische Einbussen. Das würde ja bedeuten, dass sie ihr
Geschäft nur machen können, wenn sie Menschenrechte verletzen.

WOZ: Sie prägen mit dem ECCHR die Diskussion über die Verantwortung von
Unternehmen mit. Für viel Aufsehen sorgte Ihre Klage gegen den deutschen
Textildiscounter Kik wegen eines Brandes mit über 250 Toten in Pakistan. Wie
sind Sie vorgegangen?

Saage-Maass: Der Brand ereignete sich im Jahr 2012 in einer Produktionsfirma
von Kik in Karachi. Die Ursache des Brandes ist nicht geklärt, verschiedene
Gutachten haben aber belegt, dass es nicht genug Notausgänge und andere
Brandschutzmassnahmen gab, weshalb sich die Menschen nicht aus dem Gebäude
retten konnten. Mit Gewerkschaften und der Betroffenenorganisation haben wir
dann vier Kläger benannt, die vor das zuständige Landgericht in Dortmund
zogen, wo Kik seinen Hauptsitz hat, und Schadensersatz nach pakistanischem
Recht forderten. Der Fall ist wegen der pakistanischen Verjährungsfrist nie
entschieden worden. Nach geltendem Recht hätten wir die Klage wohl nicht
gewonnen. Aber viele Beteiligte haben genau das als ungerecht empfunden:
dass in so einem Fall keine Haftung übernommen werden muss.

WOZ: Warum haben Sie nicht in Pakistan geklagt?

Saage-Maass: Die Produktionsfirma produzierte zwar fast ausschliesslich für
Kik, wurde also von ihr wirtschaftlich kontrolliert. Weil Kik selbst aber
keine offizielle Präsenz in Pakistan hat, haben die dortigen Gerichte auch
keine Jurisdiktion über die Firma. Selbstverständlich haben wir auch
Verfahren in Pakistan unterstützt: gegen die für den Brandschutz
verantwortlichen Regierungsbehörden oder den Fabrikbesitzer.

WOZ: Ein Landgericht in Dortmund musste also mit pakistanischem Recht
urteilen. Genau diese komplizierte Konstellation wird von der Gegnerschaft
der Kovi im Abstimmungskampf gerne kritisiert. Klingt wie ein einleuchtendes
Argument.

Saage-Maass: Nein, denn es gehört heute schon zum täglichen Brot von
Zivilgerichten, mit ausländischem Recht zu argumentieren. Wenn ich in
Marokko einen Autounfall habe, bei dem eine Französin zu Schaden kommt,
verklagt sie mich an meinem Wohnort in Berlin auf Schadensersatz - und das
Gericht in Berlin muss marokkanisches Verkehrsrecht anwenden. Wichtig zu
verstehen ist der Unterschied, dass nur die Frage des Anspruchs auf
Schadensersatz nach dem ausländischen Recht geklärt wird. Die Haftung wird
dann nach dem Recht des Landes beurteilt, in dem die Klage eingereicht
wurde. Im Fall der Konzernverantwortungsinitiative würde die Haftung also
nach Schweizer Recht geprüft.

WOZ: Ein weiteres Argument gegen die Initiative lautet, dass ein Unternehmen
unmöglich die gesamte Lieferkette überwachen kann.

Saage-Maass: Die Unternehmen haben sich im Gegenteil die letzten Jahrzehnte
darin geübt, ihre Produktion weltweit auszulagern. Globale Lieferketten sind
menschen- und konzerngemacht und nicht natürlich gewachsen. Sie wurden von
jenen Konzernen geschaffen, die jetzt behaupten, sie nicht kontrollieren zu
können. Bei technischen Details kann ein Automobilkonzern jede Schraube
überprüfen, damit sie den technischen Standards entspricht. Jede Schraube
wird also besser kontrolliert als die Menschenrechte. Wenn Glencore den
Abbau von Koltan im Kongo problemlos organisieren kann - warum soll der
Konzern dann nicht auch die Einhaltung der Menschenrechte garantieren
können? Vermutlich fehlt einigen Firmen im Moment das entsprechende
Know-how, aber das können sie sich ja aneignen. Wir sollten bloss kein
Mitleid mit den Konzernen haben, wenn sie damit überfordert sind. Sie haben
in den letzten Jahrzehnten massiv von der Globalisierung profitiert - jetzt
ist es an der Zeit, etwas zurückzugeben.

WOZ: Sie haben ausgeführt, dass die Frage nach der Haftung von Konzernen
international diskutiert wird. Wo liegt eigentlich der Anfang dieser
Entwicklung?

Saage-Maass: Die Bestrebungen, transnationale Konzerne in ihren globalen
Tätigkeiten zu regulieren, sind seit den siebziger Jahren auf der
politischen Agenda der Uno, scheiterten aber in verschiedenen Anläufen immer
wieder. 2011 wurden dann vor dem Menschenrechtsrat die sogenannten
Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verabschiedet. Sie geben
den internationalen Konsens wieder, wonach primär Staaten zur Wahrung der
Menschenrechte verpflichtet sind. Demnach haben aber auch Unternehmen selbst
menschenrechtliche Sorgfaltspflichten. Ein weiteres Uno-Prinzip lautet, dass
Betroffene von Menschenrechtsverletzungen, an denen Konzerne beteiligt sind,
Zugang zu Recht brauchen und allenfalls Entschädigungen erhalten. Die
Prinzipien sind kein völkerrechtlicher Vertrag, aber verbindliches Soft Law.
Sie müssen jetzt auf nationaler oder EU-Ebene umgesetzt werden. Deshalb gibt
es im Moment die zahlreichen Gesetzesdiskussionen in den verschiedenen
Ländern.

WOZ: Kann man sagen, dass es bei diesem Prozess um eine Verrechtlichung der
Globalisierung für die Rechte der Beschäftigten geht?

Saage-Maass: Genau. Die Globalisierung von Wirtschaftsinteressen ist bereits
umfassend verrechtlicht und wunderbar juristisch abgesichert. Entgegen der
neoliberalen Dogmatik, wonach es möglichst wenig Regulierung braucht, wurde
das transnationale Wirtschaften in den letzten Jahrzehnten durch Recht und
Regularien erst strukturiert, organisiert und damit ermöglicht: durch
Freihandelsabkommen und bilaterale Investitionsschutzabkommen auf
internationaler Ebene und über das Gesellschafts- und Vertragsrecht auf
nationaler. Was aber noch nicht abgesichert ist, sind die Interessen von
Betroffenen, also soziale und ökonomische Rechte und Rechte der Natur oder
Umweltstandards.

WOZ: Genügt es, diese grundsätzlichen Standards durchzusetzen? Die
Rohstoffkonzerne nehmen beispielsweise im Kongo vor allem über die
Steuerpolitik und über Korruption Einfluss.

Saage-Maass: Bei der Korruption gibt es schon ein recht ausgefeiltes Recht,
gegen Glencore laufen entsprechende Verfahren. Im Bereich von - häufig auch
legaler - Steuervermeidung müsste man sich hingegen Gedanken machen.
Schliesslich profitieren Unternehmen enorm von der Verrechtlichung.
Professorin Katharina Pistor von der Columbia Law School hat in ihrem Buch
«The Code of Capital» wunderbar aufgezeigt, wie gerade die Anwälte in diesen
ganzen Grosskanzleien Steuervermeidungsstrategien organisieren. Dazu braucht
es ein Gegengewicht.

WOZ: Genügt das Recht als Waffe - oder bräuchte es nicht vielmehr eine
politische Veränderung? Nur weil der Kapitalismus etwas gerechter wird,
ändert sich ja wenig an seiner Profitlogik.

Saage-Maass: Ich denke, wir kommen nicht darum herum, uns des Rechts zu
bedienen. Schliesslich wird die Ungerechtigkeit des Kapitalismus auch über
das Recht organisiert und abgesichert. Für ein neues Recht braucht es aber
immer den politischen Willen - Recht und Politik sind keine getrennten
Bereiche.

WOZ: In die Zukunft gefragt: Was wäre Ihre utopische Vorstellung, wohin sich
das Recht entwickeln müsste, über die Kovi hinaus?

Saage-Maass: Man kann sich auf die Katastrophen konzentrieren - die
Fabrikbrände oder krassen Minenunfälle -, aber eigentlich geht es um die
Frage, was Verantwortung in globalen Zusammenhängen bedeutet. Die Klimakrise
verdeutlicht, dass wir an die planetarischen Grenzen stossen; die stetig
zunehmende soziale Ungleichheit stellt uns vor die dringende Frage, wie das
Recht auf soziale Sicherung weltweit gewährleistet werden kann. Das aktuelle
Recht ist nicht auf eine globale Verantwortung angelegt - wir müssen es
deshalb anders und neu denken.
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Das Interview führten *Anna Jikhareva* und *Kaspar Surber* (Woz Nr. 46,
12.11.2020).

https://www.woz.ch/2046/internationaler-vergleich/kein-mitleid-mit-den-konzernen


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