Ukraine: Hexenjagd
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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 21. Oktober 2020; 23:18
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Ukraine:

> Hexenjagd

Von *Jürgen Kräftner*, Europäisches BürgerInnenforum Ukraine

Vor dem Hintergrund des Krieges im Donbas haben sich die ukrainische
Gesellschaft und die öffentliche Diskussionskultur in den letzten Jahren
verändert. Kürzlich mussten wir schmerzlich erfahren, wie stark sich Hass
und Intoleranz gegenüber vermeintlichen «Verräter·inne·n» sogar in
intellektuellen Kreisen verbreitet haben.

Die Ukraine ist seit sechs Jahren im Donbas in einen Krieg mit von Russland
unterstützten Separatisten verwickelt. Beinahe täglich sterben Menschen.
Millionen sind aus den besetzten Gebieten und der Konfliktzone in andere
Teile der Ukraine geflüchtet, andere überleben in prekären Verhältnissen
nahe der Demarkationslinie. Der kriegerischen und patriotischen Rhetorik des
ehemaligen Präsidenten - und Oligarchen - Petro Poroschenko (2014 - 2019)
hat das Wahlvolk im vergangenen Jahr eine klare Absage erteilt. Die ersten
Monate der Präsidentschaft Selenskyjs brachten zwei wichtige
Gefangenenaustausche und einen Normandie-Gipfel mit Putin, Merkel und
Macron. Seither sind die Friedensbemühungen ins Stocken geraten, die Ende
Juli ausgerufene Waffenruhe wird, ähnlich wie frühere Versuche, nicht
eingehalten. Selenskyjs zweites Regierungsjahr lässt keinen Zweifel daran,
dass sich die Ukraine erneut in einer Periode politischer Stagnation
befindet.

Verbot

Die 1987 in Wolgograd (Russische Föderation) geborene Journalistin Kateryna
Sergatskova lebt seit 2008 in der Ukraine, 2015 erlangte sie die ukrainische
Staatsbürgerschaft. Für ihre Reportagen hat sie mehrere internationale
Auszeichnungen erhalten. 2018 gründete sie mit einigen Kolleg·inn·en eine
unabhängige Internet-Plattform mit dem programmatischen Namen «Zaborona»
(Verbot). Zaborona greift tabuisierte gesellschaftliche Fragen auf und
interessiert sich für marginalisierte Teile der Bevölkerung. Damit erfüllt
sie zu Zeiten des verschärften Freund-Feind-Denkens eine Lücke, wird aber
auch sehr angefeindet. Am 13. Juli musste Sergatskova mit ihren beiden noch
nicht schulpflichtigen Kindern und ihrem Mann nach Morddrohungen die Ukraine
fluchtartig verlassen. Diese Eskalation hatte mit einem Artikel über den
russischen Staatsbürger Denis Nikitin am 2. Juni begonnen. Nikitin war 2001
im Alter von 17 Jahren mit seinen Eltern nach Köln emigriert und hat sich
dort einer Hooligan-Gruppe angeschlossen. Inzwischen ist er in der
internationalen rechtsextremen Szene einflussreich und hat mit seinem
Netzwerk White Rex gute Verbindungen zur NPD in Deutschland und zur PNOS
(Partei National Orientierter Schweizer) in der Schweiz. Seit 2017 lebt er
in der Ukraine. Anfang dieses Jahres wurde ihm die Einreise in die
Schengenzone verboten. Die Verbindungen russischer und ukrainischer
RechtsextremistInnen sind an sich nichts Neues, aber sie stehen natürlich im
Widerspruch zum martialisch-antirussischen Diskurs der ukrainischen
NationalistInnen. Am Tag nach der Veröffentlichung bemerkte die Redaktion
von Zaborona, dass die Reportage über Nikitin ohne Erklärung von ihrer
Facebook-Seite verschwunden war, das Profil der zuständigen Redakteurin und
die Monetarisierung waren blockiert. Nach mehreren Nachfragen entschuldigte
sich die Moderation von Facebook und erklärte, der Beitrag sei irrtümlich
gesperrt worden. Am folgenden Tag war der Beitrag wieder zu sehen. Wie der
Irrtum passiert ist, blieb aber bisher unerklärt.

StopFake

Von dem Moment an begann Zaborona sich dafür zu interessieren, wer für die
Kontrolle der ukrainischsprachigen Inhalte auf Facebook zuständig ist und
stiess dabei auf «StopFake«. StopFake wurde 2014 von Kiewer
Publizistik-Student·inn·en gegründet, in erster Linie um manipulative,
anti-ukrainische Propaganda aufzudecken. Seit Ende März 2020 kooperiert
StopFake mit Facebook in der Aufdeckung von Manipulation und Desinformation.
StopFake wird von zahlreichen internationalen staatlichen und
nichtstaatlichen Organisationen unterstützt, darunter der Soros-Stiftung. Es
passt allerdings schlecht zu diesem guten internationalen Image, dass der
Chefredakteur und der für die englischsprachigen Publikationen von StopFake
zuständige Redakteur ihre Sympathie für Anhänger·innen der White Supremacy
und zu Holocaust-Leugner·inne·n immer wieder öffentlich zur Schau gestellt
haben. Am 3. Juli veröffentlichte Zaborona einen ausführlichen Artikel mit
zahlreichen Fotos über StopFake und deren Verbindungen zur Naziszene. Die
Reaktionen waren heftig. StopFake schrieb von Rufmord und pro-russischer
Propaganda, was angesichts der Furcht um den Verlust der internationalen
Sponsor·inn·en durchaus verständlich ist. In den sozialen Netzwerken nahmen
die Angriffe rasch einen persönlichen Charakter an. Sergatskova wurde, in
Hinblick auf ihre Abstammung, als russische Agentin verunglimpft. Aber auch
zahlreiche Intellektuelle stellten in Frage, ob Zaborona das Recht habe, die
Nazi-Verbindungen von StopFake anzuprangern.

Morddrohungen

Am 11. Juli nahm diese vorwiegend in den sozialen Netzwerken geführte
Diskussion eine brutale Wendung. Ein Blogger mit über 130'000 Followers
beschimpfte Sergatskova in seinem Beitrag unflätig, nannte sie eine
russische Agentin und schlechte Mutter, die so schnell wie möglich aus dem
Land gejagt werden sollte. Er fügte Fotos mit ihrem fünfjährigen Sohn und
ihrem vermeintlichen Wohnsitz ein. Dies führte zu einer Welle von
Morddrohungen. Zwei Tage danach brachte sich Sergatskova mit ihrer Familie
im Ausland in Sicherheit. Daraufhin solidarisierten sich mehrere
internationale Organisationen und einige ukrainische Medienvertreter·innen
mit Sergatskova und verlangten, dass die Sicherheit der Journalistin und
ihrer Familie gewährleistet würde und dass die Justiz auf die Anzeige
Sergatskovas gegen den erwähnten Blogger eintreten sollte, was diese binnen
eines Monats nicht getan hatte. Der deutsche Medienexperte Christian-Zsolt
Varga vom internationalen Journalist·inn·en-Netzwerk n-ost machte auf eine
weitere Nuance aufmerksam, die diese Geschichte enthüllte. «Wenn es um
Qualitätsjournalismus geht, kann man die Probleme im eigenen Land nicht nur
deshalb ignorieren, weil sie der russischen Propaganda in die Hände spielen
können», sagte Varga gegenüber der Deutschen Welle.

Nicht «richtig» denken

Viele europäische Länder haben mit rechtsextremen Gruppen zu kämpfen, aber
Kritiker·innen sagen, dass sie in der Ukraine zu sehr toleriert werden, weil
sie mit dem intellektuellen Mainstream des Landes einen gemeinsamen Feind
haben: Russland. Die Vorstellung, dass die Ukraine ein rechtsextremes
Problem hat, wird wiederum durch die russische Staatspropaganda verstärkt
und verzerrt, welche die Maidan-Revolution der Ukraine im Jahr 2014 oft
fälschlicherweise als faschistischen Putsch bezeichnet. Nach mehreren Wochen
des Schweigens äusserte sich die Betroffene Anfang August 2020 selbst zu den
Vorfällen:

«...Die unangenehmste und sogar schrecklichste Beobachtung ist, dass wir
noch im Jahr 2016 ausschliesslich von Marginalen und Verrückten beschuldigt
wurden, 'für den Kreml zu arbeiten'; heute wird uns diese Etikette auch von
intelligenten, klugen Menschen angehängt. Allein der Gedanke, dass das
Ansprechen komplexer, kontroverser Themen sowie Kritik bedeutet, dem Feind
zu helfen, legitimiert die Entmenschlichung und erlaubt, Gewalt zuzulassen.
Der Teufel beginnt mit Schaum auf den Lippen eines Engels, der für eine
heilige, gerechte Sache in den Kampf gezogen ist. Heute geschieht es aus
irgendeinem Grund so: Wenn Sie etwas gegen den Wind sagen, wird man Ihnen
auf jeden Fall sagen, dass Sie nicht richtig denken. Denn unter den
Bedingungen des Krieges sollte man bestimmte Gedanken nicht zulassen. Wenn
Du dieses Prinzip einmal akzeptiert hast, wirst Du es wieder und wieder
akzeptieren. Es gibt einen Filter in Dir, der Deine Meinung filtert, bevor
Du sie öffentlich kundtust. Und Du wirst jeden Gedanken bearbeiten, und Dich
fragen, ob er jemand nicht passen könnte und zögern, und denken, vielleicht
habe ich wirklich falsch gedacht. Und dann findet man sich in einer
Gesellschaft wieder, in der niemand sagt, was er denkt. Wo ernsthafte,
gefährliche Fragen mit Sarkasmus ausgedrückt werden. Gewalt wird alltäglich.
Für mich ist das wichtigste Kennzeichen der Freiheit, über alles in
Sicherheit reden zu können. Nachdenken, diskutieren und kritisieren, Alle
und Alles. Niemand hat das Monopol darauf, Recht zu haben. Der sichere Raum
für solche Diskussionen ist (bei uns) praktisch verloren. Deshalb wird
Zaborona weiterhin an komplexen Themen arbeiten. Wir werden schreiben,
worüber andere schweigen. Über unbequeme und unangenehme Dinge sprechen -
damit wir uns am Ende zum Besseren verändern und der Hass nicht länger
unsere Zukunft bestimmt.»

(19.09.2020, aus Archipel 295)


https://forumcivique.org/artikel/ukraine-hexenjagd



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