Nachruf: Mariane Ruth Seymann 1942-2020
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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 21. Oktober 2020; 23:21
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Nachruf:

> Mariane Ruth Seymann 1942-2020

Trauerrede von Sonja Frank auf ihre Mutter


Wir verabschieden uns von unserer Mutter, Großmutter, Schwiegermutter,
Cousine und Freundin, Ruth Seymann, die am 12. Oktober 2020 an Covid19 im
79. Lebensjahr verstarb. 

Meine Mutter Ruth Seymann kam als Kind von Fanni und Ludwig Grossmann in
England auf die Welt. Ihre Eltern waren beide kommunistische
Widerstandskämpfer in Österreich und in England.

Ihre Mutter Fanni Grossmann verlor als Achtzehnjährige wegen der Nazis ihren
Posten als Schneiderin in Wien. Ludwig Grossmann war Elektriker und
überlebte wie sein Bruder Czibi die KZs Dachau und Buchenwald. Fanni und die
Brüder Grossmann konnten sich rechtzeitig vor Kriegsausbruch nach England
retten, im Unterschied zu Jura Soyfer. Die Begegnung mit Soyfer und die
KZ-Haft blieb den Grossmanns zeitlebens im Gedächtnis.

Ruths Eltern lernten sich mitten im Krieg in der antifaschistischen
Organisation Young Austria in London näher kennen und lieben. In England
wirkten sie mit ihren Freunden weiter gegen die Nazis. Ludwig und Fanni
arbeiteten in britischen kriegswichtigen Betrieben.

Meine Mutter soll gleich in der Hochzeitsnacht im Juni 1941 gezeugt worden
sein und sie wurde am 21. Februar 1942 in Prestbury in der Nähe von
Manchester geboren. Sie hatte daher auch die britische Staatsbürgerschaft
und erhielt den Namen Mariane Ruth Grossmann. Dieser Name wurde später von
ihrer Volksschullehrerin kritisiert: Gleich zwei Schreibfehler: Grossmann
ohne scharfen s, und der erste Vorname ohne zweitem n. Dieser Vorname war
aber eine Idee von Fanni.

Ruths Großmutter, Gisela Landesmann, konnte sich knapp vor Kriegsbeginn mit
Hilfe ihrer Tochter retten. Gisela kam als Köchin in den gleichen Haushalt,
wo Fanni bereits als Dienst- und Kindermädchen tätig war. Ruths Großmutter
war der einzige überlebende Großelternteil. Fast alle anderen
Familienangehörige waren Shoah-Opfer. Daher nahmen alle überlebenden
Verwandten eine wichtige Rolle in Ruths Leben ein. Die Depressionen ihres
Vaters wegen der KZ-Erlebnisse machte ihn, wie viele der Gefährten,
zeitweise sprachlos, gerade deswegen kämpften ihre Eltern für ein besseres
Leben auf politischer Ebene.

Im November 1946 war die Familie Grossmann nach etwa sieben Jahren Exilzeit
mit ihrer mittlerweile viereinhalbjährigen Tochter nach Wien zurückgekehrt.
Sie unterstützten den antifaschistischen Kampf der KPÖ weiter. Sie setzten
sich wegen der Erlebnisse im Faschismus für ihre Mitmenschen ein und hofften
auf ein gerechteres Leben.

Ruths Großmutter wollte nicht ins Land der Mörder ihres Ehemannes
zurückkehren und versuchte anfangs ein Leben bei Verwandten in Amerika. Doch
die Sehnsucht nach der kleinen Enkelin veranlasste sie doch nach Wien
zurückzukehren.

Als Ruths Mutter wieder arbeiten ging, wurde sie von einer Kindergärtnerin
stolz herumgetragen: "Ein englisches Kind, ein englisches Kind". Doch sie
lernte rasch Wienerisch - zum Entsetzen ihrer Großmutter und Tante Jaffa.
Tante Jaffa, die Schwester von Ludwig und Czibi, blieb im Unterschied zu den
beiden Brüdern in London. Jaffa war Alleinerziehende ihres Sohnes Ronnie und
dann verärgert, dass die KPÖ es geschafft hatte, ihre Brüder nach Wien zu
locken. Doch gegenseitige Kurzbesuche und Briefverkehr hielten die Familie
zusammen.

Ruth hatte mit ihren Tanten und Cousins in Wien und London ein innige
Verbundenheit, sowie zu ihrer besten Freundin Lilli Heitler (heute Kolisch),
die auch im britischen Exil geboren wurde. Bei einer Reise bald nach dem
Krieg in ihr Geburtsland hatte Ruth ihre Englischkenntnisse beinahe verlernt
und rief im Doppeldeckerautobus in London im stärksten Wiener Dialekt: Aufi
wülli, aufi wülli! Zum Entsetzen ihrer Großmutter und ihrer Tante Jaffa.
Erst im Gymnasium lernte Ruth wieder Englisch zur Freude ihrer Tante und
ihres Cousins Ronnie.

Ruth studierte Pharmazie und lernte als Mitglied der Freien Österreichischen
Jugend ihren Ehemann Ernst Seymann kennen, der später im Atominstitut bis
zur Pensionierung Programmierer bzw. Software-Analytiker war.

Ruth war auf den antifaschistischen Kampf ihrer Eltern und Großonkel Czibi
Grossmann stolz. Czibi hatte als Soldat in der britischen Armee für ein
demokratisches und freies Österreich gekämpft, und seine Ehefrau Herta
wirkte in der britischen Kriegsindustrie gegen Hitler. Als Ruth 1962
erstmals schwanger war, war ihre Tante Herta mit Sohn Heinz ebenso
schwanger. Tante und Nichte kamen sich in dieser Zeit hilfreich näher.

Ruths Mutter stand aber immer im Mittelpunkt ihres Lebens. Sie war eine
immens aktive Frau: als Betriebsrätin, als Kommunistin und später auch als
Zeitzeugin für historische Dokumentationen. Sie hatte Ruths Maturazeit
erfolgreich begleitet. Zum Bedauern der Familie fand das Studium aber sein
vorzeitiges Ende. Der Grund war die Geburt von zwei Kindern. Ruth wurde
erstmals Mutter mit 21 Jahren, als ich 1963 auf die Welt kam, und zwei Jahre
später kam Martin auf Welt.

Bald nach dem Verlust ihrer Großmutter erkrankte meine Mutter das erste Mal
ernsthaft. Es hieß sie sei schizophren, später manisch-depressiv und sie
musste schwere Medikamente einnehmen. In den 1970er und Anfang der 2000er
Jahren erhielt sich auch Elektroschocks. Sie musste an Brustkrebs operiert
werden, der Krebs brach heuer wieder aus. Viele Jahre war sie immer wieder
psychisch krank, besonders die letzten Jahre, doch sie hatte auch glückliche
Zeiten. Wie z.B. als FÖJlerin am Neufeldersee, wo sie gerne Tischtennis mit
Gleichgesinnten spielte oder mit ihnen Ausflüge unternahm. Auch die letzten
Jahre im Maimonides-Zentrum gab ihr dieses Spiel viel Lebensfreude trotz
Nierenerkrankung. Sie freute sich auch über das letzte große
Geburtstagsfest, als ich viele ihrer Jugendfreunde einlud, auch wenn sie
etwas früher müde die Runde verließ.

Die Hilfsbereitschaft meiner Großeltern beeindruckte jeden, doch Ruths
Eltern waren in gewisser Weise auch zerrissen und fühlten sich schuldig,
Überlebende der Shoah zu sein und nicht genügend Zeit für ihre Tochter
gehabt zu haben, weil die KPÖ-Arbeit ungefähr gleich viel Zeit einnahm wie
das Familienleben. Ruth bekam daher besonders als psychisch erkrankte Mutter
von ihren Eltern enorme Hilfe für viele Belange. Sie waren als Großeltern
auf ihre Enkelkinder stolz und agierten als wären diese ihre eigenen Kinder.

Konflikte zwischen meinen Großeltern führten zu keiner Scheidung, denn ihr
antifaschistischer Kampf hatte sie innig zusammengeschweißt. Doch das
Studentenehepaar Ruth und Ernst ließ sich scheiden als Martin seine
Schullaufbahn noch nicht beendet hatte. Die Ehe war zu jung geschlossen und
scheiterte großteils an Ruths psychischer Krankheit.

Ruth hatte von ihren Eltern und ihren "roten Tanten, roten Onkeln, roten
Großtanten und ihrem Onkel Gustav Berg" ein Leben vorgeführt bekommen "immer
hilfsbereit zu sein", so nahm sie, solange sie gesunde Lebensphasen hatte,
auch diese Rolle ein.

Sie bestrickte die Familie mit Pullis, Hauben und Handschuhen. Meine
Kreativität förderte sie indem sie mir vorschlug, die Künstlerische
Volkshochschule zu besuchen. Ruth liebte Gedichtbände, Theater, Wandern und
Ping-Pong-Spielen. Ihre Hobbies teilte sie auch mit ihrer älteren Enkelin
Angelika, meiner Tochter, die 1989 auf die Welt kam. Als stolze junge
Großmutter nahm sie Angelika ins Theater der Jugend und später ins Theater
an der Wien mit. Solange sie gesund war, nahm sie bei Urlauben in der
Steiermark auch ihr zweites Enkelkind, meine Tochter Alice mit, häufig mit
den Eltern.

2004 versagten ihre Nieren bedingt durch Medikamente, die sie nun
jahrzehntelang eingenommen hatte. 2006 war Blutwäsche 3 Mal die Woche
notwendig. Als wenige Jahre später ihr drittes Enkelkind Zippi auf die Welt
kam, konnte sie keine Omapflichten mehr übernehmen und ihr viertes Enkelkind
Gitta, konnte sie noch am Foto sehen. 2006 verstarb ihr Vater, drei Jahre
später ihre Mutter, die heuer ihren 100. Geburtstag gehabt hätte. Vierzehn
Tage nach diesem Tag, am 16. September, war sie bei uns das letzte Mal im
Garten und genoss den schönen Spätsommertag.

Ruth liebte ihre Mutter als tatkräftig Frau und ihren Vater für seine ruhige
und unaufdringliche Art und bewunderte deren Einsatz für ihre Kolleg/innen
als Betriebsräte. Trotz aller schlimmen Dinge, die ihr Vater erlebt hatte,
wie seine KZ-Inhaftierungen, war kein Hass bei ihm zu spüren, doch die
Geschichte sollte bewahrt bleiben. Ruth verstand seinen unermüdlichen
Sammeltrieb über den Holocaust, zum Teil für das Dokumentationsarchiv des
Österreichischen Widerstandes. Die Themen Wiederaufbauphase, die
Geschichtsaufarbeitung und die Verdrängung der NS-Zeit beschäftigte ihn.
Knapp vor seinem Tod bat Ludwig, dass wir - seine Enkel - seine große
Sammlung aufarbeiten sollen. Als ich diese Aufgabe nach Fannis Tod ab 2009
übernahm, freute sich Ruth, dass ich nicht verdränge, sondern unsere
Geschichte der Familie und Freunde nicht in Vergessenheit geraten lasse. Und
Ruth trug auch Erinnerungen für meine Dokumentationen bzw. Publikationen
bei.

Lange konnte ich die Krankheit meiner Mutter und die Einnahme von so vielen
Medikamenten nicht akzeptieren, erst nach der Geschichtsaufarbeitung fand
ich Verständnis.

Ruths Fähigkeit gut zu zuhören und mich als Teenagerin zu unterstützen als
wäre ich ihre Freundin rechne ich hier hoch an. Auch dass sie uns schulisch
förderte und dass, sie trotz Krankheiten sich Hilfe von ihren Verwandten
einholte. Zur Hilfe eilte auch ihre Tante Selma Steinmetz in den 1970er
Jahren. Tante Selma wollte Lehrerin werden, musste aber vor den
Austrofaschisten bzw. vor den deutschen Faschisten fliehen, wie ihre
Schwestern Berthe Tardos und Gundl Herrnstadt-Steinmetz. Die drei Schwestern
kämpften später in der Resistance gegen Hitler.

Viele Erzählungen meiner Mutter über die Familie und ihre Solidarität zu
Migranten in Österreich waren mir eine Schule. Diese Solidarität hat in
meinem Leben einen großen Stellenwert! Auch ihrem Leben trotz häufiger
Krankheitsphasen immer wieder Freude abzugewinnen bleibt bewundernswert.

Sieben Jahre lebte sie mit Yaser Celik eine innige und glückliche Beziehung,
die lediglich durch seinen Kinderwunsch ein Ende fand. Sie verbrachte schöne
Jahre mit ihm und wurde von seiner in der Türkei lebenden Familie
akzeptiert, obwohl sie Jüdin war und er Muslim. Religion spielte bei Ruth
weniger Rolle als die politische soziale Haltung. Unser leider
ausländerfeindliches Österreich sollte von solchen glücklichen Beispielen
mehr lernen.

Ruth wechselte krankheitsbedingt häufig ihre Jobs. So arbeitete sie in
einigen Apotheken Wiens als Apothekenhelferin und als Sekretärin in der
Zentralsparkasse in der Erdbergstraße, wo sie in der Nähe am
Kardinal-Nagel-Platz wohnte. Ruth hegte gegen niemanden Vorbehalte,
ausgenommen gegen jene, die Andere verachten. Als Yaser einmal sein
Gehaltskonto kurzfristig überziehen wollte und ihm das verweigert wurde,
regte sie sich fuchsteufelswild in der Bankfiliale auf: Wenn ein
Österreicher oder ein Brite hier früher sein Geld will, bekommt er das, aber
nur weil er ein Türke ist, verweigern sie das. Ihr lauter Protest hatte
seine Wirkung und Yaser bekam sein Geld.

Ruth und Yaser verband ein eigener Humor und beide trennten sich ohne böse
auf den anderen zu sein. Sie hatte für Yasers Kinderwunsch Verständnis, und
freute sich, dass ihm seine spätere Frau zwei Kinder schenkte.

Religion spielte bei Ruth weniger Rolle als politische soziale Haltung,
dennoch ist die Verbundenheit zum Judentum bewiesen, da sie, wie ihre
Eltern, ein jüdisches Begräbnis haben wollte.

Ruth wird uns mit ihrer offenen Art und ihrem Respekt für alle Menschen,
unabhängig ihrer Herkunft immer ein Vorbild bleiben.
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