Demokratie: Zahl der Woche: 27%
**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 21. Oktober 2020; 22:23
**********************************************************

Demokratie:

> Zahl der Woche: 27%

Die Vertretungsquote erinnert immer mehr an ein Zensuswahlrecht. Diese
Wien-Wahl sollte als Warnung dienen.


Die Repräsentanz in unseren angeblich eben repräsentativ-demokratischen
Systemen war noch nie so wirklich gegeben -- allein der Klassen-Unterschied
zwischen den Vertretenden und der Mehrzahl der Vertretenen ist evident. Die
Einflußnahme der Bevölkerung, also des "Volkes", von dem ja alles Recht
ausgehen sollte, auf die politischen Verhältnisse war immer schon marginal.
Die jetzige Wien-Wahl zeigt aber, daß auch die formale Repräsentanz und
Partizipation immer mehr erodiert. Viel war im Vorfeld die Rede von der
Tatsache, daß 30% der Bevölkerung nicht wahlberechtigt seien und zwar wegen
mangelnder hiesiger Staatsbürgerschaft. Tatsächlich ist die Quote
derjenigen, die die Mandate der Abgeordneten legitimieren sollen, noch
katastrophaler -- es sind nämlich nicht 70% der Bevölkerung, sondern nur die
Hälfte dieses Anteils.

Tacheles: Bei der Wiener Gemeinderats- und Landtagswahl 2020 gab es 725.501
gültige Stimmen bei 1.133.010 Wahlberechtigten und 1.911.191 Menschen mit
Hauptwohnsitz in Wien (Letzteres mit Stand 1.Jänner 2020). Allerdings wurden
nur 663.378 Stimmen für Parteien abgegeben, die im neuen Landtag vertreten
sind (und auch schon im alten waren). Die Abgeordneten repräsentieren damit
34,71%, seriöserweise auf zwei Stellen gerundet etwa 35% der Bevölkerung.

Nun kann man da einwerfen, daß man da ja nicht die Kinder mitzählen dürfe.
Allerdings gibt es in Wien zwar nicht ganz 200.000 Kinder unter dem
Wahlmindestalter von 16 Jahren (1), aber etwa genausoviele Menschen, die
hauptsächlich in Wien leben, hier aber nur einen Nebenwohnsitz haben. (2, 3)

Die etwas mehr als 1,9 Mio Einwohner sind also tatsächlich als die relevante
Zahl derjenigen anzusehen, die in dieser Stadt politisch mitbestimmen können
sollten, weil sie von der Politik unmittelbar betroffen sind und alt genug,
die Problematiken zu erfassen.

Bei den einzelnen Parteien wirkt diese geringe Mandatslegitimation aber noch
viel deutlicher: Die SPÖ als stärkste Partei wurde von 301.967 gewählt, das
sind aber nicht 41,62% sondern lediglich 16% der Bevölkerung. Die kleinste
Partei mit Anspruch auf Mandate, die FPÖ, repräsentiert lediglich 2,7% der
Bevölkerung.

Wenn man 2015 als Vergleich hernimmt, sieht das so aus: Bevölkerung am
1.Jänner: 1.794.770, bei der Wahl: 1.143.076 Wahlberechtigte, 832.987
gültige Stimmen, 813.114 für Parteien, die Mandate erhielten. Damit ergibt
sich aber eine Repräsentanz von immerhin 45% -- nicht nur wegen der höheren
Wahlbeteiligung, sondern auch wegen etwas mehr Wahlberechtigten in absoluten
Zahlen bei geringerer Wohnbevölkerung und lediglich rund 20.000 Stimmen für
Parteien, die es nicht in den Landtag schafften -- 2020 waren es dreimal
soviel Stimmen.

Natürlich hatten die Besonderheiten bei dieser Wahl von Ibiza über die
neuartige Bundesregierung bis zu Corona einen gewissen Anteil an diesen
Verschiebungen. Allein damit sollte man es aber wohl nicht erklären.

Nicht dürfen und nicht wollen

Tatsächlich sind einfach immer weniger Politikbetroffene überhaupt
wahlberechtigt und gleichzeitig haben immer weniger der Wahlberechtigten
Lust darauf, eine Partei zu wählen, die eine (systemisch vorgegebene) Chance
auf Mandate hat -- und das obwohl nur diesen Parteien medial diesmal ganz
besonders viel Möglichkeiten geboten worden sind, sich zu präsentieren.

Die Schwankungen in der Zahl der Wahlberechtigten und in der Zahl der
offiziellen Wohnbevölkerung haben viele Gründe: Zuzug aus dem Ausland und
aus den Bundesländern; Hauptwohnsitzmeldungen von
Teilzeitniederösterreichern und -burgenländern, die das Parkpickerl
brauchen, einerseits und Studierende, Wochenpendler sowie
Wochenendhäuslbesitzer mit Wiener Nebenwohnsitzmeldung andererseits; geringe
Reproduktion direkt in Wien (sowohl bei gebürtigen Wienern als auch bei in-
und ausländischen Zuagrasten) und vor allem ein Staatsbürgerschaftsrecht,
das in den letzten 20 Jahren immer mehr verschärft wurde und dafür sorgt,
daß viele Langzeitwiener mittlerweile keine Chance mehr haben, auch nur
irgendwann offiziell Österreicher zu werden.

Die geringe Wahlbeteiligung ist sicher auch mit der Abstimmung mit den
Füssen der einstigen FPÖ-Wähler zu sehen, aber auch mit einer allgemeinen
Frustration über das Angebot: Es ist gar nicht mehr möglich, einer Partei zu
Mandaten zu verhelfen, die Protest formuliert, denn es gibt nur mehr
Parteien, die regieren in Bund oder Land oder haben regiert oder wollen
unbedingt mitregieren -- und verhalten sich dementsprechend staatstragend.
Ja, die Mechanismen von Siegerimage oder Amtsinhaberbonus funktionieren
noch -- siehe Kurz bei der NR-Wahl und jetzt bei der Wien-Wahl Ludwig, aber
die Angfressenen werden mehr, haben aber keinerlei Optionen -- oder sehen
sie zumindest nicht. Wienweit haben immerhin 9 Parteien kandidiert, drei
weitere nur in einzelnen Wahlkreisen -- viele Wahlberechtigte werden aber
von den anderen Möglichkeiten erst am Stimmzettel erfahren haben und viele
gar nicht, weil sie nicht einmal zur Wahl gegangen sind.

Interessant ist aber auch ein Vergleich mit früheren Wahlen. 2010 gab es
auch eine geringere Wahlbeteiligung als 2015. Da waren aber mit 1.144.510
noch mehr wahlberechtigt als 2015. Bei lediglich 1.689.995 mit Wiener
Hauptwohnsitz am 1.1.2010. Die abgeordneten repräsentierten 730.346 wähler,
also wenig mehr als heuer in absoluten zahlen, dennoch aber 43% der
Bevölkerung.

Weniger Wahlberechtigte in absoluten Zahlen als 2020 gab es 2001: 1.096.732
Wahlberechtigte bei 1.562.536 Menschen mit Hauptwohnsitz -- damals
allerdings bei um zwei Jahre höherem Mindestwahlalter. Damals stimmten
688.657 für Mandatsparteien. Die formale Repräsentanz der Gesamtbevölkerung
machte damit aber auch 44% der Bevölkerung aus

Klassensprecher

Der eingangs angesprochene Klassenunterschied manifestiert sich aber auch
bei den unterschiedlichen Wählergruppen: die geringsten Wahlbeteiligungen
gab es auf GR-Ebene in Favoriten und Simmering, die höchsten in der
Josefstadt, in Neubau und in Hietzing. In Favoriten wohnten am 1.Jänner
207.193 Menschen und lediglich die Stimmen von 56.444 konnten für die
Mandatsvergabe berücksichtigt werden. Repräsentanz im 10.Hieb somit: 27%.

Und noch etwas ist in Favoriten zu bemerken: Wenn die Leute doch zur Wahl
gehen und sehen, daß es noch andere aussichtsreiche Kandidaturen gibt, dann
wählen sie sie auch, selbst wenn diese Kandidaturen so gut wie keine
Medienpräsenz haben: In der Favoritner Bezirksvertretung werden gerade
einmal 90 der 65.620 abgegebenen gültigen Stimmen nicht repräsentiert 
und daher auch Mandatare von 9 Listen vertreten sein. Denn auf Bezirksebene gilt
immer noch reines Verhältniswahlrecht, wenn auch nur für diejenigen, die
einen EU-Paß vorweisen können.

Daß aber nur jeder Vierte in einem Migranten- und Hacklerbezirk politisch
repräsentiert wird, sollte eigentlich die Alarmglocken läuten lassen.
Politische Parteien orientieren sich aber leider nur an den Relationen zu
den Mitbewerbern, also wieviel Prozent sie von den gültigen Stimmen bei
einer Wahl bekommen haben. Dementsprechend sieht dann auch ihre Politik
aus -- wenn ihnen ihre Wähler nicht eh so oder so egal sind, solange sie sie
nur wählen. Irgendwann wird in dieser nichtgehörten Mehrheit der Bevölkerung
aber der Unmut ansteigen -- vor allem wenn die materielle Lage in dieser
Mehrheit noch mieser ist. Dann wird die hohe Politik versuchen, dieses
Problem per Diffamierung und letztlich per Polizei zu lösen.

Dagegen wird dann die Corona-Krise ein Lercherlschas gewesen sein.

*Bernhard Redl*


(1)
https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bevoelkerung/bevoelkerungsstruktur/bevoelkerung_nach_alter_geschlecht/105080.html

(2)
http://pic.statistik.at/wcm/idc/idcplg?IdcService=GET_PDF_FILE&RevisionSelectionMethod=LatestReleased&dDocName=106309

(3) Bemerkenswerterweise sind Hauptwohnsitzwiener mit Nebenwohnsitz in NÖ
dort teilweise auch wahlberechtigt, umgekehrt gilt das aber nicht.



***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der nichtkommerziellen
Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd muessen aber nicht
wortidentisch mit den in der Papierausgabe veroeffentlichten sein. Nachdruck
von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete
Beitraege stehen in der Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von
Texten mit anderem Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine
anderweitige Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als
Abonnement verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann
den akin-pd per formlosen Mail an akin.redaktion@gmx.at abbestellen.


*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
postadresse a-1170 wien, lobenhauerngasse 35/2
redaktionsadresse: dreyhausenstraße 3, kellerlokal, 1140
vox: 0665 65 20 70 92
http://akin.mediaweb.at
blog: https://akinmagazin.wordpress.com/
facebook: https://www.facebook.com/akin.magazin
mail: akin.redaktion@gmx.at
bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
bank austria, zweck: akin
IBAN AT041200022310297600
BIC: BKAUATWW