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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 12. Februar 2020; 22:38
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Recht/Geschichte:

> Der entpolitisierte VfGH

Dank dem Gesalbten und seinen versteckten Botschaften, die jetzt ruchbar
wurden, ist eine generelle Debatte über die Justiz entbrannt. Und zwar
entgegen der Intention des Kanzlers über die schwarzen Netzwerke in der
Judikative. Vor allem die Bestellung der Mitglieder des
Verfassungsgerichtshofs entlang der Wunschlisten der jeweiligen
Regierungsparteien wurde nun zum Thema. Aber war das nicht immer schon so?
Nein, denn ohne Parteipolitik ging es zwar früher auch nicht ab, zumindest
hatte aber auch die Parlamentsopposition da mehr mitzureden. Aber dieses
Früher war schon in der Ersten Republik. Mit der ansonsten auch oft
kritisierten Verfassungsnovelle von 1929 gab es, heute wenig beachtet,
etwas, was die damalige konservative Regierung Schober als
"Entpolitisierung" verkaufte. Daß das mit der Wahrheit nichts zu tun hatte
und wie das abgelaufen ist, schilderte Martin Moser bereits im August 2019
auf derdiedasrespekt.at:
*

[...] Aktueller Bestellvorgang: Präsident, Vize-Präsident sowie alle
regulären Mitglieder und Ersatz-Mitglieder ernennt formal der
Bundespräsident auf Vorschlag von Bundesregierung, Nationalrat und
Bundesrat. Die Bundesregierung schlägt Präsident, Vizepräsident, sechs
Mitglieder und drei Ersatz-Mitglieder vor. Jeweils drei Mitglieder tragen
Nationalrat und Bundesrat mit einfacher Mehrheit heran, zwei
Ersatz-Mitglieder schlägt der Nationalrat vor, ein Ersatz-Mitglied der
Bundesrat. Dieser aktuelle Bestellvorgang entspricht großteils einer
Novelle, welche bereits 1929 in Kraft getreten ist.

Mit der Bundesverfassung der 1. Republik aus dem Jahr 1920 wurde die
Besetzung des VfGH geregelt und lautete wie folgt: Der Nationalrat bestellt
Präsident, Vize-Präsident und die Hälfte der Mitglieder sowie
Ersatzmitglieder, während der Bundesrat die andere Hälfte ernennt. Die
Besetzung erfolgte nach dem Proporzsystem. Ein schriftlich festgehaltener
Verteilungsschlüssel sorgte dafür, dass alle im Parlament vertretenen
Parteien Mitglieder in den VfGH entsandten: Vier Mitglieder von den
Christlichsozialen, drei von den Sozialdemokraten, ein Mitglied von den
Großdeutschen und vier neutrale Mitglieder, welche nicht bei einer
politischen Partei aktiv sein durften. Jeder Richter durfte sich auf eine
breite Mehrheit im Nationalrat und Bundesrat stützen, alle Parteien des
Parlaments waren im VfGH vertreten.

Im Laufe der 20er-Jahre wurde das Verhältnis der beiden Großparteien immer
feindseliger. Seit 1920 befanden sich die Sozialdemokraten nicht mehr in der
Bundesregierung, jedoch allgemein im stetigen Aufschwung. Das konservative
Lager brachte 1929 eine Verfassungsnovelle in die Gänge, die großteils auch
heute noch die Bestellung des VfGH regelt. Unter dem Motto der
"Entpolitisierung" wurden einige Änderungen durchgeführt. Ein Dreierkomitee
als Vorschlag für eine Richterstelle kam zur Einsetzung, der Bundespräsident
musste aus drei vorgeschlagenen Personen ein Mitglied für den VfGH
auswählen. Dieser Vorgang wurde erst 1994 wieder abgeschafft, der
Bundespräsident hat bei der Auswahl aktuell keine Entscheidungsbefugnis. Die
Aufteilung bei der Bestellung der Mitglieder wurde so festgeschrieben, wie
sie auch heute noch gültig ist. Diese Regelung schwächte vor allem die
Opposition - damals die Sozialdemokraten - und stärkte die
Regierungsparteien - damals Koalition der Christlichsozialen mit der
Großdeutschen Volkspartei und dem Landbund. Die Sozialdemokraten stimmten
1929 dieser Verfassungsnovelle zu, um das Rote Wien als Machtposition zu
halten. Denn ursprünglich sah das konservative Lager vor, die Verwaltung der
Stadt Wien von der Zentralregierung durchführen zu lassen, gewissermaßen ein
Kuhhandel zwischen den beiden großen Lagern.

"Die sog. Entpolitisierung bedeutet daher nur die Einschränkung des
Einflusses der parlamentarischen Minderheit auf die Besetzung der Stellen
von zwei Mitgliedern und einem Ersatzmitglied, und eine dementsprechende
Steigerung des Einflusses der parlamentarischen Mehrheit." (Hans Kelsen,
1929)

Diese Änderung war folglich keine Entpolitisierung, sondern eine reine
Umpolitisierung. Das Parlament wurde geschwächt, die Bundesregierung
gestärkt - die Entdemokratisierung des VfGH war geschehen. ###

Auszug aus einem längerem Beitrag zur Problematik, zu finden unter:
https://derdiedasrespekt.at/reportagen/2019/08/verfassungsgerichtshof/



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